Carla Gómez überlegt ein paar Sekunden. Die Wasserversorgung und die Sicherheitslage – das seien die drängendsten Probleme. Hier, an der Peripherie der Hauptstadt Guatemalas, ist Hoffnung ein Synonym für Enttäuschung. „Wir haben nur etwa alle zwei Wochen Wasser, müssen rationieren“, erklärt die Frau, die in ihren 30ern ist. Das Leben in der Zona 24 sei schwierig. Kein*e Politiker*in habe sich dem Problem wirklich angenommen, erklärt Gómez. Es würden immer nur leere Versprechungen gemacht.
In der Bezirksschule 610 des Randgebiet-Distrikts ist am 20. August der Andrang gross. Personal des Wahltribunals TSE wuselt umher, unzählige Wähler*innen stehen in langen Schlangen vor den umfunktionierten Klassenräumen. Internationale Beobachter*innen sind nicht anwesend. Eine ältere Frau zuckt nur mit den Schultern. „Gott ist der, der entscheiden wird“, schliesst sie im Hinblick auf den Ausgang der Wahlen.
Die Frauen mit den resignierten Gesichtern erwarteten eine Wahl, die ihren gewohnten Gang geht: Spendable Politiker*innen stiften vor dem Urnengang Blechdächer und Haushaltsgeräte. Nach der Wahl wird dann alles wieder sein wie gehabt: Armut, Gewalt und Menschen, die mit ihren Problemen alleine gelassen werden. Dazu eine Elite, die sich an den natürlichen Ressourcen des Landes bereichert – mit Schweizer Hilfe.
Doch der unwahrscheinlichste aller Fälle ist eingetreten: Der Sozialdemokrat Bernardo Arévalo hat die Stichwahl gegen seine rechte Kontrahentin Sandra Torres gewonnen und ist der neue Präsident Guatemalas. Damit ist das Wahlergebnis in Guatemala plötzlich zu einem Lichtblick für ganz Zentralamerika geworden.
Der „Pakt der Korrupten“
Der Soziologe und Ex-Diplomat Arévalo galt als Überraschungskandidat. Ende Juni, in der ersten Wahlrunde, gab ihm kaum jemand eine Chance für den Sieg. Doch die Demoskop*innen lagen falsch. Am 20. August 2023 stimmten 61 Prozent der Wähler*innen für ihn.
Dass Arévalo mit seiner Partei Movimiento Semilla („Samenkorn-Bewegung“) tatsächlich die Wahl gegen das establishment gewinnt, den „Pakt der Korrupten“ bezwingt, wie es hier in Guatemala genannt wird – damit hat kaum jemand gerechnet. Unter dem „Pakt der Korrupten“ versteht man in Guatemala einen Sumpf aus Politiker*innen, Militärs, einflussreichen Unternehmer*innen und käuflichen Richter*innen, die gemeinsam dafür sorgen, den Status quo aufrechtzuerhalten. Ein Status, der Guatemala laut Transparency International auf Platz 150 von 180 der korruptesten Länder weltweit hält.
Die Korruptionsbekämpfung ist eines der zentralen Anliegen der neuen Regierung. Damit gleicht Arévalos Rhetorik jener der im Januar 2022 gewählten linksgerichteten Xiomara Castro in Honduras. Der Nachbarstaat war seit dem Putsch von 2009 durch Korruption gekennzeichnet.
Wer durch die Strassen der guatemaltekischen Hauptstadt schlendert, ein paar Blocks abseits der zentralen Flaniermeile La Sexta, sieht die schwarzen Graffitis an der Wand: „Fuera pacto de corruptos!“ („Raus mit dem Pakt der Korrupten!“)
Doch wie gelang der historische Triumph des selbsternannten „Antikorruptionskandidaten“?
Ein Bündel an Faktoren hat Arévalo zum unwahrscheinlichen Sieg verholfen. Da ist zum einen die zersplitterte Parteienlandschaft. Guatemala ist ohnehin eine Ausnahmeerscheinung in Lateinamerika: In fast 40 Jahren hat dort keine einzige Partei je die Wiederwahl geschafft.
Bernardo Arévalo an sich wird von der Machtelite schon aufgrund seines Nachnamens gefürchtet. Sein Vater war der erste demokratisch gewählte Präsident Guatemalas (1945–51); rund zehn Jahre später folgte auf ihn Jacobo Árbenz, der dann durch einen CIA-gestützten Putsch abgesetzt wurde. Beide hatten Agrarreformen auf der Agenda. Die Machteliten fürchteten um ihren Besitz: das Farmland. Enteignungen mussten um jeden Preis verhindert werden.
Sowohl Juan José Arévalo als auch sein Nachfolger Árbenz mussten nach dem Putsch ins Exil fliehen. Bernardo Arévalo ist daher in Uruguay aufgewachsen – seine Widersacher*innen sprechen ihm deswegen ab, ein richtiger Guatemalteke zu sein. Jetzt ist er Präsident.
Dabei sah es vor den Wahlen so aus, als würde eine andere Linkspartei zur Hoffnungsträgerin: die Bewegung zur Befreiung der Völker – kurz MLP. Eine in den 90er Jahren auf dem Land gegründete sozialpolitische Bewegung.
Eine Masche, zwei Versuche
Im Dezember 2022 stellten die Anführer*innen der MLP, Thelma Cabrera, indigene Leaderin und Jordán Rodas, Ex-Ombudsmann für Menschenrechte, ihre Kandidatur zur Präsidentschaft vor. Cabrera hatte bereits bei den Präsidentschaftswahlen von 2019 teilgenommen und erreichte damals gut 10 Prozent der Stimmen.
Bereits im darauffolgenden Februar verbot zuerst das Wahlgericht (TSE) und dann das Verfassungsgericht (CC) die Teilnahme des Kandidat*innenduos. Ihnen wurde vorgeworfen, sich mit vermeintlich ungültigen Zulassungsdokumenten zur Wahl aufgestellt zu haben. Internationale Menschenrechtsorganisationen bezeichneten den Vorgang als Skandal. Kandidat*innen würden aus „scheinbar willkürlichen Gründen“ von der Wahl ausgeschlossen, so der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk.
Indirekt half dieser Vorgang Arévalo: Viele frustrierte Bürger*innen entschieden sich dazu, seiner Semilla-Partei ihre Stimme zu geben – auch wenn das vielleicht nicht ihre erste Wahl gewesen wäre. Zusätzlich schaffte es Arévalo, besonders viele Neuwähler*innen zum Wahlgang zu motivieren.
Wenige Wochen vor der Wahl versuchten die Behörden dann auch Arévalos Kandidatur zu verhindern. Unter dem Vorwurf „korrupter Handlungen“ wurden Ermittlungen gegen die Partei Semilla aufgenommen. Von einem „technischen Staatsstreich“ sprach der jetzige Präsident Guatemalas damals im guatemaltekischen Fernsehen.
Ein Ende des Raubbaus?
Semilla „ist die einzige wirkliche Hoffnung für die Bevölkerung“, erzählt Carlos Choc. Der Journalist ist in ständigem Kontakt mit indigenen Gemeinschaften, die besonders unter dem Raubbau von natürlichen Ressourcen leiden. Am 27. Mai 2017 geriet Choc ins Fadenkreuz des Schweizer Rohstoffkonzerns Solway aus Zug. An diesem Tag machte der Journalist ein Foto, das um die Welt ging: Es zeigt den leblosen Körper des indigenen Fischers und Umweltaktivisten Carlos Maaz Coc.
Auslöser des Protests waren rote Verfärbungen beim Izabal-See in der Nähe der Nickelmine, die der Journalist Choc wenige Monate zuvor festgestellt hatte. Als die Behinderung seiner Arbeit zu heftig wurde, übernahm das Recherchenetzwerk „Forbidden Stories“ den Fall für ihn. Unzählige Dokumente, die den Schweizer Bergbaugiganten Solway belasten, konnten die Journalist*innen verifizieren: Unterdrückung der Recherche, die Bezahlung lokaler Polizeibehörden bis hin zum Verbreiten von absurden Gerüchten, um den Zusammenhalt der indigenen Gemeinschaft zu zersetzen. Auch das Lamm berichtete.
Carlos Ernesto Choc Chub gehört der Maya-Ethnie Q’eqchi an. Mit seiner Berichterstattung will er ein Schlaglicht auf die Probleme der indigenen Gemeinschaften werfen. Die Stadt El Estor im Osten des Landes ist bekannt für die jahrelangen Aktivitäten der Nickelmine „Fénix“ (Phoenix) des schweizerisch-russischen Bergbauunternehmens Solway Investment Group.
Über die Hälfte der Bevölkerung Guatemalas lebt in Armut, besonders hoch ist dieser Anteil auf dem Land. Die Gewalt und die Unsicherheit im Land treiben die Menschen um. Bewohner*innen ländlicher Gegenden müssen darüber hinaus den Raubbau an der Natur ertragen.
„Die Verschmutzung betrifft nicht nur die Umwelt. Wir konnten auch Atemwegs- und Hauterkrankungen bei den Menschen in den umliegenden Communities dokumentieren“, erzählt Choc am Telefon.
Im Dezember vergangenen Jahres stellte die Schweizer Solway Group ihre Aktivitäten ein. Doch für Jubel ist es noch zu früh. Wie das US-Magazin Newsweek berichtet, unterstützt die US-Regierung bereits das kanadische Bergbauunternehmen Central America Nickel mit Sitz in Montreal, um sich die Konzessionen zu angeln.
Erwartungen sind riesig
Ob die Bevölkerung vom See Izabal und ganz Guatemala wirklich eine Verbesserung ihres Leben verspüren wird ist noch unklar. Die Niederlage der ultrarechten Torres heisst nicht unbedingt, dass der Spuk vorbei ist. Die guatemaltekische Machtelite ist weiterhin in der Justiz präsent und versucht durch juristische Tricks, die Wahl für ungültig zu erklären.
Im Kongress, der zurzeit 160 Abgeordnete zählt, kann Semilla lediglich 23 vorweisen – neue Gesetzesprojekte brauchen also den Zuspruch der Opposition. Eine der ersten Aktionen, die der neue Präsident nach seiner Amtseinführung am 14. Januar 2024 durchführen will, betrifft die Ent-Korrumpierung der Justiz. Dieses Vorhaben könnte für ihn selbst gefährlich werden: Ende August wurden bereits Anschlagspläne gegen den neuen Präsidenten publik.
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