Nachts in den Zürcher Stadtkreisen 4 und 5: Die Hauseingänge sind vergittert, ebenso Treppenhäuser und Innenhöfe. Selbst am Hauptbahnhof steigen riesige Gitterwände aus dem Boden hervor und riegeln den Bahnhof ab. Auch der gegenüberliegende Platzspitzpark schloss bis vor Kurzem täglich um 21 Uhr seine Gittertore.
Die meisten Passant*innen bemerken die Vergitterungen kaum mehr, geschweige denn kennen sie die Geschichte dahinter. Die Gitter sind heute in das Stadtbild eingebettet, ihre Präsenz ist zur Normalität geworden.
Eine Geschichte der Vertreibung
Die Vergitterung nahm ihren Anfang im Februar 1992: Damals liess die rot-grüne Stadtregierung den als «Needle-Park» bekannten Platzspitzpark räumen und mit Gittern absperren. Die Räumung erfolgte überstürzt auf Druck der politischen Rechten, den Gewerbler*innen aus dem Kreis 5 und einer mit Bürgerwehr drohenden «Aktion betroffener Anrainer».
Zwar gab es erste Angebote der sogenannten Überlebenshilfe zur sofortigen Unterstützung der Drogenkonsument*innen, doch fehlte eine ausreichende Infrastruktur für die Tausenden Konsumierenden vom Platzspitz. Die Stadt Zürich forderte schon länger kontrollierte Heroinabgaben, denen sich aber Kanton und Bund widersetzten. Bis die ersten Heroinabgaben umgesetzt wurden, nahm das neue Kapitel der Vertreibung bereits seinen Lauf.

Schon in den Jahren zuvor hatte die Polizei Konsumierende und Dealende systematisch von ihren Plätzen vertrieben – von der Riviera über das Bellevue bis zum Hirschenplatz. Ziel war es, Zürichs Altstadt für Tourist*innen «sauber» zu halten. Nach der Vertreibung vom Platzspitz verlagerte sich der Handel und Konsum in den anliegenden Kreis 5. Mit massiver Polizeipräsenz wurde jede erkennbare Ansammlung Verdächtiger aufgelöst und die Drogenszene wich täglich auf neue Plätze und Hinterhöfe im Quartier aus.
Gassenarbeiter*innen berichteten von gezielten Polizeirazzien gegen Menschen, die vermeintlich ausländisch aussehen.
Das Bild von Drogenkonsumierenden, die auf der Strasse fixen und vor Polizeigrenadieren fliehen, passte nicht in die Vorstellungen einer «sauberen» Stadt. Doch trotz der massiven Repression mit Polizeirazzien und Triebjagden durch die Quartierstrassen, löste sich die Drogenszene nicht auf.
Es musste ein neuer Platz her und so verschob die Stadtregierung kurzerhand die Drogenmisere aus der Öffentlichkeit weg: nur wenige hundert Meter vom Platzspitz entfernt auf den Letten.
Ein Sündenbock musste her
Die repressive Drogenpolitik war gescheitert und doch wollten die verantwortlichen Politiker*innen es nicht eingestehen. Stattdessen lud der Sozialdemokrat und Polizeivorstand Robert Neukomm im Mai 1992 zu einer Medienkonferenz – ein Sündenbock für die gescheiterte Drogenpolitik musste her.
Bei den angeblichen ausländischen Dealern fand die Polizei teils nicht mal Drogen, dennoch machten die Medien sie zur Hauptschlagzeile.
Neukomm machte «ausländische Drogendealer» und «kriminelle Asylanten» für die Drogenmisere verantwortlich. Gemeinsam mit dem SP-Stadtpräsidenten Josef Estermann forderte er vom Kanton mehr Gefängnisplätze und vom Bund Gesetze, um Asylbewerber schon bei blossem Verdacht inhaftieren zu können.
Gassenarbeiter*innen berichteten derweil von gezielten Polizeirazzien gegen Menschen, die vermeintlich ausländisch aussehen. Bei den angeblichen ausländischen Dealern fand die Polizei teils nicht mal Drogen, dennoch machten die Medien sie zur Hauptschlagzeile. Rassistische Zuschreibungen, Diffamierungen und Falschmeldungen prägten die Berichterstattung. Auch die Polizei spielte ihren Teil: Sie verbreitete Falschmeldungen über «kosovo-albanische Drogenhändler», die «unsere Fixer» mit Rattengift vergifteten und veröffentlichte am laufenden Band Statistiken über die Nationalitäten mutmasslicher «kriminellen Ausländer». Die Polizei behauptete nichts gegen «ausländische Drogenhändler» tun zu können und forderte eindringlich rechtliche Grundlagen um Äusländer*innen ohne einen Straftatbestand zu inhaftieren.
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Am Letten hingerichtet
Was zuvor als unsagbar galt, fand neu in der breiten Bevölkerung innert Kürze grosse Zustimmung – die Internierung und Ausschaffung von Ausländer*innen wurde salonfähig. Bereits im September 1993 kündigte der damalige CVP-Bundesrat Arnold Koller eine Verschärfung des Asylrechts an.
Die Drogenszene am Letten stand unter enormem Druck. Das Drogenangebot stieg, die Preise sanken. Unter den Handelnden herrschte hoher Konkurrenzdruck und die ständige Angst vor der nächsten Razzia bestimmte den Alltag. Die Polizei rief einen «Gefängnisnotstand» aus und setzte den Bau neuer Gefängnisse durch. Der Blick titelte: «Kriminelle Asylanten: Volk (96.2 Prozent) will Armee-Einsatz», während rechte Parteien ein «Notrecht zur Bekämpfung der Drogenkriminalität» forderten.

Im August 1994 gipfelte die Drogenmisere in der Hinrichtung drei ausländischer Männer auf dem Lettenareal innerhalb zweier Wochen. Tarchoun Sebei, Abdelouahab Messouaka und Ibrahim Karram wurden aus weiter Distanz mit Kugeln aus einem Schweizer Armeegewehr erschossen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Täter aus der Szene stammten, doch wer geschossen hat und ob es ein Akt der Selbstjustiz war, ist bis heute ungeklärt.
Für den Mord an Tarchoun Sebei verhaftete die Justiz den jugendlichen Tunesier Hichem Kebili und verurteilte ihn aufgrund eines einzigen Kronzeugen zu fünfzehn Jahren Zuchthaus. Die WOZ recherchierte, dass Kebili nicht der Mörder sein kann. Aussagen, wonach «ein Schweizer, der Araber hasste», den Mord begangen habe, ignorierte die Strafuntersuchung.
Die Auflösung der offenen Drogenszene gelingt, doch die Repression hält weiter an.
Kebilis Verteidiger forderte im Verfahren eine fotografische Dokumentation der Tatrekonstruktion. Als das Obergericht dem Antrag am 17. November 1995 stattgibt, zeigte sich, dass das Lettenareal bereits in einen Volleyball- und Badeplatz umgestaltet wurde. Die Stadt hat das Gelände erfolgreich zu einem beliebten Badeplatz aufgewertet, ohne die Täter von 1994 zu ermitteln.
Ende 1994 gründen Aktivist*innen der Asylbewegung und solidarische Gassenarbeiter*innen aus der Platzspitz-Zeit die Menschenrechtsorganisation «augenauf». Sie dokumentieren monatelang Misshandlungen und Übergriffe auf der Gasse. Ihre Aufzeichnungen belegen das erschreckende Ausmass der Repression gegen die Drogenszene.
Auszüge der Dokumentation der Menschenrechtsorganisation augenauf:
7. Januar 1995 beim Bahnhof Letten: Eine grosse Gruppe von Leuten muss sich während einer Razzia nackt ausziehen und bis zu einer halben Stunde in der Kälte stehen. Die Kleider werden weggeschmissen und müssen im Matsch wieder zusammengesucht werden. Mit konfiszierten Messern werden den Leuten die Jacken aufgeschlitzt, Brusttaschen weggenommen und Geld vor ihren Augen verrissen.
20. Januar 1995, 16:30 Uhr, Kornhausbrücke: Ein Grenadier mit Gummischrotgewehr «jagt» alles, was sich bewegt weg, indem er das Gewehr bedrohend auf die Leute richtet. In kurzen Abständen schiesst er auf die Wasserwerkstrasse und das Lettenareal hinunter.
23. Januar 1995, 16:45 Uhr, Panoramaweg: Mit gezielten Gummigeschosseinsatz treiben mehrere Grenadiere die Leute vom Panoramaweg hinunter zu den Gleisen. Die Gejagten schreien «Nicht schiessen, bitte nicht schiessen», was aber nichts nützt und sie werden über das Bord hinabgetrieben. Es regnet in Strömen und etliche rutschen auf dem schlammigen Boden aus. Circa 20 Personen überklettern die 2.5 Meter hohen Gitter beim Uferweg. Die meisten bleiben am NATO-Stacheldraht hängen, zerreissen sich die Kleider und schneiden sich an den Rasierklingen. Kaum drüben angelangt, werden sie von anderen Grenadieren zusammengetrieben und müssen sich mit erhobenen Händen ans Gitter stellen.
1. Februar 1995 23:30 Uhr, Lettenareal: Auf dem Lettenareal treiben rund zwanzig Polizist*innen ungefähr zehn Personen mit Gummigeschossen zusammen. Sie müssen niederknien, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und sich nackt ausziehen. Die Kleider werden gefilzt, Geld ohne Quittung eingezogen, anschliessend erfolgt die obligate Analkontrolle. Beim Anziehen fragt ein Polizist einen der Kontrollierten, ob er etwas «Parfüm» wolle: Der Angesprochene wird unter den Kleidern mit Tränengasspray eingedeckt. Der Vorgang wiederholt sich. Die Verhafteten werden in Handschellen ins Polizeigefängnis Kaserne gebracht. Dort werden sie fotografiert, müssen sich wieder ausziehen und nackt ein Formular ausfüllen. Beim Messen der Körpergrösse wird ihnen unter dem Gespött der Anwesenden die Messlatte auf den Kopf geschlagen.
6. Februar 1995, circa 12:00 Uhr, Kornhausbrücke: Am Mittag sitzt eine Frau bei der linken verbarrikadierten Treppe zum Sihlquai auf der Kornhausbrücke und macht sich eine Injektion. Zwei Polizisten in Kampfuniform und mit Gummigeschoss-Gewehren gehen vorbei, schiessen im Vorübergehen aus nächster Nähe direkt auf die Frau und gehen einfach weiter.
11. Februar 1995, 15.00 Uhr, Lettenareal: Bei einer Grossrazzia werden auf dem Lettenareal werden rund hundert Ausländer zusammengetrieben. Nachdem ihnen Drogen, Geld und persönliche Habe ohne Quittung abgenommen wurden, werden sie in Kastenwagen ins Polizeigefängnis Kaserne gebracht. Dort werden bis zu zwanzig Personen in die kleinen Zellen gesperrt, die für zwei Häftlinge ausgelegt sind. Die Gefangenen werden bis 22.00 Uhr polizeilich erfasst, ohne dass sie etwas zu Essen erhalten, die Toilette aufsuchen können, Methadon erhalten oder einen Arzt zu sehen bekommen. Die Gefangenen werden auf dem Unterarm mit einem wasserfesten Filzstift mit rund sechs Zentimeter grossen Zahlen nummeriert.
Ende 1994 finden die «Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht» trotz vergeblichem Referendum eine Mehrheit. Das 1995 in Kraft tretende Gesetz ermöglicht es bis heute Asylsuchende, deren einziges «Vergehen» der illegale Aufenthalt ist, für bis zu 18 Monate festzuhalten – unter Bedingungen, die der Untersuchungshaft ähneln. Der Justiz- und Polizeiapparat wurde damit massiv ausgebaut und reicht bis heute weit über die Bekämpfungen der eigentlichen Drogenmisere hinaus.
14. Februar 1995, 21:55 Uhr: Bei der Militär-Langstrasse habe es «e huufe Dunkelhaarigi, chönd er det mal go vertriebe?»
Ein Ausschnitt aus dem von «augenauf» dokumentierten Polizeifunk
Am 14. Februar 1995 folgt die «Aktion Paukenschlag». Mit medialer Begleitung wird das Lettenareal geschlossen. Anders als bei der Platzspitz Schliessung, etablierte die Stadt Zürich ausreichend Drogenabgabestellen und soziale Institutionen. Städtische Sozialarbeiter*innen betreuen die Betroffenen direkt auf der Strasse.
Die Auflösung der offenen Drogenszene gelingt, doch die Repression hält weiter an.
Früher Heroin, heute Crack
«Es reicht!» titelt der Tagesanzeiger am 7. August 2024 in einem Artikel über die Crack-Szene rund um die Bäckeranlage im Kreis 4.
Heute rufen Anwohnende in einem Flugblatt auf, gegen Crack-Konsumierende die Polizei zu rufen, um das Quartier «sauber» zu halten. Etwas anderes bleibe ihnen nicht übrig, erklären die besorgten Anwohnenden auch gegenüber dem Tagesanzeiger und bekunden gleichzeitig ihren Frust über die Wirkungslosigkeit der Polizeieinsätze: «Die Stadtpolizei markiert im Quartier Präsenz, statt die Suchtkranken zu kontrollieren und wegzuweisen».
Die Vergitterungen im Stadtkreisen 4 und 5 stehen heute noch, doch die Bewohnerschaft hat sich seit den 90er-Jahren gewandelt. Luxussanierungen, Leerkündigungen und ein ungebremster Abrisswahn haben die Quartiere aufgewertet und viele Menschen verdrängt. Um das Bild einer «sauberen» und aufgewerteten Stadt zu wahren, sollen Randständige und Unangepasste möglichst verschwinden.
Ein Blick in die Zürcher Geschichte zeigt, was das Vertreiben von Drogenkonsument*innen und Ausländer*innen in erster Linie bedeutet: Gewalt und Misshandlungen auf der Strasse. Den heutigen Anwohnenden, die nach mehr Repression rufen, müssen diese Konsequenzen ihrer Forderungen klar sein.
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