Was uns die Letten­räu­mung vor 30 Jahren lehrt

Der Alar­mismus gegen­über Drogen­ab­hän­gigen in Zürich flammt erneut auf. Er ist Teil einer histo­ri­schen Konti­nuität: 1994 gipfelte die Gewalt gegen die Drogen­mi­sere in der Hinrich­tung dreier migran­ti­scher Männer auf dem Letten­areal. Ein Blick zurück zeigt die Folgen der poli­zei­li­chen Repression. 
Im Februar 1995 liess die Zürcher Stadtregierung die «offene Drogenszene» am ehemaligen Bahnhof Letten mit einem grossen Polizeieinsatz räumen. (Bild: Gertrud Vogler)

Nachts in den Zürcher Stadt­kreisen 4 und 5: Die Haus­ein­gänge sind vergit­tert, ebenso Trep­pen­häuser und Innen­höfe. Selbst am Haupt­bahnhof steigen riesige Gitter­wände aus dem Boden hervor und riegeln den Bahnhof ab. Auch der gegen­über­lie­gende Platz­spitz­park schloss bis vor Kurzem täglich um 21 Uhr seine Gittertore. 

Die meisten Passant*innen bemerken die Vergit­te­rungen kaum mehr, geschweige denn kennen sie die Geschichte dahinter. Die Gitter sind heute in das Stadt­bild einge­bettet, ihre Präsenz ist zur Norma­lität geworden.

Eine Geschichte der Vertreibung

Die Vergit­te­rung nahm ihren Anfang im Februar 1992: Damals liess die rot-grüne Stadt­re­gie­rung den als «Needle-Park» bekannten Platz­spitz­park räumen und mit Gittern absperren. Die Räumung erfolgte über­stürzt auf Druck der poli­ti­schen Rechten, den Gewerbler*innen aus dem Kreis 5 und einer mit Bürger­wehr drohenden «Aktion betrof­fener Anrainer». 

Zwar gab es erste Ange­bote der soge­nannten Über­le­bens­hilfe zur sofor­tigen Unter­stüt­zung der Drogenkonsument*innen, doch fehlte eine ausrei­chende Infra­struktur für die Tausenden Konsu­mie­renden vom Platz­spitz. Die Stadt Zürich forderte schon länger kontrol­lierte Hero­in­ab­gaben, denen sich aber Kanton und Bund wider­setzten. Bis die ersten Hero­in­ab­gaben umge­setzt wurden, nahm das neue Kapitel der Vertrei­bung bereits seinen Lauf. 

Schon in den Jahren zuvor hatte die Polizei Konsu­mie­rende und Dealende systematisch von ihren Plätzen vertrieben – von der Riviera über das Bellevue bis zum Hirschen­platz. Ziel war es, Zürichs Altstadt für Tourist*innen «sauber» zu halten. Nach der Vertrei­bung vom Platz­spitz verla­gerte sich der Handel und Konsum in den anlie­genden Kreis 5. Mit massiver Poli­zei­prä­senz wurde jede erkenn­bare Ansamm­lung Verdäch­tiger aufge­löst und die Drogen­szene wich täglich auf neue Plätze und Hinter­höfe im Quar­tier aus.

Gassenarbeiter*innen berich­teten von gezielten Poli­zei­raz­zien gegen Menschen, die vermeint­lich auslän­disch aussehen.

Das Bild von Drogen­kon­su­mie­renden, die auf der Strasse fixen und vor Poli­zei­gre­na­dieren fliehen, passte nicht in die Vorstel­lungen einer «sauberen» Stadt. Doch trotz der massiven Repres­sion mit Poli­zei­raz­zien und Trieb­jagden durch die Quar­tier­strassen, löste sich die Drogen­szene nicht auf.

Es musste ein neuer Platz her und so verschob die Stadt­re­gie­rung kurzer­hand die Drogen­mi­sere aus der Öffent­lich­keit weg: nur wenige hundert Meter vom Platz­spitz entfernt auf den Letten.

Ein Sünden­bock musste her

Die repres­sive Drogen­po­litik war geschei­tert und doch wollten die verant­wort­li­chen Politiker*innen es nicht einge­stehen. Statt­dessen lud der Sozi­al­de­mo­krat und Poli­zei­vor­stand Robert Neukomm im Mai 1992 zu einer Medi­en­kon­fe­renz – ein Sünden­bock für die geschei­terte Drogen­po­litik musste her. 

Bei den angeb­li­chen auslän­di­schen Dealern fand die Polizei teils nicht mal Drogen, dennoch machten die Medien sie zur Hauptschlagzeile.

Neukomm machte «auslän­di­sche Drogen­dealer» und «krimi­nelle Asylanten» für die Drogen­mi­sere verant­wort­lich. Gemeinsam mit dem SP-Stadt­prä­si­denten Josef Ester­mann forderte er vom Kanton mehr Gefäng­nis­plätze und vom Bund Gesetze, um Asyl­be­werber schon bei blossem Verdacht inhaf­tieren zu können.

Gassenarbeiter*innen berich­teten derweil von gezielten Poli­zei­raz­zien gegen Menschen, die vermeint­lich auslän­disch aussehen. Bei den angeb­li­chen auslän­di­schen Dealern fand die Polizei teils nicht mal Drogen, dennoch machten die Medien sie zur Haupt­schlag­zeile. Rassi­sti­sche Zuschrei­bungen, Diffa­mie­rungen und Falsch­mel­dungen prägten die Bericht­erstat­tung. Auch die Polizei spielte ihren Teil: Sie verbrei­tete Falsch­mel­dungen über «kosovo-alba­ni­sche Drogen­händler», die «unsere Fixer» mit Ratten­gift vergif­teten und veröf­fent­lichte am laufenden Band Stati­stiken über die Natio­na­li­täten mutmass­li­cher «krimi­nellen Ausländer». Die Polizei behaup­tete nichts gegen «auslän­di­sche Drogen­händler» tun zu können und forderte eindring­lich recht­liche Grund­lagen um Äusländer*innen ohne einen Straf­tat­be­stand zu inhaftieren.

Am Letten hingerichtet

Was zuvor als unsagbar galt, fand neu in der breiten Bevöl­ke­rung innert Kürze grosse Zustim­mung – die Inter­nie­rung und Ausschaf­fung von Ausländer*innen wurde salon­fähig. Bereits im September 1993 kündigte der dama­lige CVP-Bundesrat Arnold Koller eine Verschär­fung des Asyl­rechts an. 

Die Drogen­szene am Letten stand unter enormem Druck. Das Drogen­an­gebot stieg, die Preise sanken. Unter den Handelnden herrschte hoher Konkur­renz­druck und die stän­dige Angst vor der näch­sten Razzia bestimmte den Alltag. Die Polizei rief einen «Gefäng­nis­not­stand» aus und setzte den Bau neuer Gefäng­nisse durch. Der Blick titelte: «Krimi­nelle Asylanten: Volk (96.2 Prozent) will Armee-Einsatz», während rechte Parteien ein «Notrecht zur Bekämp­fung der Drogen­kri­mi­na­lität» forderten.

Die Polizei kontrol­lierte vor allem rassi­fi­zierte Männer (Bild: Gertrud Vogler)

Im August 1994 gipfelte die Drogen­mi­sere in der Hinrich­tung drei auslän­di­scher Männer auf dem Letten­areal inner­halb zweier Wochen. Tarchoun Sebei, Abde­louahab Messouaka und Ibrahim Karram wurden aus weiter Distanz mit Kugeln aus einem Schweizer Armee­ge­wehr erschossen. Es ist unwahr­schein­lich, dass die Täter aus der Szene stammten, doch wer geschossen hat und ob es ein Akt der Selbst­ju­stiz war, ist bis heute ungeklärt.

Für den Mord an Tarchoun Sebei verhaf­tete die Justiz den jugend­li­chen Tune­sier Hichem Kebili und verur­teilte ihn aufgrund eines einzigen Kron­zeugen zu fünf­zehn Jahren Zucht­haus. Die WOZ recher­chierte, dass Kebili nicht der Mörder sein kann. Aussagen, wonach «ein Schweizer, der Araber hasste», den Mord begangen habe, igno­rierte die Strafuntersuchung.

Die Auflö­sung der offenen Drogen­szene gelingt, doch die Repres­sion hält weiter an. 

Kebilis Vertei­diger forderte im Verfahren eine foto­gra­fi­sche Doku­men­ta­tion der Tatre­kon­struk­tion. Als das Ober­ge­richt dem Antrag am 17. November 1995 statt­gibt, zeigte sich, dass das Letten­areal bereits in einen Volley­ball- und Bade­platz umge­staltet wurde. Die Stadt hat das Gelände erfolg­reich zu einem beliebten Bade­platz aufge­wertet, ohne die Täter von 1994 zu ermitteln. 

Ende 1994 gründen Aktivist*innen der Asyl­be­we­gung und soli­da­ri­sche Gassenarbeiter*innen aus der Platz­spitz-Zeit die Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion «augenauf». Sie doku­men­tieren mona­te­lang Miss­hand­lungen und Über­griffe auf der Gasse. Ihre Aufzeich­nungen belegen das erschreckende Ausmass der Repres­sion gegen die Drogenszene. 

Auszüge der Doku­men­ta­tion der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tion augenauf:

7. Januar 1995 beim Bahnhof Letten: Eine grosse Gruppe von Leuten muss sich während einer Razzia nackt ausziehen und bis zu einer halben Stunde in der Kälte stehen. Die Kleider werden wegge­schmissen und müssen im Matsch wieder zusam­men­ge­sucht werden. Mit konfis­zierten Messern werden den Leuten die Jacken aufge­schlitzt, Brust­ta­schen wegge­nommen und Geld vor ihren Augen verrissen.

20. Januar 1995, 16:30 Uhr, Korn­haus­brücke: Ein Grena­dier mit Gummi­schrot­ge­wehr «jagt» alles, was sich bewegt weg, indem er das Gewehr bedro­hend auf die Leute richtet. In kurzen Abständen schiesst er auf die Wasser­werk­strasse und das Letten­areal hinunter.

23. Januar 1995, 16:45 Uhr, Panora­maweg: Mit gezielten Gummi­ge­schos­s­ein­satz treiben mehrere Grena­diere die Leute vom Panora­maweg hinunter zu den Gleisen. Die Gejagten schreien «Nicht schiessen, bitte nicht schiessen», was aber nichts nützt und sie werden über das Bord hinab­ge­trieben. Es regnet in Strömen und etliche rutschen auf dem schlam­migen Boden aus. Circa 20 Personen über­klet­tern die 2.5 Meter hohen Gitter beim Uferweg. Die meisten bleiben am NATO-Stachel­draht hängen, zerreissen sich die Kleider und schneiden sich an den Rasier­klingen. Kaum drüben ange­langt, werden sie von anderen Grena­dieren zusam­men­ge­trieben und müssen sich mit erho­benen Händen ans Gitter stellen. 

1. Februar 1995 23:30 Uhr, Letten­areal: Auf dem Letten­areal treiben rund zwanzig Polizist*innen unge­fähr zehn Personen mit Gummi­ge­schossen zusammen. Sie müssen nieder­knien, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und sich nackt ausziehen. Die Kleider werden gefilzt, Geld ohne Quit­tung einge­zogen, anschlies­send erfolgt die obli­gate Anal­kon­trolle. Beim Anziehen fragt ein Poli­zist einen der Kontrol­lierten, ob er etwas «Parfüm» wolle: Der Ange­spro­chene wird unter den Klei­dern mit Tränen­gas­spray einge­deckt. Der Vorgang wieder­holt sich. Die Verhaf­teten werden in Hand­schellen ins Poli­zei­ge­fängnis Kaserne gebracht. Dort werden sie foto­gra­fiert, müssen sich wieder ausziehen und nackt ein Formular ausfüllen. Beim Messen der Körper­grösse wird ihnen unter dem Gespött der Anwe­senden die Mess­latte auf den Kopf geschlagen.

6. Februar 1995, circa 12:00 Uhr, Korn­haus­brücke: Am Mittag sitzt eine Frau bei der linken verbar­ri­ka­dierten Treppe zum Sihl­quai auf der Korn­haus­brücke und macht sich eine Injek­tion. Zwei Poli­zi­sten in Kampf­uni­form und mit Gummi­ge­schoss-Gewehren gehen vorbei, schiessen im Vorüber­gehen aus näch­ster Nähe direkt auf die Frau und gehen einfach weiter.

11. Februar 1995, 15.00 Uhr, Letten­areal: Bei einer Gross­razzia werden auf dem Letten­areal werden rund hundert Ausländer zusam­men­ge­trieben. Nachdem ihnen Drogen, Geld und persön­liche Habe ohne Quit­tung abge­nommen wurden, werden sie in Kasten­wagen ins Poli­zei­ge­fängnis Kaserne gebracht. Dort werden bis zu zwanzig Personen in die kleinen Zellen gesperrt, die für zwei Häft­linge ausge­legt sind. Die Gefan­genen werden bis 22.00 Uhr poli­zei­lich erfasst, ohne dass sie etwas zu Essen erhalten, die Toilette aufsu­chen können, Methadon erhalten oder einen Arzt zu sehen bekommen. Die Gefan­genen werden auf dem Unterarm mit einem wasser­fe­sten Filz­stift mit rund sechs Zenti­meter grossen Zahlen nummeriert.

Ende 1994 finden die «Zwangs­mass­nahmen im Auslän­der­recht» trotz vergeb­li­chem Refe­rendum eine Mehr­heit. Das 1995 in Kraft tretende Gesetz ermög­licht es bis heute Asyl­su­chende, deren einziges «Vergehen» der ille­gale Aufent­halt ist, für bis zu 18 Monate fest­zu­halten – unter Bedin­gungen, die der Unter­su­chungs­haft ähneln. Der Justiz- und Poli­zei­ap­parat wurde damit massiv ausge­baut und reicht bis heute weit über die Bekämp­fungen der eigent­li­chen Drogen­mi­sere hinaus.

14. Februar 1995, 21:55 Uhr: Bei der Militär-Lang­strasse habe es «e huufe Dunkel­haa­rigi, chönd er det mal go vertriebe?»

Ein Ausschnitt aus dem von «augenauf» doku­men­tierten Polizeifunk

Am 14. Februar 1995 folgt die «Aktion Pauken­schlag». Mit medialer Beglei­tung wird das Letten­areal geschlossen. Anders als bei der Platz­spitz Schlies­sung, etablierte die Stadt Zürich ausrei­chend Drogen­ab­ga­be­stellen und soziale Insti­tu­tionen. Städ­ti­sche Sozialarbeiter*innen betreuen die Betrof­fenen direkt auf der Strasse. 

Die Auflö­sung der offenen Drogen­szene gelingt, doch die Repres­sion hält weiter an. 

Früher Heroin, heute Crack

«Es reicht!» titelt der Tages­an­zeiger am 7. August 2024 in einem Artikel über die Crack-Szene rund um die Bäcker­an­lage im Kreis 4. 

Heute rufen Anwoh­nende in einem Flug­blatt auf, gegen Crack-Konsu­mie­rende die Polizei zu rufen, um das Quar­tier «sauber» zu halten. Etwas anderes bleibe ihnen nicht übrig, erklären die besorgten Anwoh­nenden auch gegen­über dem Tages­an­zeiger und bekunden gleich­zeitig ihren Frust über die Wirkungs­lo­sig­keit der Poli­zei­ein­sätze: «Die Stadt­po­lizei markiert im Quar­tier Präsenz, statt die Sucht­kranken zu kontrol­lieren und wegzuweisen». 

Die Vergit­te­rungen im Stadt­kreisen 4 und 5 stehen heute noch, doch die Bewoh­ner­schaft hat sich seit den 90er-Jahren gewan­delt. Luxus­sa­nie­rungen, Leer­kün­di­gungen und ein unge­brem­ster Abriss­wahn haben die Quar­tiere aufge­wertet und viele Menschen verdrängt. Um das Bild einer «sauberen» und aufge­wer­teten Stadt zu wahren, sollen Rand­stän­dige und Unan­ge­passte möglichst verschwinden.

Ein Blick in die Zürcher Geschichte zeigt, was das Vertreiben von Drogenkonsument*innen und Ausländer*innen in erster Linie bedeutet: Gewalt und Miss­hand­lungen auf der Strasse. Den heutigen Anwoh­nenden, die nach mehr Repres­sion rufen, müssen diese Konse­quenzen ihrer Forde­rungen klar sein. 


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