Gefähr­li­cher Pfusch bei der natio­nalen Notrufnummer

Laut Istanbul-Konven­tion müsste die Schweiz seit Jahren eine natio­nale Notruf­nummer einrichten. Denn alle zwei Wochen tötet ein Mann eine ange­hö­rige Frau. Andere Länder haben solche Nummern längst in Betrieb, doch die Schweiz zeigt sich weiterhin nachlässig. 
Bis jetzt hat es der Bund nicht geschafft, die versprochene dreistellige Notrufnummer gegen häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt umzusetzen – deshalb müssen Kollektive wie das «Telefon gegen Gewalt» Abhilfe schaffen. (Bild: Liana S. / Unsplash)

Seit zehn Jahren lebt sie in einer gewalt­vollen Bezie­hung. Sie weiss, dass sie gehen sollte – doch sie ist noch nicht bereit. So klingen viele Anrufe beim Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» klingen. In den schlimm­sten Fällen geht es ums Überleben.

Die Hotline ist jeweils am Wochen­ende erreichbar, anonym und kostenlos. «Es meldet sich eigent­lich immer minde­stens eine Frau», erzählt das Kollektiv hinter der Tele­fon­nummer. Die Betreiber*innen haben sich entschieden, ohne Namen und Gesichter aufzu­treten. Es gehe nicht um einzelne Personen, sondern um eine kollek­tive, poli­ti­sche Botschaft, sagen sie.

Allein im aktu­ellen Jahr wurden 25 Frauen und Mädchen von ihren (Ex-)Partnern oder verwandten Männern getötet.

Die Tele­fon­nummer betreiben sie in ihrer Frei­zeit. Von Frei­wil­li­gen­ar­beit wollen sie aber nicht spre­chen. «Wir müssen diese Arbeit leisten, weil der Staat sie nicht macht.» Die Schweiz hat bereits im April 2018 die Istanbul Konven­tion in Kraft gesetzt. Darin wird unter anderem die Errich­tung eines natio­nalen Bera­tungs­an­gebot gefor­dert, das von Gewalt Betrof­fenen schnell und unkom­pli­ziert Hilfe bietet.

Doch auch sieben Jahre später existiert dieses Angebot nicht. In der Zwischen­zeit steigt die Zahl der Femi­zide weiter. Allein im aktu­ellen Jahr wurden 25 Frauen und Mädchen von Männern getötet, wie das frei­wil­lige Recher­che­pro­jekt «Stop Femizid» zählt.

Trotzdem haben die Behörden scheinbar keine Eile.

Die Schweiz hinkt hinterher

Das Prinzip wäre eigent­lich einfach: Eine drei­stel­lige Notruf­nummer, die rund um die Uhr bedient wird. Bereits 2021 kündigte der Bund an, die Einfüh­rung einer solchen Nummer zu prüfen. Die Lancie­rung war schliess­lich für Anfang 2025 geplant, wurde dann jedoch zunächst auf November, dann auf Ende Jahr und zuletzt auf Mai 2026 verschoben.

«Jeder Anruf, der eingeht, ist einer zu viel», sagt das Kollektiv «Telefon gegen Gewalt». Sie hätten kaum Werbung gemacht, trotzdem würden sie regel­mäs­sige Anrufe, Whatsapp-Nach­richten und E‑Mails erhalten. «Das zeugt von einem Miss­stand in diesem Land und einem Versagen des Staats», so das Kollektiv.

Am Ende sei es auch eine Frage von Prio­rität, so das Kollektiv weiter. Das bestä­tigen auch Beispiele aus anderen Ländern, die längst zeigten, dass eine solche Tele­fon­nummer möglich ist. So existiert etwa in Deutsch­land bereits seit 2013 das Hilfe­te­lefon «Gewalt gegen Frauen». In Spanien ist seit fast 20 Jahren eine gibt es solche Ange­bote bereits seit fast 20 Jahren eine drei­stel­lige Nummer in Betrieb und auch Frank­reich und England verfügen über Angebote.

Damit hinkt die Schweiz massiv hinterher.

Ein kanto­naler Flickenteppich

Das Parla­ment entschied bereits 2021, dass nicht der Bund, sondern die Kantone für die Umset­zung der neuen Notruf­nummer zuständig sind. Sie müssen die jewei­ligen Bera­tungs­an­ge­bote stellen und die finan­zi­ellen Ressourcen tragen.

Für das Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» ist dieser Entscheid unver­ständ­lich. Damit werde die Verant­wor­tung an die Kantone abge­schoben. Zudem würden am Ende 26 verschie­dene Hand­ha­bungen resul­tieren, was zu unnö­tiger Komple­xität und unter­schied­li­cher Qualität führe. «Die Istanbul Konven­tion fordert eine einheit­liche, landes­weite Bera­tung und kein kanto­nales Bastel­pro­jekt», so die Vertreter*innen des Kollektivs.

Da die Kantone in der Verant­wor­tung sind, liegt die Verwal­tung der geplanten Notruf­nummer 142 bei der Konfe­renz der kanto­nalen Sozi­al­di­rek­to­rinnen und Sozi­al­di­rek­toren (SODK). In dieser Orga­ni­sa­tion vertreten sind Regie­rungs­mit­glieder aller 26 Kantone. Die SODK muss die neue Tele­fon­nummer tech­nisch einrichten und setzt die Grund­lagen für die kanto­nalen Beratungsangebote. 

Die für November 2025 geplante Inbe­trieb­nahme habe sich «wider Erwarten» um sechs Monate verschoben, schreibt die SODK auf Anfrage. Als Gründe nennt sie recht­liche Heraus­for­de­rungen sowie die hohe tech­ni­sche Komple­xität, insbe­son­dere aufgrund der geogra­fi­schen Zuord­nung von Anrufen.

«Es darf nicht passieren, dass sie ihre Geschichte immer wieder neu erzählen müssen, nur weil jemand anderes das Telefon bedient.»

Kollektiv «Telefon gegen Gewalt»

Den Vorwurf eines kanto­nalen Flicken­tep­pichs will die SODK hingegen nicht gelten lassen. Die Umset­zung erfolge unter Berück­sich­ti­gung der kanto­nalen Gege­ben­heiten. Für gewalt­be­trof­fene Personen sei dies aber nicht rele­vant. «Wichtig ist, dass sie direkt an die zustän­dige Stelle geleitet werden.»

Auf Bundes­ebene wird das Projekt vom Eidge­nös­si­schen Büro für die Gleich­stel­lung von Frau und Mann (EBG) begleitet. Dieses schreibt auf Angabe: «Alle Kantone sind verpflichtet, Bera­tungen bei der 142 anzu­bieten.» Die SODK sorge zudem mit Empfeh­lungen für eine einheit­liche Anwen­dung des Opferhilfegesetzes.

Fehlender Fokus, keine Kontrolle

In den Leit­planken hält die SODK fest, dass die zentrale Tele­fon­nummer allen Menschen diene, die physi­sche, psychi­sche oder sexu­elle Gewalt im privaten oder öffent­li­chen Raum erlebten. Als Zweck nennt sie Krisen­in­ter­ven­tion, Basis­be­ra­tung und Weiter­ver­mitt­lung von gewalt­be­trof­fenen Personen. Zudem muss die Tele­fon­nummer 24 Stunden verfügbar sein und während der Büro­zeiten auf die offi­zi­elle Opfer­be­ra­tung umge­stellt werden.

Es könne nicht sein, dass verschie­dene Anbieter das Telefon abdeckten, kriti­siert das Kollektiv. «Viele Betrof­fene rufen regel­mässig an und es darf nicht passieren, dass sie ihre Geschichte immer wieder neu erzählen müssen, nur weil jemand anderes das Telefon bedient.» Auch mit der Defi­ni­tion der Hotline ist das Kollektiv nicht einver­standen. «Dass sich die Nummer an alle Opfer von Gewalt richtet, entspricht nicht der Istanbul Konven­tion.» Diese fordere ein spezi­fi­sches Angebot für geschlechts­be­zo­gene Gewalt. «Einmal mehr wird das eigent­liche Problem, die patri­ar­chale Gewalt, nicht konkret benannt und ange­gangen. Das ist typisch für die Schweiz.»

«Eine Zumu­tung, dass ein reiches Land wie die Schweiz keine profes­sio­nelle, insti­tu­tio­na­li­sierte Bera­tung bereitstellt.»

Kollektiv «Telefon gegen Gewalt»

Das Eidge­nös­si­sche Büro für die Gleich­stel­lung von Frau und Mann (EGB) bestä­tigt, dass die Tele­fon­nummer alle Gewalt­opfer beraten werde. Einige Kantone würden jedoch Bera­tungs­stellen für unter­schied­liche Opfer­gruppen anbieten. Zudem hätten Opfer­hilfen und Frau­en­häuser die Exper­tise für Bera­tungen bei geschlechts­spe­zi­fi­scher, sexua­li­sierter und häus­li­cher Gewalt.

Eine natio­nale Prüfung der kanto­nalen Ange­bote ist nach der Einfüh­rung jedoch nicht vorge­sehen. Die Quali­täts­si­che­rung sei Aufgabe der Kantone, schreiben die SODK und das EGB.

Frei­wil­lige statt profes­sio­neller Beratung

Ein Blick in die Kantone zeigt, wie unter­schied­lich diese das Angebot angehen. Während sich einige zu einer gemein­samen Lösungen zusam­men­schliessen, regeln andere es für sich. 

So entschied sich etwa der Kanton Bern, dass die frei­wil­ligen Mitar­bei­tenden der «Darge­bo­tenen Hand» das Telefon künftig bedienen sollen. Und das, obwohl sich auch «AppElle!» für die Bera­tung beworben hatte, ein Angebot, das bereits heute von profes­sio­nellen und insti­tu­tio­na­li­sierten Berater*innen der Berner Frau­en­häuser rund um die Uhr betrieben wird, wie die Zeitung Der Bund berichtet. Der Kanton begrün­dete seinen Entscheid damit, dass sich die Bera­tungen von «AppElle!» auf weib­liche Opfer sexu­eller und häus­li­cher Gewalt beschränken würden. Also genau das, was die Istanbul Konven­tion eigent­lich fordert. Als weiteren Grund nannte der Kanton die hohen Kosten.

Auch andere Kantone wie etwa Aargau oder die beiden Basel wollen mit der «Darge­bo­tenen Hand» zusam­men­ar­beiten. Das Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» schätzt die Arbeit der frei­wil­ligen Orga­ni­sa­tion, kriti­siert aber: «Es ist eine Zumu­tung, dass es in einem Land wie der Schweiz, wo Milli­ar­den­be­träge in andere Bereiche gesteckt werden, nicht möglich ist, eine insti­tu­tio­na­li­sierte und profes­sio­nelle Bera­tung auf die Beine zu stellen.»

Die SODK argu­men­tiert dagegen, dass einige Kantone seit Jahren mit der «Darge­bo­tenen Hand» zusam­men­ar­beiten würden und für die nötige Profes­sio­na­lität der Bera­tung sorgten. In ihren Leit­planken hält sie zudem fest, dass das Bera­tungs­per­sonal über die nötigen Quali­fi­ka­tionen verfügen muss und entspre­chend aus- und weiter­ge­bildet wird.

Zürcher Modell solide

Einen anderen Weg wählt der Kanton Zürich. Bereits ab dem 1. November stellt er eine 24-Stunden-Bera­tung für Gewalt­opfer bereit. Geführt wird die Tele­fon­nummer von der Opfer­be­ra­tung Zürich. Dazu wurden 30 Personen sorg­fältig ausge­wählt und geschult, sagte Jessica Wolf von der Opfer­be­ra­tung Zürich vergan­gene Woche vor den Medien. Die meisten unter ihnen seien Student*innen aus den Berei­chen Soziale Arbeit und Psychologie.

Auf natio­naler Ebene soll die Tele­fon­nummer im Mai 2026 einge­führt werden. 

Aus Sicht des Kollek­tivs «Telefon gegen Gewalt» ist das Zürcher Modell eine solide Lösung. Trotzdem ist auch dieses noch nicht lückenlos. So können die Berater*innen aus tech­ni­schen Gründen in Notsi­tua­tionen die Polizei oder den Notruf nicht direkt alar­mieren, sondern Betrof­fenen ledig­lich dazu raten, selbst anzu­rufen. Zudem wird das Angebot vorerst nur auf Deutsch geführt. Erst bei weiteren Bera­tungen stehen Dolmetscher*innen zur Verfü­gung. Der Kanton werde nun erste Erfah­rungen sammeln und prüfen, welche Anpas­sungen es brauche, schreibt die Zürcher Justiz­di­rek­tion. Dazu gehöre sicher auch die Mehrsprachigkeit.

Auch für die natio­nale Hotline gibt es keine Vorgabe zur Mehr­spra­chig­keit. Aus Sicht des Kollek­tivs «Telefon gegen Gewalt» ist diese jedoch ein abso­lutes Muss. «Bis Betrof­fene über­haupt erst anrufen, dauert es oft Jahre. Da darf es nicht an der Sprache scheitern.»

Natio­nale Hotline im Mai 2026

Auch andere Kantone wollen nicht auf die natio­nale Nummer warten. So haben auch Luzern, Nidwalden und Obwalden gemeinsam eine Über­gangs­lö­sung etabliert. In beiden Basel steht zudem eben­falls ab November ein Angebot zur Verfü­gung. Im Mai 2026 sollen sie dann auf die natio­nale Tele­fon­nummer 142 umge­stellt werden. Sowohl das EGB als auch die SODK rechnen derzeit mit keinen weiteren Verzö­ge­rungen, wie sie schreiben.

Für das Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» ist die Nummer ein wich­tiger Schritt. Aber nur einer von vielen. «Die Notruf­nummer allein ist ein Tropfen auf den heissen Stein.» Um geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt effektiv zu bekämpfen, brauche es jedoch zusätz­lich mehr staat­liche Ressourcen, mehr Plätze in Frau­en­häu­sern, mehr Bera­tungs­an­ge­bote, mehr geschulte Fach­per­sonen, mehr Präven­tion sowie ein inter­sek­tio­nales Verständnis. «Geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt betrifft uns alle und wir müssen endlich handeln.»

Das scheint mitt­ler­weile auch beim Bund ange­kommen zu sein. Vergan­gene Woche infor­mierte Bundesrat Beat Jans an der Zürcher Medi­en­kon­fe­renz über den Ausbau des Opfer­hil­fe­ge­setzes. Darin enthalten sind unter anderem eine 24-Stunden-Bera­tung an Spitä­lern für Gewalt­opfer sowie mehr Schutz­plätze. Die Umset­zung: Aufgabe der Kantone.

Klingt alles sehr bekannt. Jetzt müssen den Worten jedoch endlich Taten folgen. Denn es geht um Ange­bote, die im schlimm­sten Fall über Leben und Tod entscheiden können.

Bei diesen Bera­tungs­stellen und Telefon-Hotlines finden Betrof­fene von Gewalt Hilfe.


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