Seit zehn Jahren lebt sie in einer gewaltvollen Beziehung. Sie weiss, dass sie gehen sollte – doch sie ist noch nicht bereit. So klingen viele Anrufe beim Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» klingen. In den schlimmsten Fällen geht es ums Überleben.
Die Hotline ist jeweils am Wochenende erreichbar, anonym und kostenlos. «Es meldet sich eigentlich immer mindestens eine Frau», erzählt das Kollektiv hinter der Telefonnummer. Die Betreiber*innen haben sich entschieden, ohne Namen und Gesichter aufzutreten. Es gehe nicht um einzelne Personen, sondern um eine kollektive, politische Botschaft, sagen sie.
Allein im aktuellen Jahr wurden 25 Frauen und Mädchen von ihren (Ex-)Partnern oder verwandten Männern getötet.
Die Telefonnummer betreiben sie in ihrer Freizeit. Von Freiwilligenarbeit wollen sie aber nicht sprechen. «Wir müssen diese Arbeit leisten, weil der Staat sie nicht macht.» Die Schweiz hat bereits im April 2018 die Istanbul Konvention in Kraft gesetzt. Darin wird unter anderem die Errichtung eines nationalen Beratungsangebot gefordert, das von Gewalt Betroffenen schnell und unkompliziert Hilfe bietet.
Doch auch sieben Jahre später existiert dieses Angebot nicht. In der Zwischenzeit steigt die Zahl der Femizide weiter. Allein im aktuellen Jahr wurden 25 Frauen und Mädchen von Männern getötet, wie das freiwillige Rechercheprojekt «Stop Femizid» zählt.
Trotzdem haben die Behörden scheinbar keine Eile.
Die Schweiz hinkt hinterher
Das Prinzip wäre eigentlich einfach: Eine dreistellige Notrufnummer, die rund um die Uhr bedient wird. Bereits 2021 kündigte der Bund an, die Einführung einer solchen Nummer zu prüfen. Die Lancierung war schliesslich für Anfang 2025 geplant, wurde dann jedoch zunächst auf November, dann auf Ende Jahr und zuletzt auf Mai 2026 verschoben.
«Jeder Anruf, der eingeht, ist einer zu viel», sagt das Kollektiv «Telefon gegen Gewalt». Sie hätten kaum Werbung gemacht, trotzdem würden sie regelmässige Anrufe, Whatsapp-Nachrichten und E‑Mails erhalten. «Das zeugt von einem Missstand in diesem Land und einem Versagen des Staats», so das Kollektiv.
Am Ende sei es auch eine Frage von Priorität, so das Kollektiv weiter. Das bestätigen auch Beispiele aus anderen Ländern, die längst zeigten, dass eine solche Telefonnummer möglich ist. So existiert etwa in Deutschland bereits seit 2013 das Hilfetelefon «Gewalt gegen Frauen». In Spanien ist seit fast 20 Jahren eine gibt es solche Angebote bereits seit fast 20 Jahren eine dreistellige Nummer in Betrieb und auch Frankreich und England verfügen über Angebote.
Damit hinkt die Schweiz massiv hinterher.
Ein kantonaler Flickenteppich
Das Parlament entschied bereits 2021, dass nicht der Bund, sondern die Kantone für die Umsetzung der neuen Notrufnummer zuständig sind. Sie müssen die jeweiligen Beratungsangebote stellen und die finanziellen Ressourcen tragen.
Für das Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» ist dieser Entscheid unverständlich. Damit werde die Verantwortung an die Kantone abgeschoben. Zudem würden am Ende 26 verschiedene Handhabungen resultieren, was zu unnötiger Komplexität und unterschiedlicher Qualität führe. «Die Istanbul Konvention fordert eine einheitliche, landesweite Beratung und kein kantonales Bastelprojekt», so die Vertreter*innen des Kollektivs.
Da die Kantone in der Verantwortung sind, liegt die Verwaltung der geplanten Notrufnummer 142 bei der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK). In dieser Organisation vertreten sind Regierungsmitglieder aller 26 Kantone. Die SODK muss die neue Telefonnummer technisch einrichten und setzt die Grundlagen für die kantonalen Beratungsangebote.
Die für November 2025 geplante Inbetriebnahme habe sich «wider Erwarten» um sechs Monate verschoben, schreibt die SODK auf Anfrage. Als Gründe nennt sie rechtliche Herausforderungen sowie die hohe technische Komplexität, insbesondere aufgrund der geografischen Zuordnung von Anrufen.
«Es darf nicht passieren, dass sie ihre Geschichte immer wieder neu erzählen müssen, nur weil jemand anderes das Telefon bedient.»
Kollektiv «Telefon gegen Gewalt»
Den Vorwurf eines kantonalen Flickenteppichs will die SODK hingegen nicht gelten lassen. Die Umsetzung erfolge unter Berücksichtigung der kantonalen Gegebenheiten. Für gewaltbetroffene Personen sei dies aber nicht relevant. «Wichtig ist, dass sie direkt an die zuständige Stelle geleitet werden.»
Auf Bundesebene wird das Projekt vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) begleitet. Dieses schreibt auf Angabe: «Alle Kantone sind verpflichtet, Beratungen bei der 142 anzubieten.» Die SODK sorge zudem mit Empfehlungen für eine einheitliche Anwendung des Opferhilfegesetzes.
Fehlender Fokus, keine Kontrolle
In den Leitplanken hält die SODK fest, dass die zentrale Telefonnummer allen Menschen diene, die physische, psychische oder sexuelle Gewalt im privaten oder öffentlichen Raum erlebten. Als Zweck nennt sie Krisenintervention, Basisberatung und Weitervermittlung von gewaltbetroffenen Personen. Zudem muss die Telefonnummer 24 Stunden verfügbar sein und während der Bürozeiten auf die offizielle Opferberatung umgestellt werden.
Es könne nicht sein, dass verschiedene Anbieter das Telefon abdeckten, kritisiert das Kollektiv. «Viele Betroffene rufen regelmässig an und es darf nicht passieren, dass sie ihre Geschichte immer wieder neu erzählen müssen, nur weil jemand anderes das Telefon bedient.» Auch mit der Definition der Hotline ist das Kollektiv nicht einverstanden. «Dass sich die Nummer an alle Opfer von Gewalt richtet, entspricht nicht der Istanbul Konvention.» Diese fordere ein spezifisches Angebot für geschlechtsbezogene Gewalt. «Einmal mehr wird das eigentliche Problem, die patriarchale Gewalt, nicht konkret benannt und angegangen. Das ist typisch für die Schweiz.»
«Eine Zumutung, dass ein reiches Land wie die Schweiz keine professionelle, institutionalisierte Beratung bereitstellt.»
Kollektiv «Telefon gegen Gewalt»
Das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EGB) bestätigt, dass die Telefonnummer alle Gewaltopfer beraten werde. Einige Kantone würden jedoch Beratungsstellen für unterschiedliche Opfergruppen anbieten. Zudem hätten Opferhilfen und Frauenhäuser die Expertise für Beratungen bei geschlechtsspezifischer, sexualisierter und häuslicher Gewalt.
Eine nationale Prüfung der kantonalen Angebote ist nach der Einführung jedoch nicht vorgesehen. Die Qualitätssicherung sei Aufgabe der Kantone, schreiben die SODK und das EGB.
Freiwillige statt professioneller Beratung
Ein Blick in die Kantone zeigt, wie unterschiedlich diese das Angebot angehen. Während sich einige zu einer gemeinsamen Lösungen zusammenschliessen, regeln andere es für sich.
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So entschied sich etwa der Kanton Bern, dass die freiwilligen Mitarbeitenden der «Dargebotenen Hand» das Telefon künftig bedienen sollen. Und das, obwohl sich auch «AppElle!» für die Beratung beworben hatte, ein Angebot, das bereits heute von professionellen und institutionalisierten Berater*innen der Berner Frauenhäuser rund um die Uhr betrieben wird, wie die Zeitung Der Bund berichtet. Der Kanton begründete seinen Entscheid damit, dass sich die Beratungen von «AppElle!» auf weibliche Opfer sexueller und häuslicher Gewalt beschränken würden. Also genau das, was die Istanbul Konvention eigentlich fordert. Als weiteren Grund nannte der Kanton die hohen Kosten.
Auch andere Kantone wie etwa Aargau oder die beiden Basel wollen mit der «Dargebotenen Hand» zusammenarbeiten. Das Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» schätzt die Arbeit der freiwilligen Organisation, kritisiert aber: «Es ist eine Zumutung, dass es in einem Land wie der Schweiz, wo Milliardenbeträge in andere Bereiche gesteckt werden, nicht möglich ist, eine institutionalisierte und professionelle Beratung auf die Beine zu stellen.»
Die SODK argumentiert dagegen, dass einige Kantone seit Jahren mit der «Dargebotenen Hand» zusammenarbeiten würden und für die nötige Professionalität der Beratung sorgten. In ihren Leitplanken hält sie zudem fest, dass das Beratungspersonal über die nötigen Qualifikationen verfügen muss und entsprechend aus- und weitergebildet wird.
Zürcher Modell solide
Einen anderen Weg wählt der Kanton Zürich. Bereits ab dem 1. November stellt er eine 24-Stunden-Beratung für Gewaltopfer bereit. Geführt wird die Telefonnummer von der Opferberatung Zürich. Dazu wurden 30 Personen sorgfältig ausgewählt und geschult, sagte Jessica Wolf von der Opferberatung Zürich vergangene Woche vor den Medien. Die meisten unter ihnen seien Student*innen aus den Bereichen Soziale Arbeit und Psychologie.
Auf nationaler Ebene soll die Telefonnummer im Mai 2026 eingeführt werden.
Aus Sicht des Kollektivs «Telefon gegen Gewalt» ist das Zürcher Modell eine solide Lösung. Trotzdem ist auch dieses noch nicht lückenlos. So können die Berater*innen aus technischen Gründen in Notsituationen die Polizei oder den Notruf nicht direkt alarmieren, sondern Betroffenen lediglich dazu raten, selbst anzurufen. Zudem wird das Angebot vorerst nur auf Deutsch geführt. Erst bei weiteren Beratungen stehen Dolmetscher*innen zur Verfügung. Der Kanton werde nun erste Erfahrungen sammeln und prüfen, welche Anpassungen es brauche, schreibt die Zürcher Justizdirektion. Dazu gehöre sicher auch die Mehrsprachigkeit.
Auch für die nationale Hotline gibt es keine Vorgabe zur Mehrsprachigkeit. Aus Sicht des Kollektivs «Telefon gegen Gewalt» ist diese jedoch ein absolutes Muss. «Bis Betroffene überhaupt erst anrufen, dauert es oft Jahre. Da darf es nicht an der Sprache scheitern.»
Nationale Hotline im Mai 2026
Auch andere Kantone wollen nicht auf die nationale Nummer warten. So haben auch Luzern, Nidwalden und Obwalden gemeinsam eine Übergangslösung etabliert. In beiden Basel steht zudem ebenfalls ab November ein Angebot zur Verfügung. Im Mai 2026 sollen sie dann auf die nationale Telefonnummer 142 umgestellt werden. Sowohl das EGB als auch die SODK rechnen derzeit mit keinen weiteren Verzögerungen, wie sie schreiben.
Für das Kollektiv «Telefon gegen Gewalt» ist die Nummer ein wichtiger Schritt. Aber nur einer von vielen. «Die Notrufnummer allein ist ein Tropfen auf den heissen Stein.» Um geschlechtsspezifische Gewalt effektiv zu bekämpfen, brauche es jedoch zusätzlich mehr staatliche Ressourcen, mehr Plätze in Frauenhäusern, mehr Beratungsangebote, mehr geschulte Fachpersonen, mehr Prävention sowie ein intersektionales Verständnis. «Geschlechtsspezifische Gewalt betrifft uns alle und wir müssen endlich handeln.»
Das scheint mittlerweile auch beim Bund angekommen zu sein. Vergangene Woche informierte Bundesrat Beat Jans an der Zürcher Medienkonferenz über den Ausbau des Opferhilfegesetzes. Darin enthalten sind unter anderem eine 24-Stunden-Beratung an Spitälern für Gewaltopfer sowie mehr Schutzplätze. Die Umsetzung: Aufgabe der Kantone.
Klingt alles sehr bekannt. Jetzt müssen den Worten jedoch endlich Taten folgen. Denn es geht um Angebote, die im schlimmsten Fall über Leben und Tod entscheiden können.
Bei diesen Beratungsstellen und Telefon-Hotlines finden Betroffene von Gewalt Hilfe.
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