Wie schlimm steht es wirklich um die Welt? Das weiss niemand ganz genau. Eine Nachricht jagt die nächste – wie einen Überblick gewinnen, das Chaos ordnen? Wir helfen, indem wir ausgewählte News häppchenweise servieren und einordnen. So liefern wir Ihnen einmal pro Monat Anhaltspunkte zur Lage der Welt aus Lamm-Sicht.
Heute: Erneuter Spätfrost im April. // Ab dem 1. Mai gibt’s im Coop Maden. // Und ab dem 1. Juni Flüge nach NYC für lediglich 140 Euro.
Bad News 1: Spätfrost gefährdet die Ernte von A(pfel) bis Z(wetschge)
Was ist passiert? Schon im Februar sorgten angenehme Temperaturen für ein Frühlingserwachen. Anfang April waren dann die ersten hiesigen Spargeln auf dem Markt – so früh, dass ihre peruanischen Schwestern wohl um Absatz ringen mussten. Auf die Aprikosen- und Pfirsichblüten folgten die Kirschen, dann die Äpfel. Alles deutete auf eine prächtige Ernte hin. Bis in der Nacht von Donnerstag auf Freitag letzter Woche (20./21. April) die Bodentemperaturen in weiten Teilen des Landes unter den Gefrierpunkt fielen. Bei solcher Kälte traut sich keine Biene mehr raus, um Blüten zu bestäuben. Und bereits gebildete Früchte werden von Eiskristallen durchwachsen und dabei zerstochen. Zudem ist auch bei den Reben und den Kiwis die Ernte gefährdet, obwohl diese ihre Fruchtblüten noch gar nicht gebildet haben, so der Fachberater Obstbau vom Strickhof in Winterthur. Denn der Frost schadet sogar denjenigen Fruchttrieben, aus denen die Fruchtblüten erst noch wachsen werden.
Warum ist das wichtig? Weil wir, wenn es richtig schlimm kommt, nächstes Jahr keinen Chasselas und übernächstes Jahr keinen Pinot Noir aus der Region trinken können. Und dementsprechend würden uns auch keine regionalen Früchte durch die düsteren Wintermonate helfen. Damit erinnert uns der diesjährige Kälteeinbruch wieder einmal daran, wie wichtig stabile klimatische Randbedingungen für eine reiche und regelmässige Ernte sind. Auch wenn ein direkter Zusammenhang zwischen einzelnem Wetterereignis und dem Klimawandel aus wissenschaftsmethodischen Gründen kaum hergestellt werden kann, so vermag ein solches Beispiel dennoch zu illustrieren, wie eng eine bestimmte Landwirtschaftspraxis verwoben ist mit dem Klima, aus dem sie entstanden ist. Die Gefahr geht nicht direkt von 1.5 oder 2.0 Grad erhöhter globaler Temperatur aus; sondern davon, wie sich eine solche allgemeine und gemittelte Erhöhung je lokal in ein neues Temperatur- und Niederschlagsmuster übers Jahr hinweg einschreibt. Und ob diejenigen Pflanzen, von denen wir leben, sich auch rasch genug auf solch veränderte Wachstumsbedingungen einstellen können.
Aber? Die Obstbauern geben sich ihrem (und unserem) Schicksal nicht tatenlos hin. Paraffinkerzen sollen die Luft unter den Fruchtbäumen um die benötigten Grade aufwärmen und so die Früchte vor dem Frost schützen. Oder die Pflanzen werden mit Wasser besprüht. Gefriert nämlich das Wasser um die Früchte, sind sie (beschränkt) vor der Kälte isoliert. Andere Obstbäuerinnen stellen ihre Aprikosenplantagen gleich ganz unter Folientunnels – dort seien die heiklen Früchte nicht nur vor Spätfrost geschützt, sondern auch vor zu feuchten Sommern. Wirkt dies alles ein bisschen hilflos und verzweifelt? Vielleicht. Doch der Obstbauer kann nicht auf ein stabiles Klima nach Paris warten, will er in diesem Herbst Früchte ernten. Sollten jedoch künftig die Wetterkapriolen noch heftiger ausfallen, werden solch kleine Pflästerchen nicht mehr ausreichen.
Good News: Maden im Coop
Was ist passiert? Ab Mai gibt’s Maden im Coop. Nicht erntefrisch von einem vergammelten Stück Fleisch, sondern thermisch hygienisiert in separaten Beuteln – so, wie es die revidierte Lebensmittelverordnung will. Wer nun aber glaubt, in den Beuteln ganze Mehlwürmer, Heuschrecken und Grillen vorzufinden, irrt. Stattdessen erwarten einen „Hackbällchen” und „Burgermischungen”. Coop will damit wohl Kichern und Kreischen von Schaulustigen in seinen Filialen verhindern.
Weshalb ist das wichtig? Insekten werden seit längerem als nachhaltige Alternative zu Fleisch gehandelt. Dank ihres wechselwarmen Wärmehaushalts verschwenden Insekten — anders als Säugetiere — keine Energie mit Temperatur-Regulierung. Und sie brauchen weniger Futter, um zu wachsen. Zudem können beispielsweise Mehlwürmer platzsparend in Schubladen gezüchtet werden. Glauben wir dem Food-Startup Essento, das den Coop beliefert, brauchen Insekten zehnmal weniger Futter als Rinder für die gleiche Fleischmenge. Darüber hinaus könne doppelt so viel vom Tier gegessen werden (80% bei den Insekten vs. 40% bei den Rindern). Berücksichtige man zudem das Kuh-Methan, falle die Belastung unseres Planeten mit Treibhausgasen insgesamt zehnmal geringer aus. Ein unglaublich nachhaltiges Proteinwunder, sollte das stimmen.
Aber? Auch Insekten brauchen pflanzliche Proteine, um wachsen zu können. Und die kommen wiederum vom Acker. Auch wenn sie die pflanzlichen Proteine effizienter in tierische Proteine umbauen können als Säugetiere, so ist der direkte Konsum der pflanzlichen Proteine immer noch effizienter. Und anders als bei (reinen) Weidetieren, wie es Schafe, Ziegen und Kühe eigentlich sind, wächst das Insektenfutter auf dem Acker. Und der will gepflügt, gespritzt und gedüngt werden, während die Wiese von selbst wächst. Dass dabei der Boden Schaden nimmt und zudem durch Humusverlust CO2 in die Atmosphäre gelangt, wird in jenem Vergleichen zwischen Rind- und Insektenfleisch gewöhnlich unterschlagen. Allerdings nicht ganz zu unrecht, da leider auch Rinder grösstenteils mit Ackerproteinen gefüttert werden – und somit im Vergleich mit Insekten tatsächlich schlecht abschneiden.
Zudem ist offen, inwiefern sich die Insektenproduktion in bereits nachhaltige Versorgungssysteme eingliedern lässt. Schweine und Hühner beispielsweise können mit Molke, Rüstabfällen oder minderwertigen Ackerfrüchten gefüttert werden. Können auch Insekten solche ‚Überschüsse‘ verwerten? Und schliesslich: Sind Insekten wirklich die (tier-)ethische Alternative zum (Säugetier-)Fleisch, als die sie gepriesen werden? Eine Insekten-Burgermischung kommt zwar sehr viel weniger blutig daher als ihr fleischernes Pendant. Muss aber in der Küche Kopf und daranhängendes Gedärm vom Rest einer Heuschrecke abgetrennt werden, wie es Insektenfrau Andrea Staudacher bei Aeschbacher vorzeigte, so kann sich je nach Empfindlichkeit doch ein recht flaues Gefühl in der Magengegend einstellen. Man realisiert: Insekten sind halt auch Tiere.
Bad News 2: New York retour für 140 Euro.
Was ist passiert? Die Billigairline Norwegian verscherbelt Flüge von Belfast oder Edinburgh nach Newburgh-Stewart oder Providence (je 100 Kilometer von New York City respektive Boston entfernt) für 68 Euro (einfach) bzw. für 140 Euro (retour). 7‘000 Tickets hat sie zu diesen Preisen innert Stunden abgesetzt. Und innert drei Tagen 20‘000 Plätze verkauft. Das erstaunt nicht, denn zuvor lagen die tiefsten Preise in diesem hart umkämpften Markt bei ca. 400 Euro – ohne Essen, manchmal mit Zwischenstopps. Kann sich so etwas rechnen? Gemäss Aviatik-Experte Pierre Condom erstmal gar nicht. Denn trotz günstiger Flughafentaxen in der Provinz; trotz 30 Milliarden Subventionen an die Flugindustrie jährlich; trotz tiefer Löhne und standardisierter Flugzeugflotte: Die 68 Euro reichen nicht einmal für’s Kerosin. Aber spätestens seit Zalando wissen wir, dass anfänglich schwer defizitäre Geschäfte einen langen und destruktiven Atem haben. Vor allem, wenn dank tiefer Zinsen Geld so billig zu haben ist wie jetzt. Dass auch die europäischen Billigairlines zuerst zehn Jahre rote Zahlen geschrieben haben, um heute als die grössten Anbieter den europäischen Markt zu dominieren, lässt nichts Gutes erahnen.
Warum ist das wichtig? Weil der Flugindustrie mittlerweile 5% des weltweiten CO2-Ausstosses anzurechnen ist. Mit erwarteten jährlichen Wachstumsraten von 5 bis 6%. Gerade Billigairlines kurbeln dieses Wachstum zusätzlich an, weil sie eine neue Kundschaft ansprechen, die vorher nicht, oder nicht so viel oder so weit, geflogen ist. Denn VielfliegerInnen werden auch künftig nicht erst in die schottische Provinz reisen, um dann auch noch 100 Kilometer weit von New York entfernt zu landen. Dass diese Neuflieger ins Gewicht fallen, haben gerade die Ryanairs und Easyjets in Europa gezeigt. Alleine Ryanair, heute der grösste Anbieter von innereuropäischen Flügen, hat heute einen CO2-Ausstoss zu verantworten, der mit jenem von kleinen Ländern wie Zypern oder Costa Rica vergleichbar ist. Doch: In der Verantwortung sieht sich Michael O’Leary, der Bad-Boy-CEO von Ryanair, nicht. Denn er ist nicht nur selbsternannter Taxifahrer, um dem Dubliner Stau auf den Taxispuren zu entkommen. Er ist neuerdings auch Geowissenschaftler und weiss: Der Klimawandel ist „rubbish”.
Aber? Die Flugindustrie wurde zwar im Pariser Klima-Abkommen ausgeklammert. Und sie geniesst Steuerprivilegien wie keine andere Branche: Weder müssen Fluggesellschaften eine Treibstoffsteuer noch eine Mehrwertsteuer entrichten. Dass nun die Umweltorganisation Transport & Environment eine Kampagne lanciert, um den EuropäerInnen eine Flugsteuer schmackhaft zu machen, hat mit dem Steuerausfall für die EU zu tun: Gemäss Schätzungen entgehen ihr aufgrund der Steuerprivilegien 20 bis 32 Milliarden Euro. In Zeiten von Austeritätspolitik doch eine beachtliche Summe. Auch in der Schweiz regt sich Widerstand gegen die Flugindustrie und ihre mächtige Lobby. In Genf haben Lisa Mazzone und Philippe Duegerdil die Initiative „Pour un pilotage démocratique de l‘aéroport“ eingereicht, um das UVEK daran zu hindern, den Genfer Flughafen auf Kosten der AnwohnerInnen und der Umwelt noch weiter auszubauen. Und Priska Seiler-Graf hat in der Frühlingssession eine Motion zuhanden des UVEK deponiert: Es soll die Einführung einer Treibstoffsteuer prüfen (das Lamm berichtete im letzten Lage der Welt dazu). Auch wenn in nächster Zukunft dank Norwegian das Klima so billig wie noch nie mit Unmengen an CO2 befrachtet werden und so manch eine individuelle CO2-Bilanz mit bloss 140 Euros ruiniert werden kann: Der Widerstand gegen diesen Irrsinn wächst.
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