Alle Schuld den Herkunfts­län­dern: Die Gender-Politik des UNHCR

Das UNHCR brüstet sich mit ihrer Age, Gender and Diver­sity Policy. Es seien bloss die gesell­schaft­li­chen Einstel­lungen der Herkunfts­länder, die ihre Arbeit erschweren würden. Ein kurzer Blick auf das schwei­ze­ri­sche wie auch das grie­chi­sche Asyl­wesen zeigt aber: Massive Diskri­mi­nie­rung von Frauen erfolgt auch durch die Zielländer. 

Dass Menschen je nach Gender von Flucht, Zwangs­um­sie­de­lungen und Staa­ten­lo­sig­keit unter­schied­lich betroffen sind, ist eigent­lich auch dem UNHCR bewusst. So verfolgen sie bereits des Längeren eine gender­in­k­lu­sive Stra­tegie. Fort­schritte gäbe es zwar, aber die Heraus­for­de­rungen bleiben gross, heisst es in ihrem Bericht zur Age, Gender and Diver­sity Policy. Und wer ist dafür verant­wort­lich? Laut UNHCR sei die Tatsache, dass flüch­tende und geflüch­tete Frauen im Asyl­wesen immer noch massiv benach­tei­ligt werden, vor allem zurück­zu­führen auf nur langsam verän­der­bare gesell­schaft­liche Einstel­lungen – in den Herkunfts­län­dern. Das euro­päi­sche Grenz­re­gime auf der anderen Seite: fein raus. Doch entspricht diese Darstel­lung der Realität? Ganz klar nicht, wie ein Blick auf das Asyl­wesen in Grie­chen­land und in der Schweiz zeigt.

Grie­chen­lands Asyl­ver­fahren ist heillos über­la­stet. Das führt unter anderem zu ekla­tanter Diskri­mi­nie­rung in Gesprä­chen mit den grie­chi­schen Behörden: „Das grie­chi­sche Asyl­sy­stem miss­achtet insbe­son­dere die Rechte von Mädchen und Frauen“, so Raquel Herzog, die Grün­derin der SAO Asso­cia­tion. Der Verein setzt sich für Frauen auf der Flucht ein und führt unter anderem ein Tages­zen­trum auf Lesbos und eines in Athen, die auf trau­ma­ori­en­tierte, psycho­so­ziale Dienst­lei­stungen für geflüch­tete Frauen und Mütter spezia­li­siert sind. Herzog berichtet von mehreren Anhö­rungen, bei denen die „grie­chi­schen Behörden weib­liche Gesuch­stel­le­rinnen gar nicht erst zum Gespräch einge­laden haben“, sondern ledig­lich deren männ­liche Beglei­tung. Der Mann könne für beide Parteien spre­chen, so die Annahme. „Dass die Ehefrau oder die Beglei­terin auch ihre Version der Geschichte schil­dern kann, ist aber uner­läss­lich“, sagt Herzog. Der Status der Frau wird nicht nur diskre­di­tiert, „das Asyl­sy­stem in seiner jetzigen Form zemen­tiert bestehende Rollenbilder“.

Obwohl das UNHCR diplo­ma­ti­sche Arbeit betreibt und das grie­chi­sche Asyl­sy­stem zu beein­flussen versucht, fruchten die Bemü­hungen scheinbar wenig. Das Lamm hat beim UNHCR nach­ge­fragt, wie es gedenke, seine gender­in­k­lu­sive Stra­tegie in Grie­chen­land umzu­setzen. Wir haben bis jetzt aber noch keine Antwort erhalten.

In der Schweiz sieht es nicht viel besser aus als in Grie­chen­land. Wiebke Doering beschäf­tigt sich intensiv mit dem schwei­ze­ri­schen Asyl­ver­fahren und stellt einige Baustellen fest. So führt sie in einem Bericht der Orga­ni­sa­tion Terre des Femmes Schweiz unter anderem zwei geschlechts­spe­zi­fi­sche Heraus­for­de­rungen an:

Erstens sind prak­tisch alle Frauen mit Flucht- oder Migra­ti­ons­er­fah­rung von sexua­li­sierter Gewalt betroffen, was schwere Trau­mata verur­sa­chen kann. Selbst­schutz­me­cha­nismen können dazu führen, dass Betrof­fene die an ihnen began­genen Miss­hand­lungen verdrängen, vergessen oder sich sogar für die Tat mitver­ant­wort­lich fühlen. „Für viele Asylbewerber*innen ist es äusserst schwierig, sehr schmerz­liche oder auch scham­be­setzte Erin­ne­rungen zu erzählen“, sagt Doering. Ganz beson­ders, weil es in der Schweiz nicht obli­ga­to­risch ist, dass die Anhö­rung unter Ausschluss von Männern durch­ge­führt wird. Trotzdem wird bereits in einer „Erst­be­fra­gung erwartet, dass Antragsteller*innen ihre Asyl­gründe möglichst voll­ständig und kohä­rent darlegen“, führt Doering weiter aus. Da das jetzige System nicht auf trau­ma­ti­sierte Menschen ausge­legt ist, werden daher wider­sprüch­liche Aussagen schnell mal als unglaub­würdig abgetan.

Zwei­tens argu­men­tiert Doering, dass Sachbearbeiter*innen basie­rend auf eigenen Lebens­er­fah­rungen wohl kaum in der Lage seien, die Situa­tion der Asylbewerber*innen ange­messen beur­teilen zu können. Gerade wenn mangels Ressourcen oder poli­ti­schen Willens eine simple Google-Recherche die Ausgangs­lage für die Beur­tei­lung darstellt. Doering sei zum Beispiel ein Fall bekannt, in dem eine Frau aus der Repu­blik Côte d’Ivoire, die vor einer drohenden Geni­tal­ver­stüm­me­lung geflohen ist, einen Nega­tiv­ent­scheid erhalten hat. Als Grund wurde ange­geben, dass in besagtem Land schliess­lich ein Gesetz gegen Geni­tal­ver­stüm­me­lung in Kraft sei und deshalb die besagte Betrof­fene keine Verfol­gung zu befürchten habe. „Ein existie­rendes Gesetz muss aber keines­wegs wirksam sein“, sagt Doering. „Und selbst wenn eine Frau die Möglich­keit hätte, zur Polizei zu gehen, würde die Polizei aller Wahr­schein­lich­keit nach keine Unter­su­chung einleiten.“ In die Beur­tei­lung des Asyl­ent­scheids einge­flossen seien derar­tige Über­le­gungen nicht.

Trotz länder­spe­zi­fi­scher Unter­schiede sind sich die Schweiz und Grie­chen­land in einem Punkt sehr einig: In ihren Asyl­ver­fahren werden Frauen massiv diskri­mi­niert. Es bleibt somit die Fest­stel­lung: Die Bemer­kung des UNHCR, dass gesell­schaft­liche Einstel­lungen der Ursprungs­länder zu gewissen Schwie­rig­keiten führen, ist zynisch. In Wahr­heit sind viele Barrieren syste­mi­scher Natur. Sie entspringen den gesell­schaft­li­chen Normen und vor allem dem poli­ti­schen Willen der Zielländer.


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