Almosen oder Grund­si­che­rung? Für die Über­win­dung von Scham und Ausgrenzung!

Das Recht auf ein menschen­wür­diges Dasein ist in der Bundes­ver­fas­sung veran­kert, es heisst sogar: „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwa­chen.“ Umge­setzt wird das Recht aber nur zaghaft. So macht sich die Schweiz zum Vorbild für rechte Ideolog:innen in ganz Europa. Ein Para­dig­men­wechsel muss her! 
Wer hilft hier eigentlich wem? Sozialhilfe als Recht oder Almosen. (Foto: Neil Thomas / Unsplash)

In der Schweiz zu leben, heisst nicht auto­ma­tisch, ein menschen­wür­diges Dasein zu haben, selbst bei legalem Aufent­halts­status. Laut einer Studie der Fach­hoch­schule Bern beziehen zwischen 33 und 42 Prozent aller theo­re­tisch Berech­tigten keine Sozi­al­hilfe. Das bedeutet konkret, dass ein Drittel aller Menschen unter der Armuts­grenze keine Unter­stüt­zung bekommt, um in würdi­geren Verhält­nissen zu leben.

Woran liegt das?

Der Haupt­grund dafür lässt sich in der glei­chen Studie aus dem Jahr 2020 nach­lesen: die Angst vor gesetz­li­chen und sozialen Repres­sionen. Ausländer:innen, so die Studie, müssten bis heute damit rechnen, beim Bean­tragen von Sozi­al­hilfe in ihrem Aufent­halts­status herab­ge­setzt zu werden, beispiels­weise von einem C auf ein B, oder gar die Aufent­halts­be­wil­li­gung zu verlieren.

Zudem sagt die Studie aus, dass „Stig­ma­ti­sie­rung, admi­ni­stra­tive Hürden oder Nicht­wissen“ dazu führen, dass gesetz­lich veran­kerte Grund­hilfen nicht bean­sprucht werden. Mari­anne Hochuli von der Caritas Schweiz wird in diesem Sinne noch konkreter. Gegen­über das Lamm sagt sie: „Mancher­orts besteht immer noch die Meinung, eine Not- und Armuts­lage sei selbstverschuldet.“

Sozi­al­hilfe ist nach in der Schweiz verbrei­teter Ansicht also keine Unter­stüt­zung an jene, die durch die Wege des Kapi­ta­lismus in finan­zi­elle Not gekommen sind, sondern „Bettel­geld für Verlierer“, für Menschen, die angeb­lich zu faul sind, richtig zu arbeiten, oder es sonst nicht geschafft haben, auf eigenen Beinen zu stehen.

Dass dies nicht stimmt, ist eine Sache. Die andere ist, dass diese Meinung hier­zu­lande vom rechten Rand bis in die linke Mitte auf Zustim­mung trifft – wie zuletzt Mario Fehr im Zusam­men­hang mit der Debatte über Sozi­al­de­tek­tive bewiesen hat. Sozi­al­hilfe verkommt in dieser Logik von einem sozialen und gesell­schaft­li­chen Recht zu einer Art von staat­li­chem Almosen als Vorstufe zum Betteln auf der Strasse. Ein Geschenk, auf das ausserdem nur Schweizer Staatsbürger:innen wirk­lich hoffen können. Wie sich deut­lich an der Debatte in Basel­stadt gezeigt hat. Der Rest wird, gleich mittel­al­ter­li­cher Praxis, der Stadt verwiesen.

Die Schweiz, ein „Gala­so­zi­al­staat“?

Das ist gut so, behaupten die einen. So pries der deut­sche Philo­soph Peter Sloter­dijk die Schweizer Fiskal­po­litik im Schweizer Monat und behaup­tete, die Schweiz sei der einzige euro­päi­sche Staat, in dem Steuern nicht wie in einer „Klep­to­kratie“ erhoben und also den Bürger:innen gestohlen würden. In der Schweiz gebe es keine staat­lich orga­ni­sierte Umver­tei­lungs­ma­schi­nerie, viel­mehr seien reiche Bürger:innen „Spon­soren des Staats­we­sens“ und hätten ein beson­ders ausge­bautes „Geber­be­wusst­sein“. Steu­ern­zahlen verwan­delt sich von einer gesell­schaft­li­chen Pflicht zu einer Spen­den­gala als Wohl­füh­le­vent für Reiche.

Solche Aussagen sind zudem einfach gemacht, in einem Land, das mit einem durch­schnitt­li­chen Steu­er­satz von nur 16,7 Prozent im euro­päi­schen Vergleich ein Para­dies für Steuervermeider:innen ist. Diesem „Anreiz“ ist zum Beispiel auch die super­reiche Rechts­aussen-Poli­ti­kerin Alice Weidel aus Deutsch­land in die Schweiz gefolgt. Denn wer laut Schät­zungen ein Vermögen von 1,2 Millionen Euro besitzt, zahlt hier nicht nur deut­lich weniger Steuern und Sozi­al­ab­gaben, sondern kann sich durch gross­zü­gige Spenden auch noch richtig profilieren. 

Dieser „Gala­so­zi­al­staat“ bedeutet in der Umkeh­rung aber auch, dass es nicht selbst­ver­ständ­lich ist, vom Staat Geld zu bekommen. Man muss betteln, seine finan­zi­ellen Nöte offen­legen und die Scham über­winden, als „Zecke“ zu gelten. Die Konse­quenz: Menschen leben und arbeiten in Armut, obwohl sie eigent­lich ein Recht auf ein besseres Leben hätten.

Die Konse­quenz aus der Freiwilligkeit

Diese Fehl­wir­kung zeigt sich beson­ders hart in der Hoch­schul­land­schaft. Für Bachelor- und Master­stu­die­rende gibt es kaum staat­lich orga­ni­sierte Finan­zie­rungs­mög­lich­keiten. Während etwa in Deutsch­land rund ein Sech­stel aller Studie­renden über das staat­liche BAföG unter­stützt wird, hat die Schweiz keine zentral orga­ni­sierte Förder­struktur und erhebt zudem auch noch Studi­en­ge­bühren. Neben vergün­stigten Wohnungen oder der allge­meinen Prämi­en­ver­bil­li­gung existieren vor allem Darlehen und Stipen­dien. Die Hälfte der Studie­renden finan­ziert sich über die Familie (52 Prozent) und/oder durch eine gleich­zei­tige Erwerbs­tä­tig­keit (39 Prozent).

Im Konkreten heisst das: Die Stipen­dien von privaten Stif­tungen entwickeln bei Weitem nicht die gleiche Reich­weite wie staat­liche Programme in den Nachbarländern.

Doch was passiert, wenn die Familie nicht die finan­zi­elle Möglich­keit hat, ihre Studie­renden zu finan­zieren? Wenn die Studie­renden eigene Kinder versorgen oder andere nötige Care-Arbeit leisten müssen und es ihnen schwer­fällt, neben dem Studium noch zu arbeiten?

Genau hier sollte eigent­lich eine zusätz­liche finan­zi­elle Hilfe einspringen, um mehr Chan­cen­gleich­heit zu gewähr­lei­sten und das Studium nicht zu einem Privileg der Reich­ge­bo­renen verkommen zu lassen. Schliess­lich wird hier auch die Zukunft der Gesell­schaft ausge­bildet. Doch wer einmal in die Situa­tion gekommen ist, zu wenig Geld zu haben, weiss wie mühsam das ist: Stipen­dien und die wenigen finan­zi­ellen Hilfen vonseiten der Uni sind ein Dschungel aus Zustän­dig­keiten, den zu lichten Tage in Anspruch nimmt. Tage und Stunden, die eine Person mit Zeit- und Geld­mangel eben gerade nicht hat.

Die Stif­tungen, auch wenn sie eine wich­tige Arbeit über­nehmen, verwan­deln sich in diesen „gross­zü­gigen“ sloter­di­jk­schen Geber. Anstatt für Chan­cen­gleich­heit zu sorgen, gibt es Elite­för­de­rung für jene, die es aus dem einen oder anderen Grund „wert sind“, geför­dert zu werden. Einem Recht auf soziale Hilfe während der Studi­en­zeit kommen sie trotz allem gutem Willen nicht nahe.

Wer in der Schweiz Förder­gelder braucht, muss sich darum bemühen, darum bitten und betteln. Eine wich­tige Grund­vor­aus­set­zung für ein menschen­wür­diges Dasein wird dadurch zur Farce. Denn Leute in finan­ziell schwie­rigen Situa­tionen haben häufig keine Zeit und nicht die psychi­sche Durch­hal­te­kraft, um sich durch die Berge und Täler der angeb­li­chen sozialen Grund­si­che­rung zu kämpfen. Was bleibt, ist der neun­mal­kluge Spruch: „Du musst dich halt nur umschauen und ein biss­chen anstrengen.“

Für ein Grund­recht auf Unterstützung

Am 1. Juli stellte die Caritas Schweiz ein Posi­ti­ons­pa­pier zu Existenz­si­che­rung und Aufent­halts­status vor. Denn, wie schon beschrieben: die meisten Ausschluss­me­cha­nismen zielen auf Menschen ohne roten Pass – auch wenn sie hier geboren sind. Darum fordert die Caritas die Entkop­pe­lung der Existenz­si­che­rung von einer Bewer­tung des Aufenthaltsstatus.

Das wäre ein nötiger Anfang, um eine faire Existenz­si­che­rung zu gewähr­lei­sten. Doch es braucht mehr: Soziale Absi­che­rung und Unter­stüt­zung in finan­ziell schwie­rigen Situa­tion müssen zu einem Grund­recht werden, auf das einfach und ohne Probleme zuge­griffen werden kann. Nur so werden den Menschen jene Existenz­ängste genommen, die bislang oft verhin­dern, dass sie sich auf das Wesent­liche konzen­trieren können: Studium, Care-Arbeit, Lohn­ar­beit und vieles mehr.

Und wie wird das bezahlt? Nun ja, das ist schliess­lich eine Prio­ri­tä­ten­frage: Man kann entweder die Steuern erhöhen oder dem Beispiel aus Costa Rica folgen, das sein Militär abge­schafft und das frei werdende Geld in Bildung gesteckt hat. Statt einem Sturm­ge­wehr für jeden Mann ein Stift und Papier für alle.


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