Es ist ein verstörendes Bild, welches das 20-seitige Heft der britischen Nichtregierungsorganisation War on Want im März 1974 ziert. Ein sichtlich abgemagertes Kleinkind ist weinend auf einer Babyflasche abgedruckt, rechts daneben steht in grossen Buchstaben: „The Baby Killer”. Für 35 Penny konnte man die Untersuchung zur Vermarktung und dem Verkauf von künstlicher Babynahrung in Entwicklungsländern lesen – und das taten viele. Die Broschüre war der Startschuss zu einem Nestlé-Boykott, der sich über drei Kontinente erstreckte und bis heute anhält.
Hintergrund der drastischen Broschüre war Nestlés aggressives Marketing für ihre künstliche Babynahrung in der sogenannten Dritten Welt. Obwohl bereits Ende der 60er Jahre von WissenschaftlerInnen vor den tödlichen Auswirkungen der künstlichen Ersatzprodukte gewarnt wurde, pries der Schweizer Grosskonzern seine Babynahrung als wirksames Mittel gegen die Säuglingssterblichkeit an. Die Werbestrategie erwies sich als erfolgreich: Viele Mütter in Entwicklungsländern stiegen auf die Kunstnahrung um, obwohl sie weder das Wissen noch das dringend notwendige saubere Wasser für die Zubereitung der Nahrung besassen.
Die Berner StudentInnengruppierung „Arbeitsgruppe Dritte Welt” legte das Heft im gleichen Jahr mit dem griffigen Titel „Nestlé tötet Babys” in einer deutschen Übersetzung auf. Dies ging dem internationalen Multi zu weit: Die Berner Studierenden wurden wegen „abscheulicher Verleumdung” verklagt. Vor Gericht wurde dann aber die Werbepraxis von Nestlé als unmoralisch, pseudowissenschaftlich und in tausenden Fällen nachweislich tödlich für Kleinkinder in Entwicklungsländern kritisiert. Verurteilt wurden die StudentInnen trotzdem: JedeR der 13 Studierenden musste als symbolische Strafe 300 Franken bezahlen.
Das Urteil wurde dennoch als moralischer Erfolg für die StudentInnen gewertet. Aber bis heute verletzt die Marketingstrategie von Nestlé Gesetze einzelner Länder und internationale Standards, ganz zu schweigen von den allzu häufigen Menschenrechtsverletzungen.
Schweizer Unternehmen – internationale Standards
Genau dieser Nonchalance im Umgang mit internationalen Standards durch Schweizer Grosskonzerne möchte die Konzernverantwortungsinitiative ein Ende setzen. Ihr Kernanliegen ist simpel: Rund 1500 grosse Unternehmen sowie einige KMUs sollen jederzeit und überall internationale Menschenrechte und Umweltstandards respektieren. Wer sich nicht daran hält, soll künftig haftbar gemacht werden. Auch Verfehlungen von Lieferanten und Tochterfirmen werden berücksichtigt. Ausserdem müssen die Unternehmen regelmässig überprüfen, ob ihre Tätigkeiten die Menschenrechte oder Umweltstandards verletzten. Da gerade der Begriff „Menschenrechte” notorisch unscharf ist, orientiert sich die Initiative an den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte von 2011.
Genau an diesen Leitprinzipien sollen die Grosskonzerne mit Sitz in der Schweiz gemessen werden. Bis heute werden Menschenrechte und Umweltstandards von den Multis oft als lästige Hürden statt als unumstössliche moralische und gesellschaftliche Prinzipien behandelt. Geschäftstätigkeiten, welche auf Schweizer Boden weitreichende Konsequenzen hätte, bleiben auf südamerikanischer, asiatischer oder afrikanischer Erde oft unbestraft.
So auch 2007, als die Arbeitsgruppe Schweiz-Kolumbien (ask!) beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) gegen den Rohstoffmulti Xstrata wegen Verletzung der OECD-Leitsätze in der Kohlemine El Cerrejón Klage einreichte. Die Vorwürfe waren happig: AnwohnerInnen wurden um ihr Land zu Spottpreisen betrogen, Dörfer wurden gewaltsam geräumt und viele Familien umgesiedelt. Gleichzeitig wurde die Infrastruktur dermassen vernachlässigt, dass viele Menschen – vom Hunger bedroht und arbeitslos – ihre Heimat freiwillig verliessen.
Die Verhandlungen verliefen für die ask! ernüchternd: Das SECO betonte im Laufe des zweijährigen Verfahrens immer wieder den freiwilligen Charakter der Verhandlungen. Man könne ein Unternehmen nicht zu Antworten zwingen. Eine staatliche Behörde, die vor einem delinquenten Unternehmen kuscht? Das ging der ask! zu weit. In der Folge entstand zusammen mit Amnesty International und Public Eye (damals noch Erklärung von Bern) die Idee für die Konzernverantwortungsinitiative.
Eigentum und Verantwortung ja – aber nur in der Schweiz
Die InitiantInnen treffen einen Nerv: In der ersten Umfrage vom Tages-Anzeiger sagten 72% der DeutschschweizerInnen, dass sie das Anliegen der Initiative unterstützen. Diese klare Zustimmung überraschte viele, die sich sonst die Wirtschaftsfreundlichkeit der Schweizer Stimmbevölkerung gewohnt sind. Die NZZ spricht beim Kernanliegen der Initiative bald von einer „Suggestivfrage” und beruhigt ihre LeserInnen, dass viele Volksinitiativen zu Beginn viele Sympathien geniessen – bevor sie dann an der Urne scheitern, „wenn klar geworden ist, dass die Instrumente und Nebenwirkungen der Initiative weniger sympathisch erscheinen als die Ziele“.
Und dieser letzte Teil, diese vermeintlichen unsympathischen Nebenwirkungen der Initiative, ist die zentrale Botschaft der GegnerInnen. Die Initiative sei eine „Mogelpackung” und ein Produkt einer „überheblichen und paternalistischen Denkweise”, welche an missionarische ChristInnen erinnere. Die InitiantInnen wollten die Schweizer Wirtschaft in Fesseln legen (SVP), ihr Vorhaben gefährde den Wirtschaftsstandort und Arbeitsplätze (FDP).
Das Ziel dieser martialischen Sprache ist so transparent wie genial: Die Initiative soll in das klassische politische Spektrum für Wirtschaftsfragen eingepasst werden. Es soll eine Geschichte erzählt werden, wie sie schon zuhauf in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen und im Nationalrat wiedergegeben wurde: Die Regulierungswut der Linken gefährde nicht nur den Wirtschaftsstandort, sondern auch den gesamten helvetischen Wohlstand und beinahe alle Arbeitsplätze. Ob Mindestlohn, Grüne Wirtschaft oder 6 Wochen Ferien: Die Dreifaltigkeit aus höheren Preisen, Arbeitsplätzen und Löhnen soll in der Schweizer Bevölkerung eine Ablehnung triggern.
Nur mag dieses Mal die Geschichte irgendwie nicht recht passen, denn es gibt ein starkes und überzeugendes Gegennarrativ. Anstelle der Geschichte der Schweizer Wirtschaft in regulatorischen Fesseln wird vermehrt die Geschichte von Konzernen erzählt, die ihren Erfolg zu einem grossen Teil einer systematischen Verletzung von liberalen Eigentums- und Freiheitsrechten zu verdanken haben – ohne sich je für ihre Taten verantworten zu müssen.
Natürlich diskreditieren die GegnerInnen der Initiative diese Erzählung, denn: Eigenverantwortung, unabdingbare Freiheitsrechte und Eigentum sind viel beschworene Grundpfeiler der Schweiz. Geht es nämlich um Enteignungen für Asylunterkünfte [sic] oder fehlende Eigenverantwortung im Gesundheitssystem, dann werden die liberalen Freiheitsprinzipien als Grenze gegenüber dem überbordenden Staat ausgerufen, sozusagen als Garant der Freiheit. Doch in Bezug auf die Wirtschaft werden die gleichen Rechte als Bedrohung hingestellt. Die GegnerInnen verwenden also eine begriffliche Mehrdeutigkeit im Dienst der absoluten Wirtschaftsfreiheit und auf Kosten der Menschenrechte.
Gegenvorschlag: Bürgerliche Flucht nach vorne oder gangbarer Kompromiss?
Und doch: Dieses Mal scheint die aufgezogene Angstkulisse ihre Wirkung zu verfehlen. Zumindest lässt das die neuste Umfrage vermuten, welche weiterhin eine grosse Zustimmung für das Vorhaben registriert – sogar bei SVP- und FDP-WählerInnen.
Damit der Initiative der Wind aus den Segeln genommen werden kann, wird im Parlament seit November letzen Jahres an einem indirekten Gegenvorschlag gearbeitet. Da in verschiedenen wichtigen Sitzstaaten multinationaler Unternehmen bereits Anpassungen an die UNO-Leitprinzipien vorgenommen wurden, sei eine verbindliche Umsetzung der Richtlinien „auch für die Schweiz ein Gebot der Stunde”, heisst es in der entsprechenden Initiative der Ständeratskomission für Rechtsfragen. Trotzdem lehnten acht der zehn StänderätInnen in der Kommission die Konzernverantwortungsinitiative ab. Die Begründung: „Die Initiative ist […] in weiten Teilen vage formuliert und lässt viel Interpretationsspielraum. Zudem geht sie in einigen Punkten zu weit.” Deswegen nun der indirekte Gegenvorschlag.
Die nationalrätliche Schwester-Kommission lehnte den Antrag zuerst ab – allerdings hat jetzt die Rechtskommission des Nationalrats im Rahmen der Revision des Aktienrechts einen eigenen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet. Mit 123 zu 73 Stimmen wurde er vom Nationalrat angenommen.
Konkret würden die Regeln nur noch für sehr grosse Unternehmen gelten, da der Schwellenwert höher angesetzt würde. Neu würde die Sorgfaltspflicht nicht mehr für alle Unternehmen mit Schweizer Haupsitz gelten, sondern nur noch für Unternehmen mit einer Bilanzsumme von 40 Millionen Franken, einem Umsatz von 80 Millionen Franken oder durchschnittlich 500 Vollzeitstellen. Für KMUs in sogenannten Risikobereichen, wie etwa den Diamanten- oder Rohstoffhandel, würde die Sorgfaltspflicht weiterhin gelten. Der Gegenvorschlag schränkt aber auch die Haftungsbestimmungen der Initiative ein: Nestlé und Co. sollen nicht für Verfehlungen von ihren Lieferanten haften. Nur bei ganz schweren Verstössen gegen „Leib und Recht oder Eigentum” müssten die Konzerne noch geradestehen, falls die Sorgfaltspflicht nicht nachweislich befolgt wurde.
Economiesuisse und Swissholding lehnen selbst den indirekten Gegenvorschlag ab. Die Bürokratie blähte sich so auf, es würde sich ein Einfallstor für Klagen aus dem Ausland öffnen. Die Wirtschaftsverbände klammern sich verzweifelt an ihre sprachliche Allzweckwaffe – und zeigen so, dass sie bereit sind, für die totale Wirtschaftsfreiheit auch das letzte Stück der vermeintlichen „humanitären Tradition” der Schweiz zu opfern.
Die Rechtskommission des Ständerats hat einer Anhörung des nationalrätlichen Vorschlags aber zugestimmt. Der Ball liegt jetzt bei ihr. Kommt der indirekte Gegenvorschlag unverändert auch durch den Ständerat, haben die InitiantInnen einen Rückzug der Initiative angeboten. Ein gutschweizerischer Kompromiss zu einem eigentlich kompromisslosen Anliegen. Es wäre ein Schritt nach vorne. Aber einer mit fahlem Beigeschmack. Denn wie der nächste Artikel von Natalia Widla zeigen wird, ist schon in der ursprünglichen Form der Initiative nicht klar, wie viel der Rechtsstaat überhaupt gegen notorisch delinquente Multis wie Glencore ausrichten kann.
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