An der Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive könnten sich die Wirt­schafts­li­be­ralen die Zähne ausbeissen

„Was der Schweizer Wirt­schaft schadet, schadet auch dem Schweizer Wohl­stand – und somit jeder und jedem von uns.“ So lautet seit jeher das schlag­kräf­tigste Argu­ment von Wirt­schafts­ver­tre­te­rInnen gegen poli­ti­sche Regu­lie­rungs­be­mü­hungen. Nicht anders tönt es auch jetzt wieder seitens Econo­mie­su­isse, SVP und NZZ als Reak­tion auf die Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive. Dieses Mal droht die sprach­liche Allzweck­waffe jedoch, ihre gewohnte Wirkung zu verfehlen. 
Unternehmen in die Schranken weisen? (Foto: Dimitri Anikin / Unsplash)

Es ist ein verstö­rendes Bild, welches das 20-seitige Heft der briti­schen Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tion War on Want im März 1974 ziert. Ein sicht­lich abge­ma­gertes Klein­kind ist weinend auf einer Baby­fla­sche abge­druckt, rechts daneben steht in grossen Buch­staben: „The Baby Killer”. Für 35 Penny konnte man die Unter­su­chung zur Vermark­tung und dem Verkauf von künst­li­cher Baby­nah­rung in Entwick­lungs­län­dern lesen – und das taten viele. Die Broschüre war der Start­schuss zu einem Nestlé-Boykott, der sich über drei Konti­nente erstreckte und bis heute anhält.

Hinter­grund der drasti­schen Broschüre war Nestlés aggres­sives Marke­ting für ihre künst­liche Baby­nah­rung in der soge­nannten Dritten Welt. Obwohl bereits Ende der 60er Jahre von Wissen­schaft­le­rInnen vor den tödli­chen Auswir­kungen der künst­li­chen Ersatz­pro­dukte gewarnt wurde, pries der Schweizer Gross­kon­zern seine Baby­nah­rung als wirk­sames Mittel gegen die Säug­lings­sterb­lich­keit an. Die Werbe­stra­tegie erwies sich als erfolg­reich: Viele Mütter in Entwick­lungs­län­dern stiegen auf die Kunst­nah­rung um, obwohl sie weder das Wissen noch das drin­gend notwen­dige saubere Wasser für die Zube­rei­tung der Nahrung besassen.

Die Berner Studen­tIn­nen­grup­pie­rung „Arbeits­gruppe Dritte Welt” legte das Heft im glei­chen Jahr mit dem grif­figen Titel „Nestlé tötet Babys” in einer deut­schen Über­set­zung auf. Dies ging dem inter­na­tio­nalen Multi zu weit: Die Berner Studie­renden wurden wegen „abscheu­li­cher Verleum­dung” verklagt. Vor Gericht wurde dann aber die Werbe­praxis von Nestlé als unmo­ra­lisch, pseu­do­wis­sen­schaft­lich und in tausenden Fällen nach­weis­lich tödlich für Klein­kinder in Entwick­lungs­län­dern kriti­siert. Verur­teilt wurden die Studen­tInnen trotzdem: JedeR der 13 Studie­renden musste als symbo­li­sche Strafe 300 Franken bezahlen.

Das Urteil wurde dennoch als mora­li­scher Erfolg für die Studen­tInnen gewertet. Aber bis heute verletzt die Marke­ting­stra­tegie von Nestlé Gesetze einzelner Länder und inter­na­tio­nale Stan­dards, ganz zu schweigen von den allzu häufigen Menschen­rechts­ver­let­zungen.

Schweizer Unter­nehmen – inter­na­tio­nale Standards

Genau dieser Noncha­lance im Umgang mit inter­na­tio­nalen Stan­dards durch Schweizer Gross­kon­zerne möchte die Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive ein Ende setzen. Ihr Kern­an­liegen ist simpel: Rund 1500 grosse Unter­nehmen sowie einige KMUs sollen jeder­zeit und überall inter­na­tio­nale Menschen­rechte und Umwelt­stan­dards respek­tieren. Wer sich nicht daran hält, soll künftig haftbar gemacht werden. Auch Verfeh­lungen von Liefe­ranten und Toch­ter­firmen werden berück­sich­tigt. Ausserdem müssen die Unter­nehmen regel­mässig über­prüfen, ob ihre Tätig­keiten die Menschen­rechte oder Umwelt­stan­dards verletzten. Da gerade der Begriff „Menschen­rechte” noto­risch unscharf ist, orien­tiert sich die Initia­tive an den UNO-Leit­prin­zi­pien für Wirt­schaft und Menschen­rechte von 2011.

Genau an diesen Leit­prin­zi­pien sollen die Gross­kon­zerne mit Sitz in der Schweiz gemessen werden. Bis heute werden Menschen­rechte und Umwelt­stan­dards von den Multis oft als lästige Hürden statt als unum­stöss­liche mora­li­sche und gesell­schaft­liche Prin­zi­pien behan­delt. Geschäfts­tä­tig­keiten, welche auf Schweizer Boden weit­rei­chende Konse­quenzen hätte, bleiben auf südame­ri­ka­ni­scher, asia­ti­scher oder afri­ka­ni­scher Erde oft unbestraft.

So auch 2007, als die Arbeits­gruppe Schweiz-Kolum­bien (ask!) beim Staats­se­kre­ta­riat für Wirt­schaft (SECO) gegen den Rohstoff­multi Xstrata wegen Verlet­zung der OECD-Leit­sätze in der Kohle­mine El Cerrejón Klage einreichte. Die Vorwürfe waren happig: Anwoh­ne­rInnen wurden um ihr Land zu Spott­preisen betrogen, Dörfer wurden gewaltsam geräumt und viele Fami­lien umge­sie­delt. Gleich­zeitig wurde die Infra­struktur dermassen vernach­läs­sigt, dass viele Menschen – vom Hunger bedroht und arbeitslos – ihre Heimat frei­willig verliessen.

Die Verhand­lungen verliefen für die ask! ernüch­ternd: Das SECO betonte im Laufe des zwei­jäh­rigen Verfah­rens immer wieder den frei­wil­ligen Charakter der Verhand­lungen. Man könne ein Unter­nehmen nicht zu Antworten zwingen. Eine staat­liche Behörde, die vor einem delin­quenten Unter­nehmen kuscht? Das ging der ask! zu weit. In der Folge entstand zusammen mit Amnesty Inter­na­tional und Public Eye (damals noch Erklä­rung von Bern) die Idee für die Konzernverantwortungsinitiative.

Eigentum und Verant­wor­tung ja – aber nur in der Schweiz

Die Initi­an­tInnen treffen einen Nerv: In der ersten Umfrage vom Tages-Anzeiger sagten 72% der Deutsch­schwei­ze­rInnen, dass sie das Anliegen der Initia­tive unter­stützen. Diese klare Zustim­mung über­raschte viele, die sich sonst die Wirt­schafts­freund­lich­keit der Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung gewohnt sind. Die NZZ spricht beim Kern­an­liegen der Initia­tive bald von einer „Sugge­stiv­frage” und beru­higt ihre Lese­rInnen, dass viele Volks­in­itia­tiven zu Beginn viele Sympa­thien geniessen – bevor sie dann an der Urne schei­tern, „wenn klar geworden ist, dass die Instru­mente und Neben­wir­kungen der Initia­tive weniger sympa­thisch erscheinen als die Ziele“.

Und dieser letzte Teil, diese vermeint­li­chen unsym­pa­thi­schen Neben­wir­kungen der Initia­tive, ist die zentrale Botschaft der Gegne­rInnen. Die Initia­tive sei eine „Mogel­packung” und ein Produkt einer „über­heb­li­chen und pater­na­li­sti­schen Denk­weise”, welche an missio­na­ri­sche Chri­stInnen erin­nere. Die Initi­an­tInnen wollten die Schweizer Wirt­schaft in Fesseln legen (SVP), ihr Vorhaben gefährde den Wirt­schafts­standort und Arbeits­plätze (FDP).

Das Ziel dieser martia­li­schen Sprache ist so trans­pa­rent wie genial: Die Initia­tive soll in das klas­si­sche poli­ti­sche Spek­trum für Wirt­schafts­fragen einge­passt werden. Es soll eine Geschichte erzählt werden, wie sie schon zuhauf in den Wirt­schafts­teilen der Zeitungen und im Natio­nalrat wieder­ge­geben wurde: Die Regu­lie­rungswut der Linken gefährde nicht nur den Wirt­schafts­standort, sondern auch den gesamten helve­ti­schen Wohl­stand und beinahe alle Arbeits­plätze. Ob Mindest­lohn, Grüne Wirt­schaft oder 6 Wochen Ferien: Die Drei­fal­tig­keit aus höheren Preisen, Arbeits­plätzen und Löhnen soll in der Schweizer Bevöl­ke­rung eine Ableh­nung triggern.

Nur mag dieses Mal die Geschichte irgendwie nicht recht passen, denn es gibt ein starkes und über­zeu­gendes Gegen­nar­rativ. Anstelle der Geschichte der Schweizer Wirt­schaft in regu­la­to­ri­schen Fesseln wird vermehrt die Geschichte von Konzernen erzählt, die ihren Erfolg zu einem grossen Teil einer syste­ma­ti­schen Verlet­zung von libe­ralen Eigen­tums- und Frei­heits­rechten zu verdanken haben – ohne sich je für ihre Taten verant­worten zu müssen.

Natür­lich diskre­di­tieren die Gegne­rInnen der Initia­tive diese Erzäh­lung, denn: Eigen­ver­ant­wor­tung, unab­ding­bare Frei­heits­rechte und Eigentum sind viel beschwo­rene Grund­pfeiler der Schweiz. Geht es nämlich um Enteig­nungen für Asyl­un­ter­künfte [sic] oder fehlende Eigen­ver­ant­wor­tung im Gesund­heits­sy­stem, dann werden die libe­ralen Frei­heits­prin­zi­pien als Grenze gegen­über dem über­bor­denden Staat ausge­rufen, sozu­sagen als Garant der Frei­heit. Doch in Bezug auf die Wirt­schaft werden die glei­chen Rechte als Bedro­hung hinge­stellt. Die Gegne­rInnen verwenden also eine begriff­liche Mehr­deu­tig­keit im Dienst der abso­luten Wirt­schafts­frei­heit und auf Kosten der Menschenrechte.

Gegen­vor­schlag: Bürger­liche Flucht nach vorne oder gang­barer Kompromiss?

Und doch: Dieses Mal scheint die aufge­zo­gene Angst­ku­lisse ihre Wirkung zu verfehlen. Zumin­dest lässt das die neuste Umfrage vermuten, welche weiterhin eine grosse Zustim­mung für das Vorhaben regi­striert – sogar bei SVP- und FDP-Wähle­rInnen.

Damit der Initia­tive der Wind aus den Segeln genommen werden kann, wird im Parla­ment seit November letzen Jahres an einem indi­rekten Gegen­vor­schlag gear­beitet. Da in verschie­denen wich­tigen Sitz­staaten multi­na­tio­naler Unter­nehmen bereits Anpas­sungen an die UNO-Leit­prin­zi­pien vorge­nommen wurden, sei eine verbind­liche Umset­zung der Richt­li­nien „auch für die Schweiz ein Gebot der Stunde”, heisst es in der entspre­chenden Initia­tive der Stän­de­rats­ko­mis­sion für Rechts­fragen. Trotzdem lehnten acht der zehn Stän­de­rä­tInnen in der Kommis­sion die Konzern­ver­ant­wor­tungs­in­itia­tive ab. Die Begrün­dung: Die Initia­tive ist […] in weiten Teilen vage formu­liert und lässt viel Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum. Zudem geht sie in einigen Punkten zu weit.” Deswegen nun der indi­rekte Gegenvorschlag.

Die natio­nal­rät­liche Schwe­ster-Kommis­sion lehnte den Antrag zuerst ab – aller­dings hat jetzt die Rechts­kom­mis­sion des Natio­nal­rats im Rahmen der Revi­sion des Akti­en­rechts einen eigenen indi­rekten Gegen­vor­schlag ausge­ar­beitet. Mit 123 zu 73 Stimmen wurde er vom Natio­nalrat ange­nommen.

Konkret würden die Regeln nur noch für sehr grosse Unter­nehmen gelten, da der Schwel­len­wert höher ange­setzt würde. Neu würde die Sorg­falts­pflicht nicht mehr für alle Unter­nehmen mit Schweizer Haup­sitz gelten, sondern nur noch für Unter­nehmen mit einer Bilanz­summe von 40 Millionen Franken, einem Umsatz von 80 Millionen Franken oder durch­schnitt­lich 500 Voll­zeit­stellen. Für KMUs in soge­nannten Risi­ko­be­rei­chen, wie etwa den Diamanten- oder Rohstoff­handel, würde die Sorg­falts­pflicht weiterhin gelten. Der Gegen­vor­schlag schränkt aber auch die Haftungs­be­stim­mungen der Initia­tive ein: Nestlé und Co. sollen nicht für Verfeh­lungen von ihren Liefe­ranten haften. Nur bei ganz schweren Verstössen gegen „Leib und Recht oder Eigentum” müssten die Konzerne noch gera­de­stehen, falls die Sorg­falts­pflicht nicht nach­weis­lich befolgt wurde.

Econo­mie­su­isse und Swiss­hol­ding lehnen selbst den indi­rekten Gegen­vor­schlag ab. Die Büro­kratie blähte sich so auf, es würde sich ein Einfallstor für Klagen aus dem Ausland öffnen. Die Wirt­schafts­ver­bände klam­mern sich verzwei­felt an ihre sprach­liche Allzweck­waffe – und zeigen so, dass sie bereit sind, für die totale Wirt­schafts­frei­heit auch das letzte Stück der vermeint­li­chen „huma­ni­tären Tradi­tion” der Schweiz zu opfern.

Die Rechts­kom­mis­sion des Stän­de­rats hat einer Anhö­rung des natio­nal­rät­li­chen Vorschlags aber zuge­stimmt. Der Ball liegt jetzt bei ihr. Kommt der indi­rekte Gegen­vor­schlag unver­än­dert auch durch den Stän­derat, haben die Initi­an­tInnen einen Rückzug der Initia­tive ange­boten. Ein gutschwei­ze­ri­scher Kompro­miss zu einem eigent­lich kompro­miss­losen Anliegen. Es wäre ein Schritt nach vorne. Aber einer mit fahlem Beigeschmack. Denn wie der nächste Artikel von Natalia Widla zeigen wird, ist schon in der ursprüng­li­chen Form der Initia­tive nicht klar, wie viel der Rechts­staat über­haupt gegen noto­risch delin­quente Multis wie Glen­core ausrichten kann.

 


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