Belén* ist 22 Jahre alt, als sie im vergangenen November starke Schmerzen im Bereich der Gebärmutter verspürt. Sie denkt, es sei die einsetzende Menstruation. Nach einem Arztbesuch weiss sie Bescheid: Sie ist in der siebten Woche schwanger. Und das, obwohl sie seit fünf Jahren die Pille nimmt. Zu diesem Zeitpunkt hat Belén Pläne. Sie hat bereits ein Kind und plant, zusammen mit ihrem Freund nach einer abgeschlossenen Ausbildung zur Krankenschwester auszuwandern.
Belén ist eine von mindestens 300 Frauen, die wegen der fehlerhaften Pille Anulette CD der deutschen Grünenthal Gruppe ungewollt schwanger wurden. Die Präparate werden in den chilenischen Produktionsstätten Andrómaco S.A. und Silesia S.A. produziert und kostenlos in öffentlichen Gesundheitszentren verteilt. „Für mich war die Diagnose schrecklich“, sagt Belén. In Chile ist es teuer, Kinder zu haben, und die Pandemie macht alles umso schwieriger.
Familienplanung für die Ärmsten
Seit den 90er-Jahren setzt der chilenische Staat im Rahmen des nationalen Gesundheitsprogramms zur Familienplanung auf Antibabypillen. Diese Möglichkeit wird vor allem von Frauen aus armen Verhältnissen genutzt. So wurden im Jahr 2020 mindestens 276 000 Packungen innerhalb dieses Programms abgegeben. Darunter waren Pillen, die nicht wirkten: „Man hat mir das Recht genommen, frei über meinen Körper zu entscheiden“, sagt Belén.
Ein legaler Schwangerschaftsabbruch ist in Chile nicht möglich. Erst seit 2017 ist es unter gewissen Bedingungen erlaubt, abzutreiben: wenn Lebensgefahr für die Mutter besteht, der Fötus im Bauch der Mutter verstirbt oder bei Vergewaltigung. Belén tauscht sich regelmässig mit den anderen Betroffenen aus: „Darunter hat es viele, sogar Minderjährige, die nicht Mutter sein möchten, aber nicht abtreiben dürfen.“ Sie selbst hat sich mit der Schwangerschaft abgefunden.
Was war passiert?
Der Fall von Belén und Dutzenden weiteren Frauen wäre nicht ohne die Arbeit der feministischen Organisation MILES Chile bekannt geworden. Der Verein wurde Mitte des letzten Jahres aufmerksam, weil auf der Webseite des Instituts für öffentliche Gesundheit gewisse Produktionsreihen der Anulette CD zurückgerufen wurden. Die Rechtsanwältin Laura Dragnic machte sich daraufhin zusammen mit ihren Kolleg:innen auf die Suche nach betroffenen Frauen.
Über Facebook und Instagram konnten sie bislang mehr als 300 Frauen ausfindig machen, die wegen des Produktionsfehlers ungewollt schwanger wurden: junge Mädchen, Studentinnen oder Frauen mit Risikoschwangerschaften. „Es dürften aber deutlich mehr sein“, fügt Dragnic an, „wir können längst nicht alle erreichen und nicht alle haben Zugang zum Internet.“
„Bei den Anulette CD handelt es sich um Antibabypillen, die täglich und über den gesamten Menstruationszyklus eingenommen werden müssen“, erzählt Ana Victoria Nieto, Präsidentin des chilenischen Verbands der Biochemiker:innen und Apotheker:innen, gegenüber Das Lamm. „Die letzten sieben Tage nehmen die Frauen nur Placebos. Genau diese sind bei der Verpackung vermischt worden. Dadurch wurde der gewünschte Effekt nicht erreicht.“
Nachdem einzelne Apotheker:innen im öffentlichen Dienst die Fehler bemerkt und dem Institut für öffentliche Gesundheit (ISP), dem zuständigen Kontrollorgan, gemeldet hatten, verhängte dieses eine Quarantäne über alle Anulette CD im öffentlichen Sektor. Eine Woche später hob das ISP die Massnahme wieder auf und liess nur die beanstandeten Produktionsreihen aus der Zirkulation nehmen. Sie kommunizierten, dass der Produktionsfehler durch das Gesundheitspersonal von aussen sichtbar sei.
Nieto kritisiert diese Entscheidung scharf: „Wir waren durch die Coronapandemie bereits überlastet, es ist unerklärlich, wieso die Verantwortung in die Hände des Personals gegeben wird. Da es sich um einen von der Firma unbemerkten Fehler in der Verpackung handelte, war davon auszugehen, dass auch weitere Produktionsreihen ähnliche Fehler vorwiesen.“
„Unternehmen hätte den Fehler bemerken müssen“
Dabei hätte das Unternehmen selber den Fehler bemerken müssen. „Produktionsprobleme können vorkommen“, sagt Nieto. „Wichtig ist aber, dass die Unternehmen diese bemerken und sicherstellen, dass die Benutzerinnen keine Schäden durch die Einnahme tragen.“ Es hätten Hinweise vom Unternehmen verteilt und die Produkte zurückgerufen werden müssen. Nichts davon wurde gemacht.
Das Unternehmen weist derweil jede Verantwortung von sich. Man habe den Ursprung des Fehlers bemerkt und Massnahmen ergriffen. „Aufgrund der Tatsache, dass zwölf fehlerhafte Packungen festgestellt worden sind, der Mangel durch die transparente Blisterfolie sichtbar war, die Packungen von medizinischem Fachpersonal ausgehändigt werden und orale Kontrazeptiva keinen hundertprozentigen Schutz bieten, erscheint es unwahrscheinlich, dass ungewollte Schwangerschaften auf den Produktionsfehler zurückzuführen sind“, lässt sich der Pressesprecher Florian Dieckmann zitieren.
Im Februar sprach derweil das ISP die mögliche Höchstbusse gegen die Tochterunternehmen von Grünenthal aus. Diese müssen umgerechnet etwa 75 000 Euro an den Fiskus zahlen. Weitere Massnahmen gegen die Unternehmen wurden vom Staat bislang nicht unternommen.
Und die Opfer?
„Die Strafe ist lachhaft und hilft den Opfern nicht weiter“, meint Dragnic. Sie vertritt die ungewollt schwangeren Frauen und plant rechtliche Schritte gegen die Verantwortlichen, um eine Entschädigung zu erstreiten. Für sie haben sowohl der Staat als auch das Unternehmen die Verantwortung gegenüber den Frauen nicht wahrgenommen und deren reproduktive Rechte und körperliche Integrität zutiefst verletzt. MILES Chile hat deswegen auch vor der UNO und der interamerikanischen Menschenrechtskommission (IAKMR) Beschwerde eingelegt, damit der chilenische Staat handelt.
Sie erzählt vom Fall einer Frau, die durch die Schwangerschaft ernsthafte psychische Probleme bekommen hat und suizidgefährdet ist. „Wir versuchen derzeit, rechtlich eine Möglichkeit zu schaffen, diesen Fall als Gefahr für Leib und Leben der Mutter einzuordnen, um einen legalen Schwangerschaftsabbruch zu ermöglichen.“
Für die Frauen sei die Lage brutal. So wie Belén müssen sich die Frauen um ein zusätzliches Kind kümmern, Lebensprojekte abbrechen. Sie leben dabei zum Teil in tiefster Armut. Die Pille hatte als Garantie gegolten, in diesem Moment des Lebens kein Kind zu kriegen. „Für diese menschlichen Schicksale muss sich der Staat und das Unternehmen verantworten“, sagt Dragnic. Damit spricht sie eine angemessene finanzielle Entschädigung an. „Es ist jedoch fast unmöglich, das Ausmass der individuellen Schäden in Geld zu messen“, fügt die Rechtsanwältin an.
Das Schweigen von Grünenthal ist für die Präsidentin des Apotheker:innenverbands ein Affront: „Wieso kann sich ein transnationales Unternehmen nicht um die Opfer eines Produktionsfehlers kümmern?“ Da sich laut Nieto die Zahl in Grenzen halte, würde es kein finanzielles Problem darstellen. Sie fügt an: „Wir Frauen wurden über Jahrhunderte nur als Gebärmaschinen gesehen. Heute müssen wir dafür kämpfen, als Menschen anerkannt zu werden. Dazu gehört auch, dass bei Fehlern – die vorkommen können – das Menschenmögliche gemacht wird, um den Opfern zu helfen.“
Dragnic fügt an: „Transnationale Unternehmen nutzen schwächere Regulierungen in Ländern des globalen Südens, um Produktionskosten zu senken.“ Für sie steht es daher ausser Frage, dass das Unternehmen die tiefen Geldstrafen und die schwache Regulierung genutzt hat, um bei der Qualitätskontrolle ihrer Produkte zu sparen. „Daher brauchen wir eine internationale Gesetzgebung, die es möglich macht, gegen solche Skandale rechtlich vorzugehen.“
Belén richtet ihren Blick nach Deutschland. Für sie ist es unverständlich, dass einem so grossen Unternehmen ein solcher Fehler unterläuft. Wenn ihr Recht nicht in Chile gewährleistet werden kann, sollte „der deutsche Staat Druck ausüben, damit das Unternehmen seine Verantwortung übernimmt und für die Opfer sorgt“, meint sie.
Die Grünenthal Gruppe – kein unbeschriebenes Blatt
Bei der Grünenthal Gruppe handelt es sich keineswegs um ein unbeschriebenes Blatt. Die Firma brachte im Oktober 1957 das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid auf den Markt. Die Firma verkaufte das Medikament ohne ordnungsgemässe Prüfung.
Contergan verursachte weltweit bei über 10 000 Kindern schwere Missbildungen, alleine 5 000 davon in Deutschland. Rund 4 000 verstarben an den Folgen des Medikamentes. Bis heute dauert die Aufarbeitung mit heute etwa noch 2 500 Geschädigten an. Die Betroffenen leben meistens mit verkürzten Gliedmassen.
Erst im Jahr 2012 bat die Firma Grünenthal die Betroffenen um Entschuldigung und gründete die Grünenthal-Stiftung zur Unterstützung von Thalidomidbetroffenen. Die Firma wird noch heute von verschiedenen Stiftungen wie dem Bundesverband Contergangeschädigter e.V. kritisiert, weil sie „ihr eigenes Verschulden an dem Vorfall“ nicht anerkenne.
Ana Nieto, die Präsidentin des Biochemiker:innen- und Apotheker:innenverbands, sieht in beiden Fällen eine Verbindung. Es geht um einen massiven Eingriff in die Integrität von Frauen, „wobei das Unternehmen zuerst die Dimension des Problems ignoriert und kleinredet. Heute wie damals sehen wir, dass das Unternehmen keinen Willen zeigt, sich für die Schäden zu verantworten, obwohl es sich um lebenslange Folgen handelt.“ Das Unternehmen scheint nichts gelernt zu haben.
*Name der Redaktion bekannt.
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