Schwanger trotz Pille: Deut­sches Phar­ma­un­ter­nehmen in Chile angeklagt

Über 300 Frauen wurden in Chile trotz Einnahmen von Anti­ba­by­pillen des deut­schen Phar­ma­riesen Grünen­thal schwanger. Der Hersteller war auch für den Contergan-Skandal in den 60ern verantwortlich. 
Belén (Foto: Malte Seiwerth)

Belén* ist 22 Jahre alt, als sie im vergan­genen November starke Schmerzen im Bereich der Gebär­mutter verspürt. Sie denkt, es sei die einset­zende Menstrua­tion. Nach einem Arzt­be­such weiss sie Bescheid: Sie ist in der siebten Woche schwanger. Und das, obwohl sie seit fünf Jahren die Pille nimmt. Zu diesem Zeit­punkt hat Belén Pläne. Sie hat bereits ein Kind und plant, zusammen mit ihrem Freund nach einer abge­schlos­senen Ausbil­dung zur Kran­ken­schwe­ster auszuwandern.

Belén ist eine von minde­stens 300 Frauen, die wegen der fehler­haften Pille Anulette CD der deut­schen Grünen­thal Gruppe unge­wollt schwanger wurden. Die Präpa­rate werden in den chile­ni­schen Produk­ti­ons­stätten Andró­maco S.A. und Silesia S.A. produ­ziert und kostenlos in öffent­li­chen Gesund­heits­zen­tren verteilt. „Für mich war die Diagnose schreck­lich“, sagt Belén. In Chile ist es teuer, Kinder zu haben, und die Pandemie macht alles umso schwieriger.

Fami­li­en­pla­nung für die Ärmsten

Seit den 90er-Jahren setzt der chile­ni­sche Staat im Rahmen des natio­nalen Gesund­heits­pro­gramms zur Fami­li­en­pla­nung auf Anti­ba­by­pillen. Diese Möglich­keit wird vor allem von Frauen aus armen Verhält­nissen genutzt. So wurden im Jahr 2020 minde­stens 276 000 Packungen inner­halb dieses Programms abge­geben. Darunter waren Pillen, die nicht wirkten: „Man hat mir das Recht genommen, frei über meinen Körper zu entscheiden“, sagt Belén.

Ein legaler Schwan­ger­schafts­ab­bruch ist in Chile nicht möglich. Erst seit 2017 ist es unter gewissen Bedin­gungen erlaubt, abzu­treiben: wenn Lebens­ge­fahr für die Mutter besteht, der Fötus im Bauch der Mutter verstirbt oder bei Verge­wal­ti­gung. Belén tauscht sich regel­mässig mit den anderen Betrof­fenen aus: „Darunter hat es viele, sogar Minder­jäh­rige, die nicht Mutter sein möchten, aber nicht abtreiben dürfen.“ Sie selbst hat sich mit der Schwan­ger­schaft abgefunden.

Was war passiert?

Der Fall von Belén und Dutzenden weiteren Frauen wäre nicht ohne die Arbeit der femi­ni­sti­schen Orga­ni­sa­tion MILES Chile bekannt geworden. Der Verein wurde Mitte des letzten Jahres aufmerksam, weil auf der Webseite des Insti­tuts für öffent­liche Gesund­heit gewisse Produk­ti­ons­reihen der Anulette CD zurück­ge­rufen wurden. Die Rechts­an­wältin Laura Dragnic machte sich daraufhin zusammen mit ihren Kolleg:innen auf die Suche nach betrof­fenen Frauen.

Über Face­book und Insta­gram konnten sie bislang mehr als 300 Frauen ausfindig machen, die wegen des Produk­ti­ons­feh­lers unge­wollt schwanger wurden: junge Mädchen, Studen­tinnen oder Frauen mit Risi­ko­schwan­ger­schaften. „Es dürften aber deut­lich mehr sein“, fügt Dragnic an, „wir können längst nicht alle errei­chen und nicht alle haben Zugang zum Internet.“

Laura Dragnic sammelt die Fälle von unge­wollt schwan­geren Frauen und bereitet Gerichts­pro­zesse vor. Foto: Cate­rina Muñoz Ramírez

„Bei den Anulette CD handelt es sich um Anti­ba­by­pillen, die täglich und über den gesamten Menstrua­ti­ons­zy­klus einge­nommen werden müssen“, erzählt Ana Victoria Nieto, Präsi­dentin des chile­ni­schen Verbands der Biochemiker:innen und Apotheker:innen, gegen­über Das Lamm. „Die letzten sieben Tage nehmen die Frauen nur Placebos. Genau diese sind bei der Verpackung vermischt worden. Dadurch wurde der gewünschte Effekt nicht erreicht.“

Nachdem einzelne Apotheker:innen im öffent­li­chen Dienst die Fehler bemerkt und dem Institut für öffent­liche Gesund­heit (ISP), dem zustän­digen Kontroll­organ, gemeldet hatten, verhängte dieses eine Quaran­täne über alle Anulette CD im öffent­li­chen Sektor. Eine Woche später hob das ISP die Mass­nahme wieder auf und liess nur die bean­stan­deten Produk­ti­ons­reihen aus der Zirku­la­tion nehmen. Sie kommu­ni­zierten, dass der Produk­ti­ons­fehler durch das Gesund­heits­per­sonal von aussen sichtbar sei.

Nieto kriti­siert diese Entschei­dung scharf: „Wir waren durch die Coro­na­pan­demie bereits über­la­stet, es ist uner­klär­lich, wieso die Verant­wor­tung in die Hände des Perso­nals gegeben wird. Da es sich um einen von der Firma unbe­merkten Fehler in der Verpackung handelte, war davon auszu­gehen, dass auch weitere Produk­ti­ons­reihen ähnliche Fehler vorwiesen.“

„Unter­nehmen hätte den Fehler bemerken müssen“

Dabei hätte das Unter­nehmen selber den Fehler bemerken müssen. „Produk­ti­ons­pro­bleme können vorkommen“, sagt Nieto. „Wichtig ist aber, dass die Unter­nehmen diese bemerken und sicher­stellen, dass die Benut­ze­rinnen keine Schäden durch die Einnahme tragen.“ Es hätten Hinweise vom Unter­nehmen verteilt und die Produkte zurück­ge­rufen werden müssen. Nichts davon wurde gemacht.

Das Unter­nehmen weist derweil jede Verant­wor­tung von sich. Man habe den Ursprung des Fehlers bemerkt und Mass­nahmen ergriffen. „Aufgrund der Tatsache, dass zwölf fehler­hafte Packungen fest­ge­stellt worden sind, der Mangel durch die trans­pa­rente Blister­folie sichtbar war, die Packungen von medi­zi­ni­schem Fach­per­sonal ausge­hän­digt werden und orale Kontra­zep­tiva keinen hundert­pro­zen­tigen Schutz bieten, erscheint es unwahr­schein­lich, dass unge­wollte Schwan­ger­schaften auf den Produk­ti­ons­fehler zurück­zu­führen sind“, lässt sich der Pres­se­spre­cher Florian Dieck­mann zitieren.

Im Februar sprach derweil das ISP die mögliche Höchst­busse gegen die Toch­ter­un­ter­nehmen von Grünen­thal aus. Diese müssen umge­rechnet etwa 75 000 Euro an den Fiskus zahlen. Weitere Mass­nahmen gegen die Unter­nehmen wurden vom Staat bislang nicht unternommen.

Und die Opfer?

„Die Strafe ist lach­haft und hilft den Opfern nicht weiter“, meint Dragnic. Sie vertritt die unge­wollt schwan­geren Frauen und plant recht­liche Schritte gegen die Verant­wort­li­chen, um eine Entschä­di­gung zu erstreiten. Für sie haben sowohl der Staat als auch das Unter­nehmen die Verant­wor­tung gegen­über den Frauen nicht wahr­ge­nommen und deren repro­duk­tive Rechte und körper­liche Inte­grität zutiefst verletzt. MILES Chile hat deswegen auch vor der UNO und der inter­ame­ri­ka­ni­schen Menschen­rechts­kom­mis­sion (IAKMR) Beschwerde einge­legt, damit der chile­ni­sche Staat handelt.

 

Belén im Hinterhof des Fami­li­en­hauses der Eltern. Foto: Malte Seiwerth

Sie erzählt vom Fall einer Frau, die durch die Schwan­ger­schaft ernst­hafte psychi­sche Probleme bekommen hat und suizid­ge­fährdet ist. „Wir versu­chen derzeit, recht­lich eine Möglich­keit zu schaffen, diesen Fall als Gefahr für Leib und Leben der Mutter einzu­ordnen, um einen legalen Schwan­ger­schafts­ab­bruch zu ermöglichen.“

Für die Frauen sei die Lage brutal. So wie Belén müssen sich die Frauen um ein zusätz­li­ches Kind kümmern, Lebens­pro­jekte abbre­chen. Sie leben dabei zum Teil in tief­ster Armut. Die Pille hatte als Garantie gegolten, in diesem Moment des Lebens kein Kind zu kriegen. „Für diese mensch­li­chen Schick­sale muss sich der Staat und das Unter­nehmen verant­worten“, sagt Dragnic. Damit spricht sie eine ange­mes­sene finan­zi­elle Entschä­di­gung an. „Es ist jedoch fast unmög­lich, das Ausmass der indi­vi­du­ellen Schäden in Geld zu messen“, fügt die Rechts­an­wältin an.

Das Schweigen von Grünen­thal ist für die Präsi­dentin des Apotheker:innenverbands ein Affront: „Wieso kann sich ein trans­na­tio­nales Unter­nehmen nicht um die Opfer eines Produk­ti­ons­feh­lers kümmern?“ Da sich laut Nieto die Zahl in Grenzen halte, würde es kein finan­zi­elles Problem darstellen. Sie fügt an: „Wir Frauen wurden über Jahr­hun­derte nur als Gebär­ma­schinen gesehen. Heute müssen wir dafür kämpfen, als Menschen aner­kannt zu werden. Dazu gehört auch, dass bei Fehlern – die vorkommen können – das Menschen­mög­liche gemacht wird, um den Opfern zu helfen.“

Dragnic fügt an: „Trans­na­tio­nale Unter­nehmen nutzen schwä­chere Regu­lie­rungen in Ländern des globalen Südens, um Produk­ti­ons­ko­sten zu senken.“ Für sie steht es daher ausser Frage, dass das Unter­nehmen die tiefen Geld­strafen und die schwache Regu­lie­rung genutzt hat, um bei der Quali­täts­kon­trolle ihrer Produkte zu sparen. „Daher brau­chen wir eine inter­na­tio­nale Gesetz­ge­bung, die es möglich macht, gegen solche Skan­dale recht­lich vorzugehen.“

Belén richtet ihren Blick nach Deutsch­land. Für sie ist es unver­ständ­lich, dass einem so grossen Unter­nehmen ein solcher Fehler unter­läuft. Wenn ihr Recht nicht in Chile gewähr­lei­stet werden kann, sollte „der deut­sche Staat Druck ausüben, damit das Unter­nehmen seine Verant­wor­tung über­nimmt und für die Opfer sorgt“, meint sie.

Die Grünen­thal Gruppe – kein unbe­schrie­benes Blatt

Bei der Grünen­thal Gruppe handelt es sich keines­wegs um ein unbe­schrie­benes Blatt. Die Firma brachte im Oktober 1957 das Schlaf- und Beru­hi­gungs­mittel Contergan mit dem Wirk­stoff Thali­domid auf den Markt. Die Firma verkaufte das Medi­ka­ment ohne ordnungs­ge­mässe Prüfung.

Contergan verur­sachte welt­weit bei über 10 000 Kindern schwere Miss­bil­dungen, alleine 5 000 davon in Deutsch­land. Rund 4 000 verstarben an den Folgen des Medi­ka­mentes. Bis heute dauert die Aufar­bei­tung mit heute etwa noch 2 500 Geschä­digten an. Die Betrof­fenen leben meistens mit verkürzten Gliedmassen.

Erst im Jahr 2012 bat die Firma Grünen­thal die Betrof­fenen um Entschul­di­gung und grün­dete die Grünen­thal-Stif­tung zur Unter­stüt­zung von Thali­do­mid­be­trof­fenen. Die Firma wird noch heute von verschie­denen Stif­tungen wie dem Bundes­ver­band Conter­gan­ge­schä­digter e.V. kriti­siert, weil sie „ihr eigenes Verschulden an dem Vorfall“ nicht anerkenne.

Ana Nieto, die Präsi­dentin des Biochemiker:innen- und Apotheker:innenverbands, sieht in beiden Fällen eine Verbin­dung. Es geht um einen massiven Eingriff in die Inte­grität von Frauen, „wobei das Unter­nehmen zuerst die Dimen­sion des Problems igno­riert und klein­redet. Heute wie damals sehen wir, dass das Unter­nehmen keinen Willen zeigt, sich für die Schäden zu verant­worten, obwohl es sich um lebens­lange Folgen handelt.“ Das Unter­nehmen scheint nichts gelernt zu haben.

*Name der Redak­tion bekannt.


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