Vor einer Woche wurde eine Sexarbeiterin im Haus der Lugano Bar an der Zürcher Langstrasse positiv auf Covid-19 getestet. Daraufhin mussten die 50 Frauen, die im Haus wohnen, in Quarantäne. Wenig später stellte sich heraus, dass sich eine zweite Frau infiziert hat. Die Zürcher Stadtpolizei machte zwei Zugriffe: Einmal, um der Betroffenen mitzuteilen, dass sie sich infiziert hat – weil die Frau telefonisch nicht erreicht werden konnte. Und einmal, um die Verordnungen zur Quarantäne für die 50 Bewohnerinnen zu überbringen. Beim ersten Zugriff kam es zu „emotionalen Reaktionen“ der Kolleginnen, zwei Polizist*innen verrutschten beim Einsatz die Schutzmasken. Auch sie mussten in Quarantäne.
Wie geht es den Sexarbeiterinnen auf Zürichs Strassen? Wir haben mit Lelia Hunziker, Geschäftsführerin der FIZ Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration, über Sicherheitsbedürfnisse, das Verhältnis zur Polizei und mögliche Lichtblicke für die Branche gesprochen.
Das Lamm: Lelia Hunziker, wie haben Sie vom Vorfall im Haus an der Langstrasse erfahren?
Lelia Hunziker: Wir von der FIZ haben in der Zeitung darüber gelesen – und waren sofort hellhörig und alarmiert. Was wir lasen, klang für uns danach, dass hinter dem Vorfall Ausbeutungen, schlechte Arbeitsbedingungen und im Extremfall sogar Menschenhandel stehen könnten. Wir haben sofort mit den involvierten Akteuren Kontakt aufgenommen, wir selber machen keine aufsuchende Arbeit.
Welche Organisationen stehen zurzeit mit den Frauen in Kontakt?
Sicher die Isla Victoria, auch weil sie ihre Beratungsstelle in der Nähe dieses Hauses haben. Dann Rahab, das Sozialprojekt der Heilsarmee, und Schwester Ariane. Mit ihr war ich mehrmals in Kontakt wegen des Vorfalls. Sie war auch diejenige, die sich um die Verpflegung der Frauen in Quarantäne gekümmert hat. Die Stadt und ihre Institutionen haben sich eher im Hintergrund gehalten. Es waren alles NGOs, die sofort eingesprungen sind. Diese NGOs haben übrigens bereits vor der Corona-Krise Forderungen gestellt, die sich jetzt nochmals deutlich akzentuieren.
Welche?
Es braucht dringend eigene Zimmer für Frauen, die krank sind. Es braucht entsprechende Prozesse und Abläufe, die klären, wer zuständig ist, wenn ein positiver Fall auftritt, was dann passiert, wo die Person unter gebracht wird, wer den Test bezahlt, wie die Information dann abläuft, wer für die Zeit der Quarantäne zuständig ist und wer die Betroffenen unterstützt. Die Krise hat deutlich gezeigt, dass all das nicht vorhanden ist. Dass in einem beengten, vulnerablen und prekären Setting einmal ein Corona-Fall auftritt, war ja klar. Ob das jetzt in der Sexarbeit ist, in einer Notschlafstelle oder in einer Arbeiter*innenunterkunft, spielt keine Rolle – aber dass eine so grosse Stadt derart unvorbereitet ist, hat uns doch sehr irritiert.
Wie haben Sie die Berichterstattung über den Fall empfunden? Der Blick war beispielsweise mit einer Kamera dabei, als für die Frauen in Quarantäne eingekauft wurde.
Ich nenne das „Elendspornografie“. Geschichten über Sexarbeit verkaufen sich halt einfach, das war schon immer so. Man kann das lesen und währenddessen zuhause auf dem Sofa liegen, eingekuschelt in die Decke aus Bio-Schurwolle, und davon hören, wie dreckig es anderen geht. Aber was ich mich schon gefragt habe: Warum war der Blick vor Ort, als diese Verfügungen überbracht wurden? Warum konnten sie dort filmen?
Wie beurteilen Sie die Art des Zugriffs seitens der Polizei – mit Schutzanzügen und einem eher hohen Personalaufgebot?
Für uns war das irritierend. Vor allem, wenn man analysiert, was genau vorgefallen ist: Eine junge Frau hat nicht auf eine SMS geantwortet, die sie über ihre Infektion in Kenntnis setzte. Wie darauf reagiert wurde, das löst bei mir riesige Fragezeichen aus. Auf mich wirkt es, als seien da viele Vorurteile im Spiel gewesen. Ich verstehe nicht, wieso eine Stadt wie Zürich, die auf Sexarbeit spezialisierte Stellen hat – es gibt eine Abteilung Milieu- und Sexualdelikte bei der Polizei, Flora Dora als aufsuchende Beratungsstelle und spezialisierte Leistungserbringer*innen wie die Isla Victoria oder die FIZ –, nicht beispielsweise einen runden Tisch einberufen und im Vorfeld diskutiert hat, wie man diese Informationen am besten überbringt und welche weiteren Schritte anstehen. Das verstehe ich überhaupt nicht.
Es gab zwei Zugriffe seitens der Polizei: Das Überbringen der Information, dass sich zwei Frauen mit dem Virus infiziert haben, und das Überbringen der Verfügungen, dass alle Frauen im Haus in Quarantäne müssen.
Genau, beide Male kamen sie offenbar mit Schutzanzügen, das erste Mal Schilderungen zufolge mit Hunden. Man könnte wirklich meinen, es handle sich hier um einen Staat, der keine Ahnung hat, wie er angemessen vorgehen könnte. Auch die Kommunikation der Stadt Zürich empfand ich als sehr irritierend, um nicht zu sagen unbedarft. Hier stellt sich für uns die Frage, was genau die Intention hinter diesem „going public“ war.
Wie meinen Sie das genau?
Es wurde sehr offensiv kommuniziert und schon im Vorfeld wurden scheinbar Details über die Aktionen der Polizei bekannt. Diese Art der Kommunikation hat Auswirkungen auf andere Sexarbeitende, das haben wir relativ schnell festgestellt. Uns erreichten plötzlich wieder vermehrt Fragen, ob Schutzkonzepte in dieser Branche überhaupt umsetzbar seien. Uns kam es so vor, als ginge es hier darum, einen Schlag gegen die Branche auszuüben.
Man las, die Frauen hätten „sehr emotional“ auf die Polizist*innen reagiert. Wie erleben Sie das Verhältnis zwischen Sexarbeitenden und der Polizei in Zürich?
Eigentlich gibt es innerhalb der Polizei einen spezialisierten Fachdienst Menschenhandel bei der Abteilung: die MSD (Fachgruppe Milieu- und Sexualdelikte, Anm. d. Red.). Diese Personen haben einen sehr guten Einblick, Zugang und sie geniessen ein gewisses Vertrauen seitens der Frauen. Meines Wissens wurde der Fachdienst Menschenhandel hier gar nicht einbezogen. Warum ist für mich schleierhaft.
Es gäbe also durchaus entsprechende Strukturen und Menschen, die wissen, was einen hinter diesen Türen erwartet, welche Arbeitsbedingungen vorherrschen. Man weiss, dass die gerade in gewissen Häusern sehr schlecht sind. Und dass die Polizei die Sexarbeiterinnen immer wieder mit Fragen zu Arbeitsbewilligungen und Ausländerrecht unter Druck setzt. Dass diese Frauen bei einem so massiven Zugriff aufgebracht reagieren, hätte man voraussehen können. Nochmal: Ein Zugriff auf diese Art, wie er geschehen ist – aufgrund einer nicht beantworteten SMS –, ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar.
Erhalten die Frauen momentan den nötigen Schutz durch die Polizei?
Mich beschäftigt eher ein anderes Thema: Durch die Krise und dadurch, dass es für die Frauen nun noch mehr Auflagen gibt, die sie einhalten müssen, gibt es auch mehr Dinge, die sie falsch machen können – und für die sie sanktioniert werden können. Zum Beispiel Einhalten der Quarantänemassnahmen oder des Schutzkonzepts. Das ist sicher ein Punkt, der die Frauen noch verletzlicher macht und bei dem es einmal mehr nicht um ihre Sicherheit geht. Der Ausdruck „overpoliced and underprotected“ akzentuiert sich hier stark. Gerade jetzt ist das verheerend: Im prekarisierten Bereich der Sexarbeit gibt es weniger Kunden, was dazu führt, dass die Frauen noch mehr auf Arbeit angewiesen sind – und vielleicht eher etwas tun, wozu sie nicht bereit sind oder was sie gar nicht dürfen.
Sexarbeiterinnen erzählten schon vor der Corona-Krise immer wieder davon, dass immer mehr Kunden Sex ohne Kondom wollen. Neu müssen sie eigentlich auch noch eine Maske anziehen, Küssen ist ebenfalls verboten. Wie geht es den Frauen mit den Schutzkonzepten?
Das Konzept ist sicher und gut durchführbar für Frauen, die sich in einer guten und selbstbestimmten Situation befinden. Aber das ist kaum die Situation, die man in der Lugano Bar antrifft. In solch prekären Situationen ist die Umsetzung des Schutzkonzepts sicherlich schwierig; es braucht ja auch immer zwei dazu. Und dadurch, dass momentan ein Überangebot an Sexarbeit besteht, sind die Frauen ausbeutbarer. Aber: Wenn die Arbeitsbedingungen für Sexarbeitende überall so wären, wie sie NGOs seit Jahren fordern, dann wäre auch das Schutzkonzept überall problemlos umsetzbar.
Wo ist das der Fall?
Vor allem in den kleinen Betrieben, in denen sich zwei, drei Frauen zusammen einmieten und arbeiten. Oder auch auf dem Strichplatz in Zürich ist die Situation sicherlich besser. Überall dort, wo die Frauen einfachen Zugang zu Fachstellen oder Kontakt mit anderen Frauen haben und nicht auf sich allein gestellt sind, sondern selbstständig, selbstbestimmt und nicht unter Druck.
Wird die Krise etwas verbessern im Erotikgewerbe?
Für uns hat sich wie gesagt nochmals klar akzentuiert, was es in der Sexarbeit dringend braucht: Die Sittenwidrigkeit muss weg, man muss gute Arbeitsbedingungen schaffen und vor allem das gesellschaftliche Stigma loswerden. So lange es diese Stigmatisierung gibt, gibt es keine sichere Sexarbeit. Das haben wir auch während des Lockdowns gesehen: Es gab durchaus Frauen, die beispielsweise Anspruch auf Sozialhilfe gehabt hätten, sich aber nicht trauten, sie einzufordern. Aber ich denke schon, dass sich momentan Möglichkeiten zur Verbesserung bieten. Als wir das Schutzkonzept eingereicht haben, wurde das vom Bundesrat und der Politik gut aufgenommen. Es kam auch wieder zur Sprache, dass Kriminalisierung und Illegalität dazu führen, dass die Betroffenen nicht erreicht werden. Und wir haben eine grosse Solidarität erfahren, als wir einen Spendenaufruf gemacht haben. Die Glückskette hat fast eine halbe Million Franken für die Nothilfe von Sexarbeitenden gesprochen. Dadurch, dass sehr viele Leute persönlich von dieser Krise betroffen waren und sind, entstand ein neues Gemeinschaftsgefühl.
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