„Wir brauchen neue Wirtschaftsmodelle, damit die Reinigungsarbeit den finanziellen Wert und die gesellschaftliche Anerkennung erhält, die sie verdient“, leitet Jael Bueno, Präsidentin des Vereins „Frauen 50Plus“, diesen besonderen Samstagabend im Zürcher Kreis 5 ein. Es ist der Gründungstag der Plattformkooperative „Autonomía“, der ersten Genossenschaft von Reiniger:innen in Zürich.
Auf ihrer Website schreiben die sieben Gründer:innen: „Autonomía“ ist kein weiteres Reinigungsunternehmen, sondern eine Plattformkooperative: Das ist eine Genossenschaft mit einer eigenen Onlineplattform. „Das Besondere daran ist, dass wir ‚Autonomía‘ gemeinsam besitzen und führen. Unsere Arbeitsbedingungen haben wir uns selbst gegeben und jede weitere Frau, die sich uns anschliesst, kann bei ‚Autonomía‘ mitsprechen“.
Die Gründungsmitglieder von „Autonomía“ identifizieren sich alle als Frauen, daher wird auch in diesem Text mit diesem Wort gearbeitet. Die Frage nach der Inklusion anderer Geschlechter wurde bisher noch nicht diskutiert, erklärt Sabri Schumacher auf Anfrage von das Lamm. Schumacher ist aber der Meinung, dass sowohl der Verein „Frauen 50Plus“ als auch „Autonomía“ ebenfalls offen für non binäre, trans, inter und agender Personen seien.
Kollektive Selbstermächtigung
„Durch den Verein sind wir bereits mit vielen Frauen aus der Reinigung in Kontakt und kennen ihre Probleme“, so Sabri Schumacher, Angestellte des Vereins „Frauen 50Plus“. Gemeinsam mit den Reinigerinnen initiierte der Verein die Gründung von „Autonomía“ und bot fachliche Unterstützung und Begleitung an.
Mit der Unterstützung des Vereins „Frauen 50Plus“ eigneten sich die sieben Gründerinnen von „Autonomía“ in den letzten sechs Monaten fundiertes Wissen in den Bereichen Finanzen, Marketing, Versicherungen, Personalwesen, Qualitätskontrolle und Buchhaltung an. Dadurch konnten alle sieben Frauen die Kompetenzen, die es zur Führung der Genossenschaft braucht, erwerben. In Zukunft wird jede von ihnen in einem Teilbereich der Genossenschaft die Verantwortung übernehmen. So arbeiten sie in Zukunft nicht nur als Reiniger:innen, sondern übernehmen auch Funktionen in der Administration und Organisation des Betriebes.
Das Fundament zur Gründung der Plattformkooperative „Autonomía“ bildet der Verein „Frauen 50Plus“. Bei dem Verein handelt es sich um ein „Befähigungszentrum für Frauen mit Migrationserfahrung“. Der Verein setzt sich dafür ein, dass Frauen dazu befähigt werden, die deutsche Sprache zu erlernen und über ihre Rechte als Arbeiterinnen aufgeklärt werden.
Der Verein „Frauen 50Plus“ wird die Entwicklung von „Autonomía“ weitere drei Jahre begleiten, so Schumacher. „Unser Plan ist es, weitere Reinigungs-Kooperativen an anderen Orten in der Schweiz zu gründen“. Diese sollen alle nach dem Franchisemodell funktionieren. Das heisst, die Reiniger:innen übernehmen gegen eine Lizenz die Marke „Autonomía“. Dafür können sie über die gleichnamige Onlineplattform arbeiten. Wer also in Zukunft über „Autonomía“ bucht, weiss: Hier organisieren sich die Reiniger:innen selbst und der Profit fliesst direkt zu ihnen und nicht in die Chef:innenetage. Denn eine solche Etage gibt es nicht.
Miserable Arbeitsbedingungen sind die Norm
Die Dringlichkeit zur Selbstorganisation ergibt sich durch das hohe Armutsrisiko für Reiniger:innen. Die Absicherung durch Unfall- oder Sozialversicherung sind in der Branche oft mangelhaft oder fehlen komplett. Einsätze auf Abruf und weite Arbeitswege erschweren den Berufsalltag zusätzlich. Der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn von 19.20 Franken wird laut SECO häufig unterschritten.
Wie prekär die Situation vieler Reiniger:innen ist, weiss auch Yajaira Tolosa Aeschbacher, ebenfalls Mitgründer:in von „Autonomía“ und seit 15 Jahren Angestellte in einer Reinigungsfirma in Luzern. Dort werde sie zwar angemessen bezahlt, wisse allerdings von vielen jungen Personen, die erst seit Kurzem in der Schweiz als Reiniger:innen arbeiteten – und dies für einen miserablen Lohn. „Ich kenne Frauen, die nur 17 Franken pro Stunde erhalten“, meint Tolosa Aeschbacher und fügt an: „dabei machen wir alle dieselbe Arbeit“. Aeschbachers grösste Motivation zur Gründung von „Autonomía“ war es daher, schlechter gestellten Reiniger:innen dabei zu helfen, ihre Rechte einzufordern.
„Leider wissen viele Reiniger:innen oft nicht, was ihre Rechte sind“, erklärt Karla Uncacía, das jüngste Gründungsmitglied der Genossenschaft. Genau da möchte „Autonomía“ ansetzen, erklärt die 20-Jährige.
Für Frauen, die noch nicht so gut Deutsch sprechen, sei es speziell schwierig in der Arbeitswelt, meint Caroll Cardenas, eine der Mitgründer:innen von „Autonomía“. „Viele Firmen bezahlen diese vulnerablen Menschen besonders schlecht und versichern sie nicht ausreichend“, so Cardenas. Auch deshalb sei der Erwerb von sprachlichen Kompetenzen fester Bestandteil der Organisation der Reiniger:innen. „Nur wer die Sprache beherrscht, kann sich im Schweizer System zurechtfinden“, sind sich die Gründer:innen Felida Strasser Pérez und Carmen Ulrich einig.
Wer als Reinigungskraft in Privathaushalten tätig ist, gehört zu den am schlechtesten bezahlten Arbeitnehmenden in der Schweiz. Kollektive Arbeitsrechte haben Reinigungskräfte nur, wenn sie bei einem Unternehmen arbeiten, das dem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterstellt ist. Für Reiniger:innen, die direkt bei Privaten angestellt sind, gilt lediglich der Normalarbeitsvertrag, der keine Arbeitsbedingungen, ausser den Mindestlohn, vorschreibt.
Wie hoch das Armutsrisiko ist, wurde durch die Corona-Krise verdeutlicht. Wer bei Privatpersonen angestellt ist, hat keinen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung, wenn die Aufträge pandemiebedingt ausfallen. Auch ein Anrecht auf Arbeitslosengeld fällt weg, solange den Reiniger:innen nicht gekündigt wird. Dies hat zahlreiche Reinigungskräfte während der Pandemie in besonders grosse finanzielle Not gebracht.
Garantierter Bruttolohn von 30 Franken die Stunde
Damit sichergestellt werden kann, dass die Arbeitsbedingungen bei „Autonomía“ besser sind, habe die sieben Gründungsmitglieder konkrete Regeln ausgearbeitet. Dazu gehören unter anderem die Garantie eines Bruttolohns von 30 Franken pro Stunde, Sozialleistungen, Mitspracherecht bei der Arbeitszeitgestaltung, Prävention und Schutz vor sexualisierter Belästigung sowie sprachliche und berufliche Förderung.
Einige Frauen in der Reinigungsbranche hätten allerdings keine Zeit, um sich in einer Genossenschaft zu engagieren, erklären die Gründerinnen. „Manche Kolleg:innen haben zwei Jobs, damit sie über die Runden kommen“, sagt Uncacía. Dazu käme die Arbeit innerhalb der Familie. Deshalb habe „Autonomía“ einen Stundenlohn definiert, der Reinigerinnen, die bisher aus Zeitknappheit durch Unterbezahlung nicht teilhaben konnten, ermöglicht, bei der Genossenschaft mitzumachen.
„Ausserdem wissen viele noch nichts von unserer Genossenschaft“, fügt Aeschbacher an. Autonomía ist die erste ihrer Art in Zürich und lediglich die zweite in der ganzen Schweiz. Die im November 2021 in Basel gegründete Reinigungs-Kooperative „flexifeen“ ist die erste im Land. Die Vision der Gründer:innen ist es, sich mit weiteren Reiniger:innen zusammenzuschliessen. Dadurch könnten die Aufgaben, die in der Genossenschaft anfallen, auf mehr Leute verteilt werden und mehr Arbeiter:innen von den guten Bedingungen profitieren.
Probleme durch Plattformökonomie
Auch die digitale Transformation hat für die meist schlechten Arbeitsverhältnisse in der Reinigungsbranche keine grundlegenden Verbesserungen gebracht, sagt die Geografin Marisol Keller, die sich in ihrer Doktorarbeit mit modernen Plattformökonomien in der Schweiz beschäftigt. „Nicht nur im Bereich von Taxi- und Lieferdiensten nimmt die Arbeit über digitale Plattformen zu, sondern auch immer stärker im Bereich der Hausarbeit, nur ist die hier geleistete Arbeit weniger sichtbar“, erklärt die Doktorandin. Viele Reinigungskräfte arbeiteten heute über Vermittlungsportale wie putzfrau.ch oder helpling. Die bisher schlechten Bedingungen hinsichtlich der Bezahlung, dem Arbeitsweg und ‑zeiten sowie der Absicherung, hätten sich trotz des Versprechens der Plattformen kaum verändert.
Eine zusätzliche Belastung für Reiniger:innen, die über solche Vermittlungsseiten arbeiten, ist die dauernde Verfügbarkeit: „Es kommt vor, dass die Firmen den Arbeiter:innen von morgens bis abends Jobanfragen via Pushnachrichten schicken“, erklärt Keller. Wenn man einen Job nicht annehme, laufe man Gefahr, kein weiteres Angebot zu erhalten. Keller ist überzeugt: „Die Flexibilisierung, die durch die Plattformökonomie verstärkt wurde, hat den Arbeiter:innen nicht wie versprochen mehr Freiheit gebracht“. Vielmehr seien sie gezwungen, ihren Alltag dem Rhythmus der Plattformen anzupassen.
Eine der grössten Ungerechtigkeiten der Plattformökonomie sei der hohe finanzielle Anteil, den die Plattformen von jedem vermittelten Auftrag erhielten, während die Arbeiter:innen mit knapp 20 Franken pro Stunde kaum über die Runden kämen. Gemeinsam für bessere Bedingungen einzustehen sei schwierig, denn Plattformarbeiter:innen, die Privathaushalte reinigen, würden sich im Alltag kaum begegnen und Gewerkschaften sei der Zugang zu Privaträumen verwehrt.
„Viele Plattformen sehen sich ausserdem lediglich in der Rolle der Vermittler:in und nicht als Arbeitgeber:in“, sagt Keller. Somit würden sich Firmen der Verantwortung als Arbeitgeber:innen entziehen. Die Arbeiter:innen seien oft nicht Teil des Informationsaustauschs zwischen Kund:innen und Plattformbetreiber:innen, was die Kund:innen wiederum nicht wüssten. Das führe häufig zu Missverständnissen, was die Reinigungskräfte in schwierige Situationen versetze, erklärt Keller weiter. Ausserdem würden die Plattformarbeiter:innen von der Kundschaft für ihre Arbeit bewertet ohne ihrerseits die Kundschaft bewerten zu können. Gewisse Firmen „verfolgten“ ihre Angestellten sogar über Geotracking – angeblich zur Erfassung der geleisteten Arbeitsstunden.
Mehr Selbstbestimmung und Gemeinschaft durch eigene Plattform
„Wenn Arbeiter:innen im Besitz der Onlineplattform sind, wird diese von der Ausbeutungsquelle zum Instrument der Ermächtigung“, steht in der Einladung zum Gründungsanlass von „Autonomía“. Auch Keller ist sich sicher, dass eine kollektive Plattform der Vereinzelung vieler Arbeiter:innen entgegenwirkt, die Solidarität untereinander stärken wird und Arbeit sichtbar machen kann, die ansonsten versteckt im privaten Raum geleistet wird.
Eine Plattformkooperative in Form einer Genossenschaft hat viele Vorteile, erklären die Gründer:innen von „Autonomía“: Als Mitglieder der Genossenschaft besitzen die Arbeiterinnen die Plattform gemeinsam und sind selbstorganisiert. Gleichzeitig sind sie über die Genossenschaft angestellt, was ihnen rechtliche Vorteile, wie einen Anspruch auf Arbeitslosenversicherung, verschafft. Das wirtschaftliche Risiko tragen alle Mitglieder gemeinsam, ohne dass sie persönlich für das Unternehmen haften. Da der Gewinn nicht an Investor:innen ausgeschüttet, sondern in die Genossenschaft reinvestiert wird, verteilt sich dieser breiter und bleibt in der Gemeinschaft.
Der Zusammenschluss der Reiniger:innen käme schlussendlich auch den Kund:innen zugute, meint Solange Trejo. Auch sie ist eine Mitgründerin von „Autonomía“ und wird zukünftig für Administration und Finanzen zuständig sein: „So können wir gegenseitig die Qualität unserer Arbeit sichern“. Und weil einfache, repetitive Prozessabläufe wie die Vermittlung der Aufträge oder die Lohnabrechnungen durch die Plattformkooperative automatisiert werden, können administrative Kosten eingespart werden. Das senkt die Preise, ohne Reinigungskräfte auszubeuten.
Weil die Onlineplattform „Autonomía“ von den Gründer:innen selbst entwickelt wurde, entspricht sie auch genau den Bedürfnissen der Arbeiter:innen. Nicht zuletzt, weil sie einen einwandfreien Datenschutz garantiert. So kann die Privatsphäre der Nutzer:innen besser geschützt werden.
Kurz: Plattformen wie „Autonomía“ leisten einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung der Wirtschaft, weil durch sie wieder diejenigen über die Arbeitsbedingungen entscheiden können, welche schlussendlich auch davon betroffen sein werden – die Arbeiter:innen.
„Alle Reiniger:innen sind herzlich willkommen, sich ‚Autonomía‘ anzuschliessen“, beenden die sieben Gründerinnen die Ansprache bei der Gründungsfeier. Anschliessend wird getanzt.
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