Das Verkehrsproblem der Stadt Biel hat sich seit dem zweiten Weltkrieg stets verschlimmert. Nur die Rezepte, um ihm Herr zu werden, sind gleich geblieben. Als im Juni 1955 das Gutachten von ETH-Professor Kurt Leibbrand zum Bieler Verkehrsproblem vorliegt, sind die Auswege schon vorgespurt – wortwörtlich als zusätzliche Wege.
Leibbrand lobt in seinem Schreiben die „günstige Lage“ der sich im Bau befindlichen Bernstrasse, die „den Verkehr von Bern nach (…) Neuenburg absaugen“ wird. Und er grübelt, wie man auch eine „zügige Ost-West-Verbindung quer durch die Stadt“ schaffen könnte. Eine nördliche Umfahrung der Altstadt, die in die Hänge des Jurasüdfusses führt, verwirft er, weil steile Auffahrrampen „den Lastwagenverkehr abschrecken.“ Und südlich der Alt- fängt nahtlos die Neustadt an: zu viele Häuser, die einer Autobahn zum Opfer fallen müssten. Eine halbwegs natürliche Schneise durch den Häuserwald gibt es dennoch: die Schüss, die begradigt tal- und damit westwärts fliesst. Genug Platz also, um eine „Express-Strasse“ auf Pfählen über dem Gewässer quer durch die Stadt zu ziehen. Diese „Schüssüberdeckung“ hielt Professor Leibbrand aus städtebaulichen und verkehrstechnischen Gründen „für so eindeutig überlegen, dass von einer genaueren Untersuchung anderer Möglichkeiten abgesehen wurde.“
Glücklicherweise kam die Schüss-Autobahn dann doch nicht. Was aber bis ins nächste Jahrtausend überdauern sollte und die Stadt bis heute gängelt, ist ein Verständnis von Verkehr, wie es Leibbrand, „Europas Verkehrsplaner Nr. 1“, entscheidend mitprägte. „Ohne Verkehr ist das menschliche Leben nicht denkbar“, schrieb dieser, und deshalb gilt es, ihn so ‚ingeniös‘ wie möglich „abzusaugen“ dort, wo er staut, um ihn andernorts in feinen Verästelungen zu entleeren. Wenn Verkehr wie Wasser ist, dann müssen sein „Fluss“ gewährleistet, die „Fassmengen“ der Kanäle ausreichend gross sein und die Versorgung der „Endnutzer“ hinreichend feingliedrig gewährleistet werden. Verkehr, das sei für Wirtschaft, Fortschritt und Wohlstand, was Wasser für das Leben sei.
Das sieht Erich Fehr, der aktuelle SP-Stadtpräsident von Biel, auch 72 Jahre später noch so. Er stützt sich dabei im Bieler Tagblatt auf die „kollektive Einsicht“, „dass eben auch Strassen zu den für die wirtschaftliche Entwicklung unabdingbaren Infrastrukturen gehören.“ Mit ‚Strassen‘ meint er allerdings nicht die bereits bestehenden 138 Kilometer Bieler Strassen, sondern die Stadtautobahn, deren vorletztes Stück, den sogenannten „Ostast“, er am 27. Oktober eingeweiht hat. Das letzte Stück, der umstrittene „Westast“, soll den Verkehr endlich, der Schüss gleich, an der Stadt vorbeischleusen. Zwar nicht mehr über der Schüss, aber eben gleich der Schüss. Fehr versichert: „Verkehr fliesst oftmals wie Wasser.“ Also heisst die zwingende Logik: Vermögen die bestehenden 138 Kilometer Autokanäle den Verkehr nicht mehr zu fassen, müssen halt mehr und vor allem grössere her. Man könne den Autoverkehr nicht, wie seine GegnerInnen meinten, „quasi per Dekret reduzieren“, so Fehr an seiner Eröffnungsrede zum Ostast.
Dass man Autoverkehr nicht per Dekret reduzieren kann, mag stimmen. Aber man kann ihn auch fördern. Nicht per Dekret. Aber per Beton und Asphalt: Beispielsweise mit einer vierspurigen Autobahn mit acht Anschlüssen auf 2.5 Kilometern. Denn Verkehr kann etwas, was Wasser nicht kann: Er kann sich vermehren. Wie Hermann Knoflacher, Professor an der Technischen Universität Wien, in einem Interview mit Gabriela Neuhaus auf westast.ch sagt: „Verkehrsentlastung können Sie nie durch ein zusätzliches Angebot von Fahrbahnen erzielen. Da die bereits vorhandenen Fahrbahnen ja weiterhin bestehen bleiben, bleibt der einzige logische Schluss, dass die Stadt durch Mehrverkehr zusätzlich belastet wird.“ Denn „Menschen reagieren intelligent und eigennützig auf ihre Umwelt: Wenn man ihnen mehr Fahrbahnen anbietet, fahren sie mehr Auto.“ Knoflachers vernichtendes Fazit zum Bieler Westast: „Offensichtlich hat man in diesem Fall auf qualifizierte Fachleute verzichtet, um diese Art von Verkehrsproblemen zu lösen.“ Und Klaus Zweibrücken, Professor an der Fachhochschule Rapperswil, doppelt nach: „Das ist 1960er Jahre – nicht 21. Jahrhundert. Heute versucht man, den Verkehr zu regulieren und nicht, im besiedelten Bereich noch mehr Angebote für den Autoverkehr zu schaffen.“
Das Planungsdesaster
Wie hat es so weit kommen können, dass heute die BielerInnen gegen ein solch missglücktes Projekt kämpfen müssen? Mindestens zwei Gründe lassen sich ausmachen. Erstens möchte die Stadtregierung auf Bundeskosten ihre hauseigenen Verkehrsprobleme lösen. Denn der Bund würde mit knapp zwei Milliarden 85 Prozent der Bausumme für das restliche Stück der Umfahrung beisteuern (und der Kanton die restlichen 15 Prozent übernehmen). Was aber als ‚Umfahrung‘ von Biel gehandelt wird, ist in Wahrheit eine Stadtautobahn. Denn der Transitverkehr beträgt lediglich 18 Prozent; der Rest ist Verkehr nach oder von Biel, sowie innerstädtischer Autoverkehr. Deshalb also die offenen Anschlüsse von der Dimension eines Frachtschiffes mitten im Stadtzentrum, denen die 74 Häuser zum Opfer fallen sollen.
Der zweite und wichtigere Grund für das Debakel ist in der undemokratischen Planung zu verorten. Zwar lud das kantonale Tiefbauamt immer wieder zur ‚Mitsprache‘ in der sogenannten Begleitgruppe ein. „Diese Mitsprache war vor allem eine Information seitens des Kantons. Dazu konnte man Fragen stellen oder Statements abgeben, welche jedoch nie in die Planung einflossen“, wie SP-Stadtrat Alfred Steinmann berichtet. Erst am Schluss hat man den Schleier gelüftet und die Bevölkerung vor vollendete Tatsachen gestellt.
Wobei: Richtig gelüftet hat man den Schleier auch dann nicht. Während der Planauflage, die Betroffenen die Möglichkeit zur Einsprache gibt, wurden Markierungspfosten hinter Gebäuden und in Privatgärten versteckt, wie Steinmann mit dem Verein „Gruppe S“ in detektivischer Feinarbeit recherchiert hat. Ausserdem wurden diese Markierungen während der Planauflage laufend verändert, sodass unklar war, welche nun verbindlich sind. Auf Photoshop-Modellen des Tiefbauamts wurden zudem FussgängerInnen auf Autobahnkreisel (!) gepflanzt und Häuser stehengelassen, die gemäss den Plänen abgerissen werden. Damit die Autoschluchten in der Stadt etwas menschenfreundlicher aussehen.
Den eindrücklichsten Beweis für das demokratische Totalversagen der Planungsbehörden liefert aber der Widerstand aus breiten Teilen der Bevölkerung selbst. An der ersten Demonstration im Mai dieses Jahres erwarteten die OrganisatorInnen fünfzig bis dreihundert FahrradfahrerInnen – es kamen 1’200. Vier Monate später waren es knapp 4‘000 DemonstrantInnen, und am 27. Oktober überreichte der Verein „Biel notre Amour“ dem UVEK über 10‘000 Unterschriften, mit denen die BielerInnen gegen die geplante Verschandelung ihrer Stadt protestieren. „Das sind nicht alles Öko-Freaks“, wie Sabine Reber, eine der treibenden Kräfte hinter dem Verein „Biel notre Amour“, versichert. Der Widerstand sei mittlerweile breit abgestützt: „Ganze Arztpraxen und Anwaltskanzleien haben uns Unterschriftenbögen zugeschickt.“
Wenn AutobahngegnerInnen Autobahnen bauen (müssen)
Eben weil der Widerstand breit abgestützt ist, muss man zu Kompromissen bereit sein. Das Komitee „Westast so nicht!“ hat am 7. November unter immensem Aufwand selbst ein Alternativprojekt vorgeschlagen. Ein Autobahnprojekt von AutobahngegnerInnen? Ja, das gibt es. „Grundsätzlich ist der Westast falsch. Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten“, so leitet der Text ins Alternativprojekt ein. Aber man anerkenne den demokratischen Beschluss, das Autobahnnetz fertigzustellen.
Deshalb schlägt das Komitee einen politischen Kompromiss vor: eine stadtverträgliche Alternative, die halb so viel kostet, halb so lange dauert und vor allem weder Bäume noch Häuser zerstört; die aber dennoch verkehrliche Entlastungen bringen soll – so gut das zusätzliche Strassen halt können. Anstatt die Strasse im offenen Tagbau auf vier Spuren durch die Stadt zu reissen, soll eine zweispurige Röhre vom bestehenden Ostast-Ausgang direkt nach Vingelz am Bielersee führen. Und oberirdisch soll ein Boulevard mit fünf Kreiseln auf 2.5 Kilometern den innerstädtischen Verkehr gleichmässig verteilen und zugleich als Autobahnzubringer fungieren.
Die ersten Reaktionen von den WestastbefürworterInnen auf den Alternativvorschlag waren abweisend. Das Komitee „Pro-Westast“ beschied dem Bund: „Die vorgeschlagene Alternative bietet keinen gangbaren Weg, die Verkehrsprobleme unserer Region zu lösen.“ Und das kantonale Tiefbauamt schwieg, liess auf seiner Website aber verlauten, dass die zweispurige Linienführung von der regionalen Arbeitsgruppe des ehemaligen Stadtpräsidenten Hans Stöckli bereits 2010 verworfen worden sei. Und der aktuelle Stadtpräsident beschied dem Bund defensiv: „Wenn eine Alternative die gleichen verkehrlichen Vorteile bringt, sollte sie genauer angeschaut werden.“
Doch in diesen Tagen scheint sich das Blatt zu wenden. Letzten Donnerstag ist im Bieler Stadtparlament eine dringliche Motion von den AutobahnbefürworterInnen (!) eingereicht worden, das Alternativprojekt „Westast so besser!“ umgehend gründlich zu prüfen. Auch auf kantonaler Ebene wurde von AutobahnbefürworterInnen ein Vorstoss angekündigt im Grossen Rat, der seit dem 20. November tagt.
Das deutet darauf hin, dass der massive öffentliche Widerstand gegen die Autobahn nun auch von der gegnerischen Seite erkannt worden ist. Lieber eine Autobahn als am Ende gar keine, werden sie sich denken. „Bisher lautete es vonseiten der AutobahnbefürworterInnen immer: Die Autobahnanschlüsse in der Stadt, ja das gesamte Westast-Projekt, seien nicht verhandelbar“, sagt Urs Scheuss, Präsident der Grünen Biel. Was so lange (und teuer) geplant wurde, müsse jetzt einfach gebaut werden. „Dass die AutobahnbefürworterInnen nun die zuständigen Behörden verbindlich auffordern, die Alternative zu prüfen, sogar auf ihre technische und bauliche Machbarkeit hin, das ist eine entscheidende Zäsur.”
Wird der Autobahndämon Leibbrand nun endlich ausgetrieben?
Noch ist im Bollwerk der AutobahnbefürworterInnen erst ein Riss erkennbar. Deshalb muss der Druck weiter gesteigert werden. Die Zeichen dafür stehen jedoch gut. Mittlerweile zählt der Verein „Westast so nicht!“ knapp zweitausend Mitglieder. Und in einer Online-Umfrage des Bieler Tagblatts mit gut tausend TeilnehmerInnen gewann das Alternativprojekt „Westast so besser!“ 74% der Stimmen; das offizielle Projekt konnte lediglich 19% Zustimmung gewinnen, und 7% konnten mit keinem der beiden Projekte etwas anfangen. Zwar hat die Juso bemängelt, das Alternativprojekt verharre in alten Denkmustern, weil auch es für mehr Verkehrsaufkommen sorgen werde. Und zudem kursieren weitere Alternativen, die ebenfalls angehört werden wollen. Das Projekt „Westast so besser!“ könnte sich aber bald als einzige realpolitische Alternative aufdrängen. „Die Weichen werden umgestellt. Die Richtung zeichnet sich nun immer klarer ab“, erklärt Scheuss.
Es könnte also plötzlich eine ziemlich klare Sache werden. Zumindest, was die Autobahn selbst betrifft. Die städtebaulichen Begleitmassnahmen aber, die vom „Westast so nicht!“-Komitee unverbindlich vorgeschlagen werden, bleiben lokalpolitisch wohl weiterhin umstritten, so Scheuss. Besonders schön unter diesen: der Vorschlag, die Kanalgasse am Südfuss der Altstadt aufzureissen, um die verschollene Schüss wieder ans Tageslicht zu holen. Einen Ast der Schüss von einer Strasse zu befreien, statt einen weiteren ihrer Äste mit einer „Express-Strasse“ auf Pfählen zu verbauen: Damit könnten die BielerInnen ihren Autobahndämon Leibbrand aus dem letzten Jahrtausend endgültig verscheuchen. Und der schönen Bieler Altstadt ihr hübsches Ufer zurückgeben, das sie einst hatte.
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