Biel kämpft gegen einen Auto­bahn­di­no­sau­rier – und könnte siegen

Was andern­orts längst ausge­storben ist, lässt derzeit Biel erzit­tern: Eine Auto­bahn direkt durchs Herz der Stadt. 74 Häuser sollen der Abriss­birne zum Opfer fallen. Wie es so weit hat kommen können — und warum es nicht so kommen wird. 

Das Verkehrs­pro­blem der Stadt Biel hat sich seit dem zweiten Welt­krieg stets verschlim­mert. Nur die Rezepte, um ihm Herr zu werden, sind gleich geblieben. Als im Juni 1955 das Gutachten von ETH-Professor Kurt Leib­brand zum Bieler Verkehrs­pro­blem vorliegt, sind die Auswege schon vorge­spurt – wort­wört­lich als zusätz­liche Wege.

Leib­brand lobt in seinem Schreiben die „günstige Lage“ der sich im Bau befind­li­chen Bern­strasse, die „den Verkehr von Bern nach (…) Neuen­burg absaugen“ wird. Und er grübelt, wie man auch eine „zügige Ost-West-Verbin­dung quer durch die Stadt“ schaffen könnte. Eine nörd­liche Umfah­rung der Altstadt, die in die Hänge des Jura­süd­fusses führt, verwirft er, weil steile Auffahr­rampen „den Last­wa­gen­ver­kehr abschrecken.“ Und südlich der Alt- fängt nahtlos die Neustadt an: zu viele Häuser, die einer Auto­bahn zum Opfer fallen müssten. Eine halb­wegs natür­liche Schneise durch den Häuser­wald gibt es dennoch: die Schüss, die begra­digt tal- und damit west­wärts fliesst. Genug Platz also, um eine „Express-Strasse“ auf Pfählen über dem Gewässer quer durch die Stadt zu ziehen. Diese „Schüss­über­deckung“ hielt Professor Leib­brand aus städ­te­bau­li­chen und verkehrs­tech­ni­schen Gründen „für so eindeutig über­legen, dass von einer genaueren Unter­su­chung anderer Möglich­keiten abge­sehen wurde.“

Glück­li­cher­weise kam die Schüss-Auto­bahn dann doch nicht. Was aber bis ins nächste Jahr­tau­send über­dauern sollte und die Stadt bis heute gängelt, ist ein Verständnis von Verkehr, wie es Leib­brand, „Europas Verkehrs­planer Nr. 1“, entschei­dend mitprägte. „Ohne Verkehr ist das mensch­liche Leben nicht denkbar“, schrieb dieser, und deshalb gilt es, ihn so ‚inge­niös‘ wie möglich „abzu­saugen“ dort, wo er staut, um ihn andern­orts in feinen Veräste­lungen zu entleeren. Wenn Verkehr wie Wasser ist, dann müssen sein „Fluss“ gewähr­lei­stet, die „Fass­mengen“ der Kanäle ausrei­chend gross sein und die Versor­gung der „Endnutzer“ hinrei­chend fein­gliedrig gewähr­lei­stet werden. Verkehr, das sei für Wirt­schaft, Fort­schritt und Wohl­stand, was Wasser für das Leben sei.

Das sieht Erich Fehr, der aktu­elle SP-Stadt­prä­si­dent von Biel, auch 72 Jahre später noch so. Er stützt sich dabei im Bieler Tagblatt auf die „kollek­tive Einsicht“, „dass eben auch Strassen zu den für die wirt­schaft­liche Entwick­lung unab­ding­baren Infra­struk­turen gehören.“ Mit ‚Strassen‘ meint er aller­dings nicht die bereits bestehenden 138 Kilo­meter Bieler Strassen, sondern die Stadt­au­to­bahn, deren vorletztes Stück, den soge­nannten „Ostast“, er am 27. Oktober einge­weiht hat. Das letzte Stück, der umstrit­tene „Westast“, soll den Verkehr endlich, der Schüss gleich, an der Stadt vorbei­schleusen. Zwar nicht mehr über der Schüss, aber eben gleich der Schüss. Fehr versi­chert: „Verkehr fliesst oftmals wie Wasser.“ Also heisst die zwin­gende Logik: Vermögen die bestehenden 138 Kilo­meter Auto­ka­näle den Verkehr nicht mehr zu fassen, müssen halt mehr und vor allem grös­sere her. Man könne den Auto­ver­kehr nicht, wie seine Gegne­rInnen meinten, „quasi per Dekret redu­zieren“, so Fehr an seiner Eröff­nungs­rede zum Ostast.

Dass man Auto­ver­kehr nicht per Dekret redu­zieren kann, mag stimmen. Aber man kann ihn auch fördern. Nicht per Dekret. Aber per Beton und Asphalt: Beispiels­weise mit einer vier­spu­rigen Auto­bahn mit acht Anschlüssen auf 2.5 Kilo­me­tern. Denn Verkehr kann etwas, was Wasser nicht kann: Er kann sich vermehren. Wie Hermann Knofla­cher, Professor an der Tech­ni­schen Univer­sität Wien, in einem Inter­view mit Gabriela Neuhaus auf westast.ch sagt: „Verkehrs­ent­la­stung können Sie nie durch ein zusätz­li­ches Angebot von Fahr­bahnen erzielen. Da die bereits vorhan­denen Fahr­bahnen ja weiterhin bestehen bleiben, bleibt der einzige logi­sche Schluss, dass die Stadt durch Mehr­ver­kehr zusätz­lich bela­stet wird.“ Denn „Menschen reagieren intel­li­gent und eigen­nützig auf ihre Umwelt: Wenn man ihnen mehr Fahr­bahnen anbietet, fahren sie mehr Auto.“ Knofla­chers vernich­tendes Fazit zum Bieler Westast: „Offen­sicht­lich hat man in diesem Fall auf quali­fi­zierte Fach­leute verzichtet, um diese Art von Verkehrs­pro­blemen zu lösen.“ Und Klaus Zwei­brücken, Professor an der Fach­hoch­schule Rapperswil, doppelt nach: „Das ist 1960er Jahre – nicht 21. Jahr­hun­dert. Heute versucht man, den Verkehr zu regu­lieren und nicht, im besie­delten Bereich noch mehr Ange­bote für den Auto­ver­kehr zu schaffen.“

Das Planungs­de­sa­ster

Wie hat es so weit kommen können, dass heute die Biele­rInnen gegen ein solch miss­glücktes Projekt kämpfen müssen? Minde­stens zwei Gründe lassen sich ausma­chen. Erstens möchte die Stadt­re­gie­rung auf Bundes­ko­sten ihre haus­ei­genen Verkehrs­pro­bleme lösen. Denn der Bund würde mit knapp zwei Milli­arden 85 Prozent der Bausumme für das rest­liche Stück der Umfah­rung beisteuern (und der Kanton die rest­li­chen 15 Prozent über­nehmen). Was aber als ‚Umfah­rung‘ von Biel gehan­delt wird, ist in Wahr­heit eine Stadt­au­to­bahn. Denn der Tran­sit­ver­kehr beträgt ledig­lich 18 Prozent; der Rest ist Verkehr nach oder von Biel, sowie inner­städ­ti­scher Auto­ver­kehr. Deshalb also die offenen Anschlüsse von der Dimen­sion eines Fracht­schiffes mitten im Stadt­zen­trum, denen die 74 Häuser zum Opfer fallen sollen.

Der zweite und wich­ti­gere Grund für das Debakel ist in der unde­mo­kra­ti­schen Planung zu verorten. Zwar lud das kanto­nale Tief­bauamt immer wieder zur ‚Mitsprache‘ in der soge­nannten Begleit­gruppe ein. „Diese Mitsprache war vor allem eine Infor­ma­tion seitens des Kantons. Dazu konnte man Fragen stellen oder State­ments abgeben, welche jedoch nie in die Planung einflossen“, wie SP-Stadtrat Alfred Stein­mann berichtet. Erst am Schluss hat man den Schleier gelüftet und die Bevöl­ke­rung vor voll­endete Tatsa­chen gestellt.

Wobei: Richtig gelüftet hat man den Schleier auch dann nicht. Während der Plan­auf­lage, die Betrof­fenen die Möglich­keit zur Einsprache gibt, wurden Markie­rungs­pfo­sten hinter Gebäuden und in Privat­gärten versteckt, wie Stein­mann mit dem Verein „Gruppe S“ in detek­ti­vi­scher Fein­ar­beit recher­chiert hat. Ausserdem wurden diese Markie­rungen während der Plan­auf­lage laufend verän­dert, sodass unklar war, welche nun verbind­lich sind. Auf Photo­shop-Modellen des Tief­bau­amts wurden zudem Fuss­gän­ge­rInnen auf Auto­bahn­kreisel (!) gepflanzt und Häuser stehen­ge­lassen, die gemäss den Plänen abge­rissen werden. Damit die Auto­schluchten in der Stadt etwas menschen­freund­li­cher aussehen.

Den eindrück­lich­sten Beweis für das demo­kra­ti­sche Total­ver­sagen der Planungs­be­hörden liefert aber der Wider­stand aus breiten Teilen der Bevöl­ke­rung selbst. An der ersten Demon­stra­tion im Mai dieses Jahres erwar­teten die Orga­ni­sa­to­rInnen fünfzig bis drei­hun­dert Fahr­rad­fah­re­rInnen – es kamen 1’200. Vier Monate später waren es knapp 4‘000 Demon­stran­tInnen, und am 27. Oktober über­reichte der Verein „Biel notre Amour“ dem UVEK über 10‘000 Unter­schriften, mit denen die Biele­rInnen gegen die geplante Verschan­de­lung ihrer Stadt prote­stieren. „Das sind nicht alles Öko-Freaks“, wie Sabine Reber, eine der trei­benden Kräfte hinter dem Verein „Biel notre Amour“, versi­chert. Der Wider­stand sei mitt­ler­weile breit abge­stützt: „Ganze Arzt­praxen und Anwalts­kanz­leien haben uns Unter­schrif­ten­bögen zugeschickt.“

Wenn Auto­bahn­geg­ne­rInnen Auto­bahnen bauen (müssen)

Eben weil der Wider­stand breit abge­stützt ist, muss man zu Kompro­missen bereit sein. Das Komitee „Westast so nicht!“ hat am 7. November unter immensem Aufwand selbst ein Alter­na­tiv­pro­jekt vorge­schlagen. Ein Auto­bahn­pro­jekt von Auto­bahn­geg­ne­rInnen? Ja, das gibt es. „Grund­sätz­lich ist der Westast falsch. Wer Strassen sät, wird Verkehr ernten“, so leitet der Text ins Alter­na­tiv­pro­jekt ein. Aber man aner­kenne den demo­kra­ti­schen Beschluss, das Auto­bahn­netz fertigzustellen.

Deshalb schlägt das Komitee einen poli­ti­schen Kompro­miss vor: eine stadt­ver­träg­liche Alter­na­tive, die halb so viel kostet, halb so lange dauert und vor allem weder Bäume noch Häuser zerstört; die aber dennoch verkehr­liche Entla­stungen bringen soll – so gut das zusätz­liche Strassen halt können. Anstatt die Strasse im offenen Tagbau auf vier Spuren durch die Stadt zu reissen, soll eine zwei­spu­rige Röhre vom bestehenden Ostast-Ausgang direkt nach Vingelz am Bielersee führen. Und ober­ir­disch soll ein Boule­vard mit fünf Krei­seln auf 2.5 Kilo­me­tern den inner­städ­ti­schen Verkehr gleich­mässig verteilen und zugleich als Auto­bahn­zu­bringer fungieren.

Die ersten Reak­tionen von den West­ast­be­für­wor­te­rInnen auf den Alter­na­tiv­vor­schlag waren abwei­send. Das Komitee „Pro-Westast“ beschied dem Bund: „Die vorge­schla­gene Alter­na­tive bietet keinen gang­baren Weg, die Verkehrs­pro­bleme unserer Region zu lösen.“ Und das kanto­nale Tief­bauamt schwieg, liess auf seiner Website aber verlauten, dass die zwei­spu­rige Lini­en­füh­rung von der regio­nalen Arbeits­gruppe des ehema­ligen Stadt­prä­si­denten Hans Stöckli bereits 2010 verworfen worden sei. Und der aktu­elle Stadt­prä­si­dent beschied dem Bund defensiv: „Wenn eine Alter­na­tive die glei­chen verkehr­li­chen Vorteile bringt, sollte sie genauer ange­schaut werden.“

Doch in diesen Tagen scheint sich das Blatt zu wenden. Letzten Donnerstag ist im Bieler Stadt­par­la­ment eine dring­liche Motion von den Auto­bahn­be­für­wor­te­rInnen (!) einge­reicht worden, das Alter­na­tiv­pro­jekt „Westast so besser!“ umge­hend gründ­lich zu prüfen. Auch auf kanto­naler Ebene wurde von Auto­bahn­be­für­wor­te­rInnen ein Vorstoss ange­kün­digt im Grossen Rat, der seit dem 20. November tagt.

Das deutet darauf hin, dass der massive öffent­liche Wider­stand gegen die Auto­bahn nun auch von der gegne­ri­schen Seite erkannt worden ist. Lieber eine Auto­bahn als am Ende gar keine, werden sie sich denken. „Bisher lautete es vonseiten der Auto­bahn­be­für­wor­te­rInnen immer: Die Auto­bahn­an­schlüsse in der Stadt, ja das gesamte Westast-Projekt, seien nicht verhan­delbar“, sagt Urs Scheuss, Präsi­dent der Grünen Biel. Was so lange (und teuer) geplant wurde, müsse jetzt einfach gebaut werden. „Dass die Auto­bahn­be­für­wor­te­rInnen nun die zustän­digen Behörden verbind­lich auffor­dern, die Alter­na­tive zu prüfen, sogar auf ihre tech­ni­sche und bauliche Mach­bar­keit hin, das ist eine entschei­dende Zäsur.”

Wird der Auto­bahn­dämon Leib­brand nun endlich ausgetrieben?

Noch ist im Boll­werk der Auto­bahn­be­für­wor­te­rInnen erst ein Riss erkennbar. Deshalb muss der Druck weiter gestei­gert werden. Die Zeichen dafür stehen jedoch gut. Mitt­ler­weile zählt der Verein „Westast so nicht!“ knapp zwei­tau­send Mitglieder. Und in einer Online-Umfrage des Bieler Tagblatts mit gut tausend Teil­neh­me­rInnen gewann das Alter­na­tiv­pro­jekt „Westast so besser!“ 74% der Stimmen; das offi­zi­elle Projekt konnte ledig­lich 19% Zustim­mung gewinnen, und 7% konnten mit keinem der beiden Projekte etwas anfangen. Zwar hat die Juso bemän­gelt, das Alter­na­tiv­pro­jekt verharre in alten Denk­mu­stern, weil auch es für mehr Verkehrs­auf­kommen sorgen werde. Und zudem kursieren weitere Alter­na­tiven, die eben­falls ange­hört werden wollen. Das Projekt „Westast so besser!“ könnte sich aber bald als einzige real­po­li­ti­sche Alter­na­tive aufdrängen. „Die Weichen werden umge­stellt. Die Rich­tung zeichnet sich nun immer klarer ab“, erklärt Scheuss.

Es könnte also plötz­lich eine ziem­lich klare Sache werden. Zumin­dest, was die Auto­bahn selbst betrifft. Die städ­te­bau­li­chen Begleit­mass­nahmen aber, die vom „Westast so nicht!“-Komitee unver­bind­lich vorge­schlagen werden, bleiben lokal­po­li­tisch wohl weiterhin umstritten, so Scheuss. Beson­ders schön unter diesen: der Vorschlag, die Kanal­gasse am Südfuss der Altstadt aufzu­reissen, um die verschol­lene Schüss wieder ans Tages­licht zu holen. Einen Ast der Schüss von einer Strasse zu befreien, statt einen weiteren ihrer Äste mit einer „Express-Strasse“ auf Pfählen zu verbauen: Damit könnten die Biele­rInnen ihren Auto­bahn­dämon Leib­brand aus dem letzten Jahr­tau­send endgültig verscheu­chen. Und der schönen Bieler Altstadt ihr hübsches Ufer zurück­geben, das sie einst hatte.


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