Bins­wanger und die Frau­en­demo: Oppor­tu­nismus über Solidarität

Während einer Epidemie werden diskri­mi­nie­rende Struk­turen beson­ders deut­lich – auch solche, die Frauen benach­tei­ligen. Sich dagegen zu wehren, ist neuer­dings aber «revo­lu­tionär dumm». 
Die Überlegung, dass sich die Frauen*demo (oder wie auf dem Bild die Platzbesetzung am Bellevue einen Tag später) in Zeiten des Coronavirus anders legitimieren muss als auch schon, ist per se nicht falsch. Menschen und deren Anliegen als "dumm" zu bezeichnen und zu infantiliseren, ist aber schlicht unsolidarisch. (Foto: ajour magazin)

Wir schreiben das Jahr 2020 nach Chri­stus: Zwei­ein­halb Jahre nach dem Start von #MeToo wurde Harvey Wein­stein in fast allen Ankla­ge­punkten schuldig gespro­chen. Autor*innen des Rowolth-Verlags prote­stieren in einem offenen Brief gegen die Veröf­fent­li­chung der deutsch­spra­chigen Über­set­zung von Woody Allens Biografie, weil gegen ihn seit Jahr­zehnten schwere Miss­brauchs­vor­würfe im Raum stehen und die Fakten der Biografie angeb­lich nicht geprüft wurden, wie es in den USA eigent­lich üblich ist. Im Juni 2019 zogen schweiz­weit hundert­tau­sende FLINT (Frauen, Lesben, Inter, Non-Binär, Trans) durch die Strassen, um gegen Unge­rech­tig­keit zu demon­strieren, die Journalist*innen waren dieses Mal geson­dert mittels Medi­en­frau­en­streik vertreten. Sexi­sti­sche Bericht­erstat­tung wird immer schärfer beachtet; langsam sind sogar posi­tive Verän­de­rungen zu beob­achten. Man könnte also meinen, 2020 ist das Leben für viele wieder femi­ni­sti­scher als auch schon.

Das trifft aber natür­lich lange nicht auf alle zu: Jedem femi­ni­sti­schen Vorpre­schen sein reak­tio­närer Back­lash, jeder Errun­gen­schaft auf Druck der Strasse und der Zivil­ge­sell­schaft ihre bürger­liche Schlag­seite. Und so scheint es seit ein paar Jahren unter gewissen Journalist*innen zum guten Ton zu gehören, gegen femi­ni­sti­sche Bestre­bungen anzu­schreiben und sich somit – absicht­lich oder nicht – gerade bei den Männern und den Vertreter*innen der alten Werte anzu­bie­dern, ja aus der eigenen unso­li­da­ri­schen Haltung gegen­über dem Gleich­stel­lungs­kampf Profit zu schlagen.

Ein guter Aufhänger hierfür bot sich letzte Woche: Im Rahmen der aktu­ellen Corona-Panik stand die seit den 80er Jahren verläss­lich jähr­lich statt­fin­dende, vom Frau­en­bündnis Zürich orga­ni­sierte Demon­stra­tion zum Frauen*kampftag zumin­dest gemäss der öffent­li­chen Wahr­neh­mung kurz auf der Kippe. Öffent­liche Veran­stal­tungen ab 1’000 Personen sind momentan in der Schweiz verboten und die Demon­stra­tion, welche in ihrer fast dreis­sig­jäh­rigen Geschichte noch nie eine Bewil­li­gung ersucht hatte, war somit quasi doppelt „illegal“.

Die Demo fand schliess­lich trotzdem statt. Das Bündnis rief im Vorfeld aktiv dazu auf und bezog sich in der Mobi­li­sie­rung auch auf die Corona-Panik – nicht nur sati­risch und erst recht nicht platt oder trotzig, sondern argu­men­tativ sattel­fest und aus anti­ka­pi­ta­li­sti­scher Perspek­tive ziem­lich solide.

Grund genug für die Tages-Anzeiger-Jour­na­li­stin Michèle Bins­wanger, diesen Frauen vorzu­werfen, sie seien unso­li­da­risch – gar „revo­lu­tionär dumm“. In ihrer Kolumne macht Bins­wanger keinen Hehl daraus, auf welcher Seite sie steht: ganz sicher nicht auf derje­nigen der Demon­strie­renden. Es ginge nicht darum, sich selber nicht mit dem Virus anzu­stecken, sondern auch niemand anders anzu­stecken. Das stimmt. Und das ist auch schon alles, was man Bins­wanger zugu­te­halten kann. Auf eine solch „trot­zige Art“ auf die Demo zu bestehen, sei irra­tional, und das sollten auch diese Revo­lu­tio­nä­rinnen einsehen, schreibt sie. Und es seien ja vor allem jüngere Akti­vi­stinnen, die diesen revo­lu­tio­nären Gestus an den Tag legen, die wüssten wohl einfach noch zu wenig über Revo­lu­tion, schreibt Bins­wanger weiter und infan­ti­li­siert damit ein ganzes, in Ausrich­tung, Alter, Herkunft und Posi­tion doch recht hete­ro­genes Bündnis.

Es sind Sätze, die so auch aus der Feder eines Welt­woche-Jour­na­li­sten stammen könnten und die bei Bins­wanger vor allem dann zum Zug kommen, wenn es um Femi­nismus geht. Es ist oppor­tu­ni­sti­scher, bevor­mun­dender Jour­na­lismus, der die Meinung einer privi­le­gierten Person als hege­mo­nial zemen­tieren will, dabei sämt­liche struk­tu­rellen Faktoren ausblendet und grosses Unwissen offen­bart. Es ist ein Blick von so weit aussen, dass es rein hand­werk­lich bereits etwas frag­würdig erscheint, was Frau Bins­wanger hier zu Papier brachte. Auch wenn ihre Argu­men­ta­tion stimmen würde und nicht nur Ausdruck eines oppor­tunen Gedan­kens wäre, ist die Art und Weise, wie Bins­wanger in ihrem Text auf die Orga­ni­sa­to­rinnen eindrescht, schlichtweg unso­li­da­risch – und somit auch für die eigent­liche Kern­aus­sage der Kolumne entblössend.

Wie oppor­tu­ni­stisch die Corona-Keule im genannten Beispiel ist, lässt sich im Fall Bins­wanger einfach herleiten. Auffal­lend an Bins­wan­gers Bericht­erstat­tung ist, dass sie gene­rell mit Vorliebe gegen Frauen anschreibt, die sich auch öffent­lich gegen Unge­rech­tig­keit einsetzen – in den letzten Jahren speziell gegen eine: Jolanda Spiess-Hegglin. Es gibt mehrere* Artikel, in denen Bins­wanger ihre Vermu­tungen darüber kundtut, wie sich die soge­nannte „Zuger Sexaf­färe“ genau zuge­tragen haben könnte. So schrieb Bins­wanger 2015 etwa über eine Meldung, die das Kantons­spital an die Staats­an­walt­schaft wegen Verdachts auf sexu­ellen Miss­brauch Spiess-Hegglins machte: „Denkbar ist aber, dass es keine objek­ti­vier­baren Bles­suren waren, die den Arzt zum Handeln bewegten, sondern dass er sich auf die Aussagen von Frau Spiess-Hegglin berief“, ohne dies mit Fakten belegen zu können. Jede Bericht­erstat­tung über die bis heute nicht voll­ends geklärte Causa war und ist unum­gäng­lich eine Posi­tio­nie­rung für oder gegen Spiess-Hegglin. Michèle Bins­wanger hat sich dezi­diert für letz­teres entschieden.

Dass sich eine Jour­na­li­stin, die über Jahre hinweg eine regel­rechte Hetz­kam­pagne gegen ein mutmass­li­ches Opfer von sexua­li­sierter Gewalt führte, dazu berech­tigt fühlt, den Aufruf zur Frauen*demo trotz Viren als „revo­lu­tionär dumm“ zu bezeichnen, ist an Unso­li­da­rität kaum zu über­bieten. Über­ra­schen tut es aber nicht. Bins­wanger lebt übri­gens in Basel, wo der Morgens­traich der Fasnacht trotz Verbot als Guerilla-Aktion durch­ge­führt wurde. Auch darüber hätte sich Bins­wanger aufregen können, auch dort haben die Teilnehmer*innen andere gefährdet. Aber da ging es halt nicht um Femi­nismus – und anders als bei der Frauen*demo wäre Bins­wanger, die sich wieder­holt unso­li­da­risch gegen­über Frauen oder sonstigen poli­ti­schen Akteuren, vornehm­lich von links, äussert, dort wohl auch will­kommen gewesen.

Bins­wanger schreibt in ihrer Kolumne von einem „revo­lu­tio­nären Gestus, der einst ange­bracht war, um verkru­stete Geschlech­ter­ver­hält­nisse aufzu­bre­chen“. Es ist schön, dass die Jour­na­li­stin scheinbar jetzt schon in einer gerechten Zukunft lebt. Verkru­stete Geschlech­ter­ver­hält­nisse herr­schen noch immer und sie werden, genauso wie soziale Unter­schiede und Unge­rech­tig­keiten, gerade während einer Epidemie beson­ders deut­lich. Weder das BAG noch der Bund liefern dies­be­züg­lich Anwei­sungen, die in jedem Fall gender­ge­recht umsetzbar sind. Wenn mehr Menschen krank sind oder in Quaran­täne bleiben müssen, fällt noch mehr unbe­zahlte Care-Arbeit auf Frauen zurück. Denn: Wer sorgt sich um kranke Verwandte? Wer hütet Kinder? Wer bringt den Freund*innen Essen vorbei? Wer denkt an die Sexar­bei­terin auf dem Strich, die sich neu nicht nur mit Geschlechts­krank­heiten, sondern auch mit dem Corona-Virus anstecken könnte – Social Distan­cing dürfte für sie kaum ein Thema sein, um nur ein präka­ri­siertes, frau­en­do­mi­niertes Arbeits­feld als Beispiel zu nennen. Ausserdem leben wir verdammt nochmal noch immer in einem Land, das die Istanbul Konven­tion zur Verhü­tung und Bekämp­fung sexu­eller und häus­li­cher Gewalt gegen Frauen trotz Verpflich­tung noch immer nicht umge­setzt hat. Dass FLINT noch immer so wütend sind, dass sie für eine Demo krasse gesund­heit­liche Risiken auf sich nehmen, zeigt, wie nötig die tradi­tio­nelle Frauen*demo auch 2020 noch immer ist.

*Korri­gendum: In der Ursprungs­fas­sung dieses Arti­kels ist von „einer schier unüber­sicht­li­chen Anzahl von Arti­keln“ die Rede. Diese Aussage ist nach­weis­lich falsch. Laut SMD sind es insge­samt drei Artikel, in welchen sich Michèle Bins­wanger zur Causa Spiess-Hegglin äussert. Für diese Falsch­aus­sage entschul­digen wir uns.


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