Wie schlimm steht es wirklich um die Welt? Das weiss niemand ganz genau. Eine Nachricht jagt die nächste – wie einen Überblick gewinnen, das Chaos ordnen? Wir [info-box post_id=„7925“]helfen, indem wir ausgewählte News häppchenweise servieren und einordnen. So liefern wir Ihnen einmal pro Monat Anhaltspunkte zur Lage der Welt aus Lamm-Sicht.
Heute: Tropische Regenwälder sind CO2-Quellen. // Hormonaktive Substanzen sollen verboten werden. // Bei der Atomanlage Tricastin in Frankreich ist ein Damm morsch.
Bad News: Tropische Regenwälder als CO2-Quellen
Was ist passiert? Die tropischen Regenwälder sind die Lungen der Erde. Diese Metapher ist etwas unglücklich, weil streng genommen verkehrt: Lungen verbrauchen Sauerstoff und geben CO2 ab; Wälder geben (netto) Sauerstoff ab und lagern CO2 ein. Aber man weiss, was damit gemeint ist (das Umgekehrte). Oder besser: Man meinte es zu wissen. Denn gemäss einer neuen Studie ist die Metapher von den Regenwäldern als Lungen der Erde wahrer, als uns lieb sein kann: Die tropischen Regenwälder stossen wohl mehr CO2 aus, als sie aufnehmen können. Sie atmen also mehr aus als ein, und das massiv: 425 Teragramm Kohlenstoff entweichen den tropischen Regenwäldern jährlich. Das ist soviel wie alle US-Verkehrsemissionen in einem Jahr.
Warum ist das wichtig? In vielen Klimamodellen werden Wälder als CO2-senkende oder zumindest als CO2-neutrale Flächen gehandelt. Die Erklärung: CO2 versinkt via Blattwerk in Stamm und Wurzeln der Bäume, wodurch der Atmosphäre CO2 entzogen wird. In der Summe stimmt das aber für diese Regenwälder gar nicht (mehr), weil sie mehr CO2 durch Biomassenverlust verlieren, als sie binden können. Und zwar nicht nur, weil sie abgeholzt werden, sondern hauptsächlich, weil es ihnen schlechter geht. Ihre Fähigkeit, CO2 aufzunehmen, wird von Dürren, Feuer, selektivem Holzschlag und Biodiversitätsverlust geschmälert. Und das in einem solchen Ausmass, dass den Wäldern netto viel mehr CO2 entweicht, als sie binden können. Das Perfide: Anders als bei gerodeten Flächen sieht man es diesen Wäldern von aussen nicht verlässlich an. Unter der dichten Baumkrone kann sich ein wegrottender Forst verstecken. Und der bekommt dem Klima schlecht.
Aber? Gemäss den StudienautorInnen liesse sich dieser kaum sichtbare Zerfall relativ leicht aufhalten, ja gar umkehren. Denn es gibt sie bereits, die ‚Technologie’, mittels derer die Wälder wieder netto mehr CO2 aufnehmen könnten bzw. das in ihnen eingelagerte CO2 zumindest halten könnten. Sie ist mehrere tausend Jahre alt; erfunden haben sie die indigenen Völker der grossen Regenwälder. Unter ihrer Bewirtschaftung halten diese Wälder die vierfache Menge der jährlichen weltweiten CO2-Emissionen zurück. Allerdings stehen diese ‚BewirtschafterInnen‘ der Wälder massiv unter Druck, gerade weil sie aus Sicht von ‚EntwicklerInnen‘ nichts ‚erwirtschaften‘ und oft auf unausgebeuteten Bodenschätzen sitzen, nach denen die Industrienationen lechzen. Bleibt zu hoffen, dass wir rechtzeitig erkennen: Ohne diese Wälder und ihre BewohnerInnen sind wir nahe dem Ende.
Good News 1: Hormonaktive Substanzen sollen verboten werden — auch in Pestiziden
Was ist passiert? Die EU ringt seit vier Jahren an einer Verordnung, welche die Verwendung endokriner Disruptoren (=Störer des (natürlichen) Hormonsystems) regulieren soll. Das sind Substanzen, die in uns wie körpereigene Hormone wirken und deshalb zu Entwicklungsstörungen führen können. Bisphenol A beispielsweise, das in Kassenzetteln, PET und anderen Plastikbehältern steckt, wirkt im menschlichen Körper wie ein Östrogen. Damit steht es im Verdacht, insbesondere in den Sexualzyklus, die Fetteinlagerung, aber auch in den Zuckerkreislauf einzugreifen; zudem erhöhe es die Gefahr für östrogengesteuerte Milchdrüsentumore. Generell wird vermutet, dass endokrine Disruptoren, von Entwicklungs- und Verhaltensstörungen über Diabetes bis hin zu Krebs, verschiedenste Gesundheitsprobleme, ja schwere Krankheiten (mit-)verursachen können.
Solche hormonaktiven Substanzen sind unter anderem als Wirkstoffe in vielen Pestiziden enthalten. Jetzt haben die EU-ParlamentarierInnen einen pestizidfreundlichen Entwurf zurückgewiesen, der die Verordnung in einer wichtigen Hinsicht zahnlos gemacht hätte.
Warum ist das wichtig? Um zu verstehen, worum es hier geht, müssen wir zuerst diese endokrinen Disruptoren etwas genauer betrachten. Das besondere an diesen Substanzen: Je nach Entwicklungsstadium ist ein Mensch unterschiedlich sensibel auf solche Hormone. Wird die körpereigene Regulierung an empfindlichen Punkten durch solche Substanzen gestört, können die Weichen für die künftige Entwicklung falsch gestellt werden. Und das teils irreversibel. Weiter wird vermutet, dass bereits kleinste Dosen, wenn sie in ungünstigen Momenten eingenommen werden, eine solche falsche, endgültige Weichenstellung verursachen. Damit ist es schier unmöglich, ein generell sicheres Expositionsniveau anzugeben; und gäbe es eines, es wäre so tief, dass solche Substanzen ausserhalb von Labors wohl verboten werden müssten.
Genau mit einem solchen Verbot ringen EU-Kommission und ‑Parlament seit vier Jahren: Ausser in Labors dürfte niemand mit Substanzen, die nachgewiesenermassen als endokrine Disruptoren im Menschen agieren, in Kontakt kommen können. Allerdings hat das Gesetz einen Haken, den PestizidlobbyistInnen von Bayer, BASF und Syngenta in letzter Minute in den Text haben einfliessen lassen können: Ausgenommen werden sollen von dieser Regelung ausgerechnet diejenigen Pestizide, die ihre Wirkung dadurch entfalten, dass sie in das Hormonsystem von Schädlingen eingreifen (siehe im Verordnungsentwurf der letzte Paragraph auf der letzten Seite). Ein Verbot von endokrinen Disruptoren, von dem Substanzen ausgenommen sind, die erwiesenermassen endokrine Disruptoren sind? Das war der Ernährungskommission des EU-Parlaments doch zu bunt, weshalb sie diesen Passus mit 36 gegen 26 Stimmen kürzlich verworfen hat.
Aber? Noch ist die Sache nicht vom Tisch. Denn es geht um sehr viel. Alleine in Frankreich würden durch diese Verordnung, fiele die Ausnahmeklausel durch, 8‘700 Tonnen Pestizide verboten. Zusammen mit dem französischen Glyphosat-Verbot ab 2022 stünde die Pestizidindustrie vor dem Zusammenbruch. Denn der aussichtsreiche Nachfolger von Glyphosat, das Herbizid 2,4‑D, würde wohl als endokriner Disruptor klassifiziert. Massive Gegenwehr vonseiten der Pestizidindustrie ist vorprogrammiert.
Good News 2: AKW-Stopp wegen bröckelnder Staumauer
Was ist passiert? Die französische Atomkontrollbehörde (Autorité de sureté nucléaire ASN) hat in Tricastin in Südostfrankreich vier Reaktoren herunterfahren lassen. Käme es zu einem Erdbeben, könnte der Damm eines naheliegenden Kanals brechen. Die Folge davon: Die vier Reaktoren stünden unter Wasser; die Kühlung fiele aus. Damit drohte die Kernschmelze — und die dauerhafte Verwüstung eines Gebiets mindestens von der Grösse des Kantons Bern. Wenn die Betreiberin die Reaktoren wieder hochfahren will, muss sie das Erdbebenrisiko genauer bestimmen können und Ausbesserungen am Damm vornehmen.
Warum ist das wichtig? Dieser Sicherheitsnachweis sowie die baulichen Massnahmen am Damm bei Tricastin sind seit zehn Jahren fällig. Erst jetzt ist die Behörde eingeschritten: Der Reaktor sei abzustellen, „dans les délais les plus courts.“ Nun eilt plötzlich, was zehn Jahre vor sich hinschlummerte. Bis letzte Woche geschah nichts. Und das ist ein eher unangenehmer Gedanke. Wie konnte, was so dringend nötig war, einfach ignoriert werden? Ganz einfach: Weil eine so abstrakte Gefahr wie ein Beben, das nur alle 10’000 Jahre einmal vorkommt, (beinahe) risikofrei ignoriert werden kann — so lange nichts passiert. Und je länger nichts passiert, desto unwahrscheinlicher erscheint uns die Gefahr. Das Risikio bleibt aber natürlich dennoch unverändert.
Aber? Mit dieser Abschaltung ist die Gefahr, die vom französischen, aber auch von unserem eigenen Atompark ausgeht, längst nicht gebannt. Hier ein paar beängstigende Fakten, die gegen gefährliches Vergessen helfen könnten:
- Das betriebsälteste Atomkraftwerk Frankreichs (Baujahr 1970) in Fessenheim spaltet in seinen alten Kesseln weiterhin Uran. Und die geplante Stilllegung 2019 wird vom Kapazitätsausbau im neuen Europäischen Druckwasserreaktor EPR in Flamanwille abhängig gemacht. Fessenheim liegt 40 Kilometer nördlich der Schweizer Grenze.
- Das betriebsälteste Atomkraftwerk der Schweiz ist zugleich das betriebsälteste Atomkraftwerk … weltweit. Mit Baujahr 1969 wird es bald fünfzig. Zwar steht Beznau I seit zwei Jahren still wegen „Löchern“ im Reaktormantel, aber die Axpo scheint weiterhin an eine Wiederinbetriebnahme zu glauben. Ein fixer Abschalttermin liegt nicht vor.
- Einem weiteren Schweizer AKW droht ein Dammbruch: Es liegt rund 20 Meter unterhalb des Wohlensees bei Bern, zwölf Kilometer vom Bundeshaus entfernt. Zwar wird es 2019 definitiv abgeschaltet. Aber auch hier ist fraglich, ob der Staudamm einem Alle-10‘000-Jahre-Erdbeben standhalten würde.
- Unsere AKWs laufen, bis auf das AKW mit den rostigen Brennstäben (Leibstadt), seit dem Jahr 2000 zehn Prozent über der Leistung, für die sie konzipiert wurden. Gemäss dem Öko-Institut Darmstatt ist das Unfallrisiko dadurch um 25–30 Prozent erhöht.
Bis auf weiteres wird es also nötig sein, diese und weitere Gefahren, die von der Atomkraft ausgehen, immer wieder in Erinnerung zu rufen. Denn sie existieren auch dann, wenn gerade niemand an sie denkt.
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