Buch­tipps aus Para­noia City

Pünkt­lich zu unserer Sommer­pause gibt’s Lektü­re­tipps von denen, die es am besten können: den Buchhändler*innen. Auline, Margot und Melina von der Para­noia City empfehlen uns Bücher, die uns die vielen Regen­tage im Sommer versüssen. 
Buchtipps von Buchhändlerinnen – Melina, Auline und Margot vor der Paranoia City Buchhandlung. (Foto: Julia Rüegg)

„Die schlechte Gewohn­heit“ von Alana S. Portero. Ein Tipp von Melina.

In Alana S. Porteros auto­fik­tivem Debüt­roman begeben wir uns in Madrids Peri­pherie der 80er- und 90er-Jahre. San Blas ist ein im Osten der Haupt­stadt liegender Stadt­teil, der von Armut und Zerfall durch­zogen ist und dessen Bewohner*innen von der Regie­rung als Plage abgetan werden, die es zu besei­tigen gilt. Dies geschieht durch eine fast geschenkte Heroin-Zufuhr, die für viele der dort lebenden Arbeiter*innen und deren Kinder einem Todes­ur­teil gleichkommt.

Beim Lesen wird immer deut­li­cher, was es heisst, in einer Gesell­schaft zu leben, die die eigene Existenz hinter­fragt oder gar ablehnt.

Inmitten dieser Kulisse wächst die Prot­ago­ni­stin des Romans auf. Schon von klein auf soll sie ein „ganzer Kerl“ sein – jedoch bemerkt sie schon früh, dass sie ein Mädchen ist, dass sie trans ist. Sie lernt, dass sie zum Schutz ihrer selbst die Fassade aufrecht­erhalten muss und ihre Tanz­ein­lagen zu Madonna-Songs niemanden sehen lassen darf. Die Erzäh­lerin gibt sich nur wenigen Menschen zu erkennen, die ihren Weg kreuzen, und es sind auch deren Geschichten, die sie dazu ermahnen, sich nicht unter dieser Maske ersticken zu lassen.

Portero beschreibt dieses Milieu und dessen Bewohner*innen mit all ihren Wider­sprüch­lich­keiten. Sie lässt uns an der Soli­da­rität unter den Menschen des Vier­tels, die von einem gemein­samen Klas­sen­be­wusst­sein geprägt sind, teil­haben. Gleich­zeitig beschö­nigt die Autorin in keiner Weise die Gewalt, die queere Menschen erfahren, und schil­dert schmerz­haft deren Ausgren­zung aus der Gemein­schaft. Die Spal­tung, die die Erzäh­lerin in ihrem Inneren und Äusseren, bei Tag und Nacht und den unter­schied­li­chen Personen in ihrem Leben voll­ziehen muss, wird uns beim Lesen immer deut­li­cher – und damit auch was es heisst, in einer Gesell­schaft zu leben, die die eigene Existenz hinter­fragt oder gar ablehnt.

Alana S. Portero ist nebst Autorin und Akti­vi­stin auch Drama­ti­kerin, was sie uns bereits in der ersten Szene im Buch vermuten lassen lässt. Sie besitzt die Fähig­keit, Szena­rien nicht nur zu erschaffen, sondern sie bis zum bitter-schönen Ende lebendig werden zu lassen.

Die Figuren in ihrem Buch zeichnet die Autorin gekonnt mit all ihren Nuancen und verfängt sich nicht im Kitsch des Leides der Charak­tere. So gelingt es ihr auch, diese nicht zu Stereo­typen verkommen zu lassen.

Zwischen viel Gewalt und Leid wird das Schöne und das Mensch­liche subtil hervor­ge­hoben und lässt eine*n das Buch, trotz allem, mit einem hoff­nungs­vollen Gefühl schliessen.

Alana S. Portero: Die schlechte Gewohn­heit. Ullstein, März 2024, S. 240.

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„Re:claim“ von Jot Vetter. Ein Tipp von Auline.

Ein Comic in Zürichs naher Zukunft – bestens unter­haltsam und wunderbar schlau! Die Wahl­fa­mi­li­en­bande Mo, Adri Sam und zwei weitere Freund*innen leben im Kreis 5 in einem besetzten Haus und begleiten uns durch diesen schwarz-weiss illu­strierten Comic.

Plötz­lich liegt ein Hirsch­ge­weih am Zürcher Bellevue.

Jot Vetter greift Franz Hohlers 1982 erschie­nenen Roman „Die Rück­erobe­rung“ mit Schau­platz Oerlikon neu auf. Erstaun­lich ist, dass Hohler damals Orte wie die Binz für seine Erzäh­lung in Zürich verwen­dete, die Jahre später zu auto­nomen Häusern wurden. Jot verlegt den Wohnort der Haupt­cha­rak­tere von Oerlikon in den Kreis 5 und macht aus der Klein­fa­milie eine Freund*innenbande, lässt sonst aber ähnli­ches geschehen wie Hohler. Plötz­lich liegt ein Hirsch­ge­weih am Zürcher Bellevue – ein erstes Zeichen für eine grosse Verän­de­rung: Die Stadt wird von Wild­tieren eingenommen.

Die Geschichte ist span­nend und unter­haltsam, und regt gleich­zeitig zum Nach­denken an: Wem gehört der öffent­liche Raum? Wem gehört die Stadt? Vor allem aber: Was sind wir der Natur schuldig und wie können wir zwischen Beton, Menschen, Pflanzen und Tieren zusammenleben?

Und: Wenn der Comic fertig gelesen ist, bieten sich die detail­rei­chen Zeich­nungen bestens zum Ausmalen an.

Jot Vetter: re:claim. Verän­de­rung ist das Einzige was bleibt, edition assem­blage, Mai 2024, S. 120.

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„Ein schönes Auslän­der­kind“ von Toxi­sche Pommes. Ein Tipp von Auline.

„Toxi­sche Pommes“ ist eine öster­rei­chi­sche Anwältin und Komi­kerin. Sie nimmt mit ihren Klassen-Witzen reiche Linke auf die Schippe, macht grosse Satire über die „häss­li­chen Seiten des Lebens“ – und hat damit Erfolg: Über 200’000 Menschen folgen ihr auf Insta­gram. Lustig, oder?! Lustig ist auch ihr erster Roman „Ein schönes Auslän­der­kind“, die Geschichte einer drei­köp­figen Familie, die kurz vor dem Ausbruch des Jugo­sla­wi­en­kriegs aus Rijeka nach Öster­reich migriert. Anders als andere Fami­lien suchen sie weder Asyl, noch müssen sie als Gastarbeiter*innen zwischen Hier- und Dort­sein wech­seln. Die zwei­jäh­rige Tochter und ihre Eltern finden bei Renate Hell und deren Familie einen Wohnort.

Doch die Kosten sind hoch: Die Mutter der Ich-Erzäh­lerin arbeitet als Haus­häl­terin und Kinder­frau für Familie Hell und wird im Haus ihrer eigenen Familie nur noch müde bis erschöpft auf dem Sofa gesehen. Renate Hell, Helferin und Gross­zü­gige, hat in ihrem Hinter­häus­chen diese Frau aufge­nommen, die pausenlos für sie da sein soll. Auch als Freundin wird die Mutter benutzt, mit Renate soll sie im Keller Ziga­retten rauchen und stun­den­lang zuhören, was die gütige Dame sonst mit niemandem bereden kann.

Die Frem­den­feind­lich­keit wird so subtil beschrieben, wie sie sich für die Ich-Erzäh­lerin vorerst anfühlt. 

Der Vater der Ich-Erzäh­lerin lang­weilt sich zeit­gleich in die Depres­sion, die natür­lich nie als solche benannt wird. Beklagen soll man sich ja nicht. Täglich putzt er das eigene Häus­chen stun­den­lang, kocht und isst mit seiner Tochter, begleitet sie überall hin, fördert sie, unter­stützt sie. Er hat keine Arbeits­be­wil­li­gung und kein Geld für eine andere Beschäf­ti­gung, vor der Tür geht er gebückt durch die Strassen und spricht fast kein Wort.

Die Frem­den­feind­lich­keit wird so subtil beschrieben, wie sie sich für die Ich-Erzäh­lerin vorerst anfühlt. Doch mit den Jahren wird sie nicht nur älter, sondern auch wütender. Sie setzt alles daran, das perfekte Migrant*innenkind zu sein, schreibt Best­noten in der Schule und auch im Schwimm­club ist sie vorne mit dabei. Erst später wird sie merken, dass ihre Eltern ihr eigenes Leben für sie aufgeben. Vorerst ist sie nur wütend auf die abwe­sende Mutter und den ruhigen, vom neuen Internet beses­senen Vater, für den sie sich schämt. Später wächst auch die Wut auf Renate Hell und das System im Allge­meinen – die Verhält­nisse werden dem ehrgei­zigen Kind bewusster.

Aber was ist an diesem Buch eigent­lich lustig? Die Art und Weise, wie die Autorin über Verhält­nisse und Situa­tionen schreibt, bringt eine*n zum Schmun­zeln. Das Geschrie­bene ist eher skurril und absurd als tatsäch­lich witzig – und dennoch von grosser Empa­thie und Gerech­tig­keits­sinn geprägt.

Toxi­sche Pommes: Ein schönes Auslän­der­kind, Paul Zsolnay Verlag, März 2024, S. 208.

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„Klar­kommen“ von Ilona Hart­mann. Ein Tipp von Margot.

„Klar­kommen“ ist ein Roman über das Erwach­sen­werden, über grosse Hoff­nungen an eine freie Jugend, die nicht so erfüllt werden, wie man sich das erträumt hat: Liebe tut weh, das Gross­stadt­leben kostet mehr Geld als zur Verfü­gung steht und niemand wartet auf dich.

Für das Erwach­sen­werden gibt es kein Skript.

Die Erzähl­figur muss bitter erfahren, dass es für das Erwach­sen­werden kein Skript gibt, dass es nie „erle­digt“ ist und auch keinen Stichtag hat. Der in kurze Kapitel gefasste Roman ist aber trotzdem tröst­lich und wohl­tuend, denn Hart­mann sucht und findet eine Sprache für all die unbe­hag­li­chen Gefühle, mit denen wir uns in unserer Jugend alleine (gelassen) fühlten.

Ein ruhiges, lang­sames Buch, das sich dennoch span­nungs­voll liest, weil es immer wieder mit uner­war­teten Wendungen und Beob­ach­tungen über­rascht und sich Leser*innen – wohl insbe­son­dere weib­lich sozia­li­sierte – wieder­finden können.

Ilona Hart­mann: Klar­kommen, park x ullstein, Februar 2024, S. 192.

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„Welt­all­tage“ von Paula Fürsten­berg. Ein Tipp von Auline.

Mit ihrem neuen Roman „Welt­all­tage“ schenkt uns Paula Fürsten­berg ein Buch über Freund*innenschaftskummer. Viel zu selten habe ich in Romanen tiefe Freund*innenschaft verhan­delt gesehen. Max und die Ich-Erzäh­lerin, beide mit allein­er­zie­henden Müttern in Ostdeutsch­land aufge­wachsen, teilen nämlich eine beste Freund*innenschaft seit Schul­zeit und auch eine gemein­same Wohnung. Keine Angst, das Buch endet nicht in der Hetero-Norm! Das Starke am Buch ist, dass die Autorin den beiden Figuren allen Platz auch für die häss­lich­sten (neben all den schönen) Seiten der Freund*innenschaft lässt und man die Mensch­lich­keit fast schon durch die Seiten riechen kann.

„Welt­all­tage“ ist aber nicht nur ein Buch über Freund*innenschaft, sondern auch eines über Krank­heit. Max ist seit immer der gesunde Körper, Max funk­tio­niert, bei Max läuft’s. Die Ich-Erzäh­lerin hingegen liegt immer mal wieder tage­lang im Bett, bei der Ärztin oder sitzt auf dem Stuhl der Frau Doppel­name, ihrer Psycho­the­ra­peutin. Ihre Endo­me­trio­sen­herde wurden mitt­ler­weile loka­li­siert – nach vier­zehn Jahren Schmerzen vergleichbar mit denen eines Herzinfarkts.

Trotzdem ist die Ich-Erzäh­lerin von ihren körper­li­chen Problemen nicht befreit: Ihre chro­ni­sche Krank­heit prägt ihr Leben – die Welt­all­tage. An jenen Tagen leidet sie unter starkem Schwindel, ihr Körper hört auf zu funk­tio­nieren. An jenen Tagen ist Max für sie da, lebt ihr Leben mit, erle­digt Dinge, die für sie allein unmög­lich sind. Der funk­tio­nie­rende und gesunde Körper von Max bleibt zwar noch eine Weile stabil – doch Max wird immer trau­riger, immer schmaler und Max’ Wesen verän­dert sich inner­halb eines Jahres ziem­lich radikal. Immer tiefer schleicht sich die schlechte Laune in Max’ Leben und wird schliess­lich zu einer düsteren Depression.

Paula Fürsten­berg beschreibt die Entwick­lung von Schmerz und Krank­heiten präzise und findet eine Sprache für die Sprach­lo­sig­keit und Unbe­hol­fen­heit der zwei Hauptfiguren.

„Viel­leicht messen wir Freund­schaft im Vergleich zu fami­liären und roman­ti­schen Bezie­hungen auch deshalb weniger Bedeu­tung bei, weil es so schwierig ist, sie klar zu bestimmen.“

Gewisse Kapitel steigen mit einem Zitat verschie­dener Autor*innen ein, die zu Krank­heit, Gesund­heit und Freund*innenschaft geschrieben haben. So zum Beispiel das Zitat vom deut­schen Schrift­steller und Jour­na­li­sten Daniel Schreiber: „Viel­leicht messen wir Freund­schaft im Vergleich zu fami­liären und roman­ti­schen Bezie­hungen auch deshalb weniger Bedeu­tung bei, weil es so schwierig ist, sie klar zu bestimmen. Nur die Liebe kann eine grosse Erzäh­lung für sich bean­spru­chen, Freund­schaften gehen mit kleinen Erzäh­lungen einher, mit unzäh­ligen kleinen Erzäh­lungen, die nur ungern vorge­fer­tigten Mustern folgen.“

Lite­ra­tur­hin­weise wie diese haben mir beson­ders gefallen – und das im Buch enthal­tene „Patho­bio­gra­fi­sche Alphabet“Darin bettet die Autorin Zitate und ihre Gedanken über die Werke der genannten Schriftsteller*innen in die Gedanken der Ich-Erzäh­lerin ein. Das Buch ist nämlich auch ein Schreib­pro­zess der Ich-Erzäh­lerin, die versu­chen will, die Freund*innenschaftsgeschichte zu verschrift­li­chen und einen Roman daraus machen.

Auch das führt zu einem Konflikt der beiden, denn Max will nicht, dass seine Depres­sion benutzt wird, um einen Roman zu schreiben. Das lässt die Frage aufkommen: Wer erzählt wessen Geschichten und zu welchen Kosten?

Paula Fürsten­berg: Welt­all­tage, Kiepen­heuer & Witsch, Februar 2024, S. 320.

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