Chro­nisch krank und perma­nent angezweifelt

In der Schweiz leben rund eine halbe Million Menschen mit Long Covid und ME. Doch sie kämpfen nicht nur gegen eine unheil­bare Krank­heit – sondern auch gegen Stigma, Fehl­dia­gnosen und lebens­be­droh­liche Behandlungen. 
Jonas H. (23) ist vor eineinhalb Jahren an Long Covid erkrankt und schafft an einem Tag höchstens einen kleinen Spaziergang durchs Quartier. Da seine Krankheit oft nicht ernst genommen wird und er Anfeindungen erlebt, möchte er anonym bleiben. (Bild: Kira Kynd)

Hannah K. liegt im Bett. Sie hat Herz­rasen, fühlt sich schwer grippig und hat am ganzen Körper Schmerzen in den Muskeln. Sie fühlt sich entkräftet, kann kaum noch essen. Sie glaubt, sie müsse sterben.

Im Notfall im USZ Zürich erklärt sie, dass sie ME/CFS habe, eine schwere neuro­im­mu­no­lo­gi­sche Krank­heit, die von der WHO bereits seit 1969 als orga­nisch aner­kannt ist. Das bedeutet, dass sie körper­lich bedingte, medi­zi­nisch nach­weis­bare Ursa­chen hat. Doch die Ärzt*innen sind ratlos. Sie geben ihr eine Elek­tro­ly­tin­fu­sion. Sie bittet um eine zweite. Die Ärzt*innen verwei­gern die Bitte und schicken sie mit Ibuprofen nach Hause.

Jonas H. sitzt beim Haus­arzt. Er sagt, dass er extrem schwach sei, kaum noch gehen könne. Dass sein Körper sich anfühle, als hätte er 40 Grad Fieber – und das seit Monaten. Aus Google-Recher­chen weiss er, dass er an Long Covid erkrankt ist.

Er soll sich nicht so anstellen, sagt sein Arzt und verschreibt ihm eine Psychotherapie.

Von solchen Situa­tionen erzählen Menschen mit chro­ni­schen Krank­heiten wie Long Covid und ME/CFS. Zwei Krank­heiten, die eng mitein­ander verbunden sind. Beide treten meist nach einer Virus­in­fek­tion auf und führen dazu, dass diverse Körper­funk­tionen auch nach Gene­sung nicht mehr richtig funk­tio­nieren. ME/CFS gilt als schwerste Form von Long Covid, kann aber auch nach einer Grippe, Borre­liose, Pfeif­fer­schem Drüsen­fieber oder einer Impfung auftreten.

Genaue Zahlen, wie viele Menschen an Long Covid oder ME/CFS leiden, gibt es nicht. Gestützt auf ihren Report geht die Orga­ni­sa­tion für wirt­schaft­liche Zusam­men­ar­beit und Entwick­lung OECD jedoch davon aus, dass fünf Prozent der Bevöl­ke­rung Long Covid hat. Herun­ter­ge­rechnet auf die Schweiz sind das fast 450’000 Menschen. Dazu kommen rund 60’000 mit ME/CFS, wie die Schweizer Gesell­schaft für ME/CFS schätzt, die Dunkel­ziffer dürfte doppelt so hoch sein.

Trotzdem sind diese Menschen so gut wie unsichtbar. Hannah K. und Jonas H., die in diesem Artikel zu ihrem Schutz anony­mi­siert wurden, sind nur zwei von ihnen. Doch ihre Geschichten zeigen: Ihr Leiden ist auch struk­tu­rell bedingt.

Bis heute kein Heilmittel

Hannah K. erkrankte im Jahr 2017 nach einer Sommer­grippe. «Es folgte ein Infekt nach dem anderen und ich hatte dieses stän­dige Grip­pe­ge­fühl», erzählt die 35-Jährige bei einem Treffen in Zürich. Die Infekte vergingen, trotzdem fühlte sie sich weiterhin schwer krank. Doch niemand wusste, was ihr fehlte.

Erst Jahre später erfährt sie, dass sie an einer Krank­heit leidet, deren vollen Name kaum jemand ausspre­chen kann: Myal­gi­sche Enze­pha­lo­mye­litis, kurz ME. Besser bekannt als Chro­ni­sches Fatigue-Syndrom (CFS). Der zweite Begriff sei jedoch irre­füh­rend, sagt Hannah K. «Fatigue klingt, als bräuchten wir einfach einen chil­ligen Sonntag auf der Couch, doch wir sind nicht müde. Wir sind aufgrund eines zellu­lären Sauer­stoff­man­gels total entkräftet und können nichts dagegen tun.» Der Begriff trägt einen wesent­li­chen Teil dazu bei, dass die Krank­heit baga­tel­li­siert wird. Aus Respekt den Betrof­fenen gegen­über wird im weiteren Artikel deshalb nur von ME gesprochen.

«Meine grösste Angst ist, dass ich im Spital lande und dort aus Unwissen falsch behan­delt werde.»

Hannah K. (35), seit 2017 an ME erkrankt

Mit Müdig­keit hat die Krank­heit wenig zu tun. Die WHO defi­niert ME als neuro­lo­gi­sche Krank­heit. Betrof­fene sind in ihrer Leistungs­fä­hig­keit stark einge­schränkt und nicht in der Lage, ihren Alltag fort­zu­führen. Dazu kommen oft nicht-erhol­samer Schlaf, Herz­rasen, Muskel­schwäche, eine Abnahme der geistigen Fertig­keiten oder grip­pe­ähn­liche Zustände.

Typisch für die Krank­heit ist zudem eine Post-Exer­tional Neuro­im­mune Exhaus­tion (PENE). Dabei verschlech­tert sich der Zustand massiv nach körper­li­cher oder kogni­tiver Anstren­gung. Menschen, die unter ME leiden, spre­chen von «Crashes», die oft verzö­gert eintreten und mit starken Muskel­schmerzen, Fieber und anderen Symptomen einher­gehen. Sie können Tage oder sogar Wochen anhalten.

Ein Heil­mittel für ME gibt es bis heute nicht.

Medical Gaslighting

Statt­dessen wird die Krank­heit noch immer oft auf die Psyche geschoben. In sieben Jahren habe Hannah K. über 50 Ärzt*innen konsul­tiert, sagt sie. Immer wieder kam die Frage, ob sie gestresst sei. «Irgend­wann habe ich selbst geglaubt, dass es psycho­so­ma­tisch ist.» Eine offi­zi­elle Diagnose hat sie bis heute nicht. Man schickte sie zur Psycho­the­rapie und in die Reha. In letz­terer animierte man sie zu mehr Bewe­gung – ein enormes Risiko für Erkrankte, weil sich dadurch ihr Zustand irrepa­rabel verschlech­tern kann. «Ich kenne Leute, die sind in die Reha gelaufen und im Roll­stuhl raus­ge­kommen», erzählt Hannah K.

Eigent­lich wollte Hannah K. mit Gesicht und Namen portrai­tiert werden. Doch aus Angst vor Stig­ma­ti­sie­rung und finan­zi­ellen Einbussen bleibt sie doch lieber anonym. (Bild: Kira Kynd)

Heute richtet sie ihr ganzes Leben darauf aus, ihren Zustand stabil zu halten. Trotzdem weiss sie nie, wann es wieder zu einem Crash kommt. «Meine grösste Angst ist, dass ich im Spital lande und dort aus Unwissen falsch behan­delt werde», sagt sie.

Hannahs Erfah­rungen sind kein Einzel­fall. Im Schnitt dauert es fast sieben Jahre, bis Betrof­fene von ME eine korrekte Diagnose erhalten, wie eine Schweizer Studie von 2023 zeigt. Zuvor kommt es zu diversen Fehl­dia­gnosen. In über 90 Prozent der Fälle wird die Krank­heit als psycho­so­ma­tisch einge­stuft. In zwei Drit­teln wird Erkrankten zu einer Bewe­gungs­the­rapie geraten.

«Ein einstün­diges Gespräch ist das Maximum, das an einem Tag noch drin liegt.»

Jonas H. (23), seit 2024 an ME erkrankt

Dass Ärzt*innen ihre Patient*innen nicht ernst nehmen, ihre Symptome herun­ter­spielen, sie als «hyste­risch» oder «über­emp­find­lich» darstellen, bezeichnet man auch als «Medical Gaslighting». Ein Phänomen, das auch von anderen chro­ni­schen Krank­heiten bekannt ist, wie Fibro­my­algie oder Endo­me­triose. Studien zeigen, dass davon vor allem Frauen, jüngere und ältere Menschen sowie Personen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund betroffen sind.

Mehr Fälle, kaum Veränderung

Hannah K. hört das erste Mal von ME nach Corona. Damals häuften sich die Berichte über Menschen, die auch Wochen nach der Covid-Infek­tion noch starke Symptome aufweisen. Später ist die Rede von Long Covid und ME.

Trotz mehr Bekannt­heit hat sich aber kaum etwas geän­dert, wie Jonas H. erzählt. Er ist 23 Jahre alt und hatte im Februar 2024 einen leichten Husten. Zuvor trieb er viel Sport, war mit Freund*innen unter­wegs und studierte an der Uni. Heute ist all das nicht mehr möglich.

Ein einstün­diges Gespräch ist das Maximum, das an einem Tag noch drin liegt. «Am Anfang hatte ich Gedächt­nis­aus­setzer, sodass ich nicht mehr wusste, wo ich gerade war und konnte nur noch verschwommen sehen.» Inner­halb weniger Wochen nimmt er zehn Kilo­gramm ab, geht von Arzt zu Ärztin. Doch niemand habe ihm geholfen, erzählt er. Also recher­chiert er selbst und stösst auf die Long Covid-Sprech­stunde am Unispital Zürich.

Fachärzt*innen für ME gibt es kaum.

Sechs Monate muss er warten, bis er einen Termin bekommt. Vor Ort habe man einfach alle anderen Krank­heiten ausge­schlossen, sagt er. Am Ende erhält Jonas H. die Diagnose «Verdacht auf Long Covid». Dazu eine Psycho­the­rapie und einen Kurs für Ener­gie­ma­nage­ment. «Da lebte ich bereits ein Jahr mit dieser Krank­heit und musste mir dann anhören, dass ich ein Bad nehmen soll oder an Blumen riechen, um mich zu entspannen», so Jonas H.

«Niemand fühlt sich zuständig»

Chantal Britt (56) kennt solche Geschichten zur Genüge. Sie ist Präsi­dentin der Pati­en­ten­or­ga­ni­sa­tion Long Covid Schweiz und selbst mild von Long Covid und ME betroffen. «Zuvor war ich über­zeugt, dass wir ein System haben, das mich auffängt. Eines, indem sich Ärzt*innen um mich kümmern, indem ich wenn nötig eine IV-Rente erhalte und man neue Krank­heiten intensiv erforscht», so Britt.

Doch dieses System existiert nicht. 

Auf natio­naler Ebene fehlt eine Fach­ge­sell­schaft für ME, wie es sie für andere Krank­heiten längst gibt. Auf seiner Website verweist das Bundesamt für Gesund­heit (BAG) unter anderem auf Long Covid Schweiz, die unent­gelt­lich von Betrof­fenen unter­halten wird. «Es fühlt sich einfach niemand für uns zuständig», sagt Britt.

«Was wir vor allem brau­chen, ist Forschung.»

Chantal Britt (56), Präsi­dentin der Pati­en­ten­or­ga­ni­sa­tion Long Covid Schweiz

Auf Anfrage schreibt das BAG: Fach­ge­sell­schaften seien meist mono­dis­zi­plinär, während ME und Long Covid multi­dis­zi­plinär zu behan­deln seien. Und weiter: «Eine Diagnose und gute Behand­lung ist für Betrof­fene von Post-Covid-19 zentral.» Die Kompe­tenzen würden aber gröss­ten­teils nicht beim Bund liegen, sondern seien im Gesund­heits­wesen verteilt. Der Bundesrat sei der Ansicht, dass die Versor­gung auch in Zukunft bedarfs­ge­recht aufrecht­erhalten und «noch bestehende Lücken» geschlossen werden sollten, so das Amt.

Derzeit ist im Parla­ment ein Vorstoss hängig, der eine natio­nale Stra­tegie zur Verbes­se­rung der gesund­heit­li­chen Situa­tion von Menschen mit ME und Long Covid fordert. Für Menschen, die unter der Krank­heit leiden: zumin­dest ein Hoff­nungs­schimmer. «Was wir vor allem brau­chen, ist Forschung», sagt Britt. Denn bis heute ist unklar, wie die Krank­heit entsteht, was sie im Körper auslöst, welche gene­ti­schen Faktoren dazu beitragen, ob jemand erkrankt oder nicht – und am aller­wich­tig­sten: Was Betrof­fenen helfen könnte.

Aus Beob­ach­tungen wisse man, dass in den ersten zwölf Monaten nach Eintreten der Krank­heit die Chancen auf Gene­sung intakt seien, sagt Britt. Aber nur, wenn man sich absolut schone. Danach kenne sie keine Person, die wieder voll­ständig gesund wurde. «Doch all das wird totge­schwiegen. Warum erheben wir keine Daten? Warum forschen wir nicht?» Dabei gehe es nicht nur um Long Covid, sondern um alle post­in­fek­tiösen Erkrankungen.

Der Bund habe verschie­dene Möglich­keiten zur Erfas­sung der Lang­zeit­folgen von Covid-19 geprüft, schreibt das BAG. «Dabei hat sich gezeigt, dass eine voll­stän­dige Erfas­sung aufgrund der viel­fäl­tigen Krank­heits­bilder, der sich im Zeit­ver­lauf verän­dernden Symptome und der fehlenden recht­li­chen Grund­lage nicht möglich ist.»

Keine Forschung, keine Ärzt*innen

Wie viel Geld derzeit in Forschung inve­stiert wird, weiss das BAG nicht. Es verweist auf den natio­nalen Forschungs­fonds SNF. In der Daten­bank findet sich zu ME kein einziges Projekt. Long Covid widmen sich drei aus über 6000 Projekten. ME sei eine ziem­lich «under rese­ar­ched area», schreibt der SNF auf Anfrage. «Dies könnte sich aber als Folge der Covid-Pandemie in Zukunft ändern», so der natio­nale Fonds.

Auch Fachärzt*innen sucht man fast vergeb­lich. Einer der wenigen Spezia­li­sten ist Protazy Rejmer. Er ist medi­zi­ni­scher Berater beim Verein ME/CFS Schweiz und – wie viele, die sich mit der Krank­heit befassen – selbst leicht­gradig betroffen. Ein Gespräch mit ihm zu verein­baren, ist nicht einfach. Sein Kalender ist voll, an der Seegarten Klinik in Zürich betreut er über 700 Patient*innen mit ME und verwandten Erkran­kungen. Seine Warte­zeiten betragen teil­weise länger als ein Jahr.

«Eigent­lich ist es einfach, die Krank­heit zu diagno­sti­zieren», sagt er. Mit einem Gespräch rund um eine Symptom-Check­liste könne man die Krank­heit gut fest­stellen. Es gebe zudem allge­mein­me­di­zi­ni­sche Richt­li­nien, etwa von den Centers for Disease Control (CDC) in den USA und dem National Insti­tute for Clinical Excel­lence (NICE) in England.

15 Prozent der Erkrankten liegen im «Wach­koma»: Sie verbringen die gesamte Zeit im Bett, sind auf Pflege angewiesen.

Das Problem in der Schweiz sei jedoch, dass hier­zu­lande die Richt­li­nien, Zustän­dig­keiten und dele­gierten Insti­tu­tionen fehlen, so Rejmer. Die inter­na­tio­nalen Krite­rien und Richt­li­nien würden über­haupt nicht oder nur sehr selektiv umge­setzt. «Viele Kolleg*innen wollen die Krank­heit noch immer nicht aner­kennen», so Rejmer. Sie fokus­sierten statt­dessen auf einzelne Symptome und spielten diese herunter. Viele Leute seien müde, viele hätten Schlaf­pro­bleme oder seien sensibel gegen­über Reizen. «Doch es geht vergessen, wie unglaub­lich zermür­bend das sein kann, wenn alles zusammenkommt.»

Der Berufs­ver­band der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FHM ist sich der Proble­matik bewusst, wie er auf Anfrage schreibt. ME sei eine multi­fak­to­riell beein­flusste chro­ni­sche Multi­sy­stem­er­kran­kung, deren Ursa­chen noch immer unge­nü­gend verstanden würden, und für die es zu wenig syste­ma­ti­sche Evidenz gebe, auf die sich die Ärzt*innen stützen könnten, schreibt sie. Und weiter: «Das System ist leider nicht ausge­richtet auf eine schnelle und zwischen den Fach­rich­tungen gut koor­di­nierte Versor­gung, was immer noch zu unhalt­baren diagno­sti­schen Verzö­ge­rungen, einem langen Leidensweg und auch wenig geeig­neten Thera­pie­vor­schlägen führt.»

Nur 12 Prozent erhalten IV-Rente

Viele Betrof­fene fühlen sich allein gelassen. Da viele Medi­ka­mente und Behand­lungen nicht offi­ziell aner­kannt sind, bezahlen sie diese selbst – aus Verzweif­lung und Hoff­nung, wie Jonas H. sagt. Allein im letzten Jahr hätten seine Eltern für Behand­lungen über 30’000 Franken ausge­geben. «Ich habe so gut wie alles auspro­biert.» Gebracht hat alles nichts.

Spezia­list Rejmer versucht in seinen Behand­lungen andere Aspekte der Krank­heit zu beleuchten, Symptome zu lindern und Betrof­fene zu entla­sten. Den grössten Teil seiner unbe­zahlten Arbeit verbringt er damit, Stel­lung­nahmen von IV-Gutachten zu lesen und zu schreiben. Denn nur 40 Prozent der Betrof­fenen können noch rele­vant Teil- bis Voll­zeit arbeiten. Der Rest arbeitet in Kleinst­pensen, ein Drittel über­haupt nicht mehr. 15 Prozent liegen im «Wach­koma»: Sie verbringen die gesamte Zeit im Bett, sind auf Pflege ange­wiesen, und sogar eine kleine, kurze Akti­vität führt zu einem Symptomschub.

«Was Betrof­fenen angetan wird, ist einfach nur grausam.»

Protazy Rejmer, Fach­arzt ME

Trotzdem erhalten sie nur selten IV-Renten. Ende 2023 waren es 12 Prozent aller Personen mit Long Covid, die sich in den Jahren 2021 und 2022 ange­meldet hatten. Aufgrund der nega­tiven Entscheide und der grossen Bela­stung des Verfah­rens würden viele ganz auf eine Anmel­dung verzichten, sagt Chantal Britt von Long Covid Schweiz.

Den Vorwurf, dass die Verfahren zu aufwändig seien, will das Bundesamt für Sozi­al­ver­si­che­rung BSV nicht gelten lassen. «Mit dem struk­tu­rierten Beweis­ver­fahren verfügen die IV-Stellen über ein gutes, aner­kanntes Instru­ment, um sich auch bei ME oder Long Covid ein objek­tives Bild zu verschaffen», schreibt das Amt. Die Fälle seien jedoch komplex. Es könne deshalb mehrere Jahre dauern, bis eine Rente ausge­richtet werde.

Zahl der Erkrankten steigt weiter

«Was Betrof­fenen da angetan wird, ist einfach nur grausam», sagt Rejmer. Viele von ihnen würden jeden Tag leiden, hätten Job, Familie und Freund*innen verloren und würden nichts lieber, als ihr Leben fort­setzen. Statt­dessen müssten sie sich ständig erklären, ihnen werde nicht geglaubt und sie würden als IV-Profiteur*innen hinge­stellt, so Rejmer.

«Wenn wir eine Krank­heit erfinden müssten, die durch alle Raster fällt, dann wäre es ME», sagt Britt von Long Covid Schweiz. Obwohl das Wissen vorhanden wäre. Viele der Betrof­fenen sind längst zu Expert*innen geworden – gezwun­ge­ner­massen, wie sie sagen. In den Gesprä­chen zitieren sie Studien, erzählen von Lücken im System und Chat-Gruppen, in denen man sich austau­sche. Doch niemand hört ihnen zu.

Und das in einer Zeit, in der die Pandemie nicht vorbei ist. Zwar hat die WHO den gesund­heit­li­chen Notstand für Covid-19 im Mai 2023 offi­ziell für beendet erklärt. Trotzdem kursiert das Virus weiter, wie eine Unter­su­chung der Rese­arch Foun­da­tion ME/CFS zeigt. In der Folge wächst auch die Zahl der Menschen mit Long Covid und ME. 

Trotzdem trägt heute niemand mehr eine Maske. Vorle­sungen an Univer­si­täten und Meetings in Büros finden nicht mehr online statt. Menschen sitzen hustend in öffent­li­chen Verkehrs­mit­teln. Sie alle haben die Pandemie vergessen. Sie haben die Menschen vergessen, die beson­ders gefährdet sind. Und sie haben die Menschen vergessen, die noch heute unter der Pandemie leiden.

«Diese Krank­heit hat mir alles genommen», sagt Jonas H. Trotzdem schauen Politik, Medizin und Gesell­schaft weiterhin weg.


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