„Wir fordern eine Gesund­heits­vor­sorge ohne Diskriminierung“

„Women in Exile“ nimmt Ende Oktober an der Akti­ons­kon­fe­renz zu Care-Arbeit in der Roten Fabrik teil. Im Inter­view spre­chen zwei Mitglieder über ihre Arbeit, die Zustände in den deut­schen Lagern und das diskri­mi­nie­rende Gesundheitssystem. 
Gemeinsam stark, Women in Exile bei einer Kundgebung. (Foto: zVg)

2002 schloss sich im deut­schen Bran­den­burg eine Gruppe von geflüch­teten Frauen zusammen und grün­dete „Women in Exile“. Die Gruppe setzt sich spezi­fisch für geflüch­tete Frauen ein, da diese doppelt diskri­mi­niert werden: Einer­seits werden sie als Asyl­be­wer­be­rinnen durch rassi­sti­sche Gesetze ausge­grenzt, ande­rer­seits werden sie als Frauen sexi­stisch diskri­mi­niert. Im Inter­view spre­chen die zwei „Women in Exile“-Mitglieder Eliza­beth Ngari und Made­leine Mawamba.

Das Lamm: Wie ist „Women in Exile“ organisiert?

Eliza­beth Ngari: Wir treffen uns jeden ersten Samstag im Monat und tauschen uns aus. Diese Treffen sind offen für geflüch­tete Frauen. Da sind jeweils 30 bis 45 Frauen anwe­send. Zudem haben wir alle zwei Wochen ein etwas klei­neres Treffen für „Women in Exile & Friends“, an dem wir poli­ti­sche Entschei­dungen treffen, über Stra­te­gien spre­chen und Aktionen orga­ni­sieren. Diese soli­da­ri­sche Gruppe aus Aktivist*innen hat sich 2011 gegründet. So können wir auch Personen ohne Flucht­er­fah­rung, die uns unter­stützen wollen, einen Platz geben.

Made­leine Mawamba: Wir versu­chen jewei­lige Aufgaben so zu verteilen, dass es zu den Skills und Wünschen der Person passt: Gewisse halten gerne Reden an den Demos, andere möchten lieber einen Work­shop organisieren.

Worin besteht eure Arbeit?

EN: Unser Fokus liegt damals sowie heute darauf, geflüch­tete Frauen in den Lagern zu besu­chen. Wir spre­chen mit ihnen, geben ihnen Infor­ma­tionen und moti­vieren sie dazu, unseren Empower­ment-Work­shop zu besu­chen. Wir haben selbst Flucht­er­fah­rung und können uns in diese Frauen rein­ver­setzen. Wir möchten das Lager-System bekämpfen, deshalb auch unser Slogan „Abolish all Lagers!“.

MM: Die Situa­tion in den Lagern ist kata­stro­phal. Nach den Besu­chen schreiben wir darum auch regel­mässig Berichte über die Zustände und machen Fotos von den Schlaf­zim­mern, der Küche und der Toilette. Anschlies­send schicken wir das dem Bundes­mi­ni­ste­rium für Arbeit und Soziales. Zudem verschicken wir vier Mal pro Jahr einen News­letter, wo wir Geschichten von geflüch­teten Frauen aufschreiben.

Worum geht es im Empowerment-Workshop?

EN: Der Unter­titel lautet „Von persön­li­chen Problemen zu poli­ti­scher Aktion“. Da können geflüch­tete Frauen ihre Probleme äussern und reali­sieren, dass sie damit nicht allein sind und ihre Erfah­rungen nicht nur persön­liche sind. Wir über­legen uns dann auch, wie wir die Probleme an die Öffent­lich­keit bringen können.

MM: Wir möchten an diesen Treffen gemein­same Stra­te­gien für unsere Kämpfe finden, denn wir kämpfen gegen Rassismus, Diskri­mi­nie­rung und Gewalt. Allein schafft man das nicht.

Gebt ihr auch weitere Workshops?

EN: Ja, wir haben mehrere, zum Beispiel zum Thema Klima­wandel als Flucht­grund, „Stop Depor­ta­tion“ oder Gesund­heit. Zudem orga­ni­sieren wir auch Demon­stra­tionen oder Bustouren, in denen wir etwas weiter wegfahren, um mit geflüch­teten Frauen in Kontakt zu kommen.

Arbeitet ihr alle ehrenamtlich?

EN: Die aller­mei­sten sind Frei­wil­lige; wir haben nur drei bezahlte Stellen. Diese Personen koor­di­nieren die Frei­wil­ligen und über­nehmen die Organisation.

Woher kommt das Geld?

EN: Das ist das Schwie­rigste in „Women in Exile“. Manchmal erhalten wir Geld für ein spezi­fi­sches Projekt. 2020 haben wir zum Beispiel eine Broschüre zum Thema Gesund­heit zusam­men­ge­stellt. Anson­sten erhalten wir Spenden und verlangen bei externen Work­shops eine Gebühr. Es ist sehr schwierig als Gruppe von geflüch­teten Personen Geld zu bekommen. Wenn du Geld vom Staat haben möch­test, darfst du sie nicht kriti­sieren – aber genau das machen wir ja.

„Women in Exile“ hat kürz­lich 20 Jahre gefeiert. Was waren eure Meilensteine?

MM: Wir haben schon Einiges erreicht. Früher bekamen Geflüch­tete nur Gutscheine statt Geld, dagegen haben wir uns erfolg­reich einge­setzt. Wir haben auch gegen die Resi­denz­pflicht gekämpft, die besagt, dass Asylbewerber*innen sich während des Asyl­ver­fah­rens nur in einem bestimmten Bereich aufhalten dürfen. Seit 2015 verfällt die Resi­denz­pflicht nach drei Monaten; geflüch­tete Personen können sich also endlich frei bewegen.

Ihr habt vorhin eure Gesund­heits-Broschüre „Health Care For All Without Discri­mi­na­tion“ erwähnt. Darin nennt ihr die Kran­ken­ver­si­che­rungs­karte; ist diese auch neu?

MM: Genau. Früher durften geflüch­tete Personen nicht einfach ins Kran­ken­haus gehen, sondern mussten sich zuerst im Lager melden und einen „Kran­ken­schein“ bean­tragen. Wenn du also am Sams­tag­morgen ein Problem hattest, muss­test du teil­weise bis Montag warten. Nun erhalten jedoch auch geflüch­tete Personen eine elek­tro­ni­sche Kran­ken­ver­si­che­rungs­karte, womit sie selbst­ständig ärzt­liche Hilfe suchen können.

In der Broschüre steht auch, dass gemäss dem Asyl­be­wer­ber­lei­stungs­ge­setz für geflüch­tete Personen nur akute Krank­heiten oder Notfälle über­nommen werden. Ist das auch mit der Kran­ken­ver­si­che­rungs­karte so?

EN: Ja, leider schon. Wenn etwas über einen akuten Schmerz hinaus­geht, muss eine geflüch­tete Person beim Sozi­alamt eine Erlaubnis einholen, damit die Behand­lung finan­ziert wird. Das zeigt sich auch visuell: Auf der Karte für geflüch­tete Personen sind hinten nicht wie üblich die Kontakt­daten verfasst, sondern es ist einfach mit X’s gefüllt.

Wie funk­tio­niert so ein Antrag ans Sozi­alamt genau?

EN: Zuerst muss die behan­delnde Ärztin bestä­tigen, dass du diese Behand­lung brauchst. Dann schickst du das dem Sozi­alamt. Sie wiederum entscheiden viel­leicht, dich für eine zweite Meinung zu einem ihrer Vertrau­ens­ärzte zu schicken. Schluss­end­lich entscheidet das Sozi­alamt: Manchmal sagen sie ja, manchmal nein – dann heisst es, die Behand­lung sei nicht nötig oder du hättest kein Anrecht darauf.

Kann man gegen den Entscheid ankämpfen?

EN: Man kann Beru­fung einlegen, aber der Prozess dauert lang und die Büro­kratie ist sehr kompli­ziert. Du musst wissen, wie eine solche Beru­fung formu­liert sein muss und wie du sie einreichst. Manchmal musst du dafür viel­leicht sogar eine Anwältin konsul­tieren. Es kann auch sein, dass du sehr viel Geld ausgibst, weil du für all diese Konsul­ta­tionen und Termine Zeit brauchst und ÖV-Tickets zahlen musst.

Ihr erwähnt in der Broschüre auch, dass gewisse Frauen im Kran­ken­haus nicht verstehen, was die Ärzt*innen sagen, weil es keine Übersetzer*innen gibt. Wieso funk­tio­niert das nicht besser?

MM: Weil sie uns diskri­mi­nieren. Es ist doch völlig normal, dass mal eine Person ins Kran­ken­haus kommt, die kein Deutsch spricht und darum eine Über­set­zung braucht. Aber bei uns machen sie sich die Mühe nicht. Das heisst, die Frauen verstehen die Ärzt*innen nicht und umge­kehrt. Wir werden meistens kaum unter­sucht und erhalten maximal etwas Paracetamol.

EN: Viele geflüch­tete Frauen haben keine Ahnung, dass sie ein Anrecht auf eine Über­set­zung hätten. Sie gehen also ins Kran­ken­haus und bekommen viel­leicht einen Arzt, der sich weigert, Englisch zu spre­chen und ihnen auch nicht sagt „ich kann dich nicht behan­deln, weil du mich nicht verstehst“. Übersetzer*innen würden natür­lich wieder Geld kosten, und das versu­chen sie zu vermeiden. Es ist ein diskri­mi­nie­rendes System.

Wie kann „Women in Exile“ in so einem Fall helfen?

EN: Wir bemühen uns natür­lich darum, eine Frei­wil­lige von „Women in Exile & Friends“ zu finden, welche die geflüch­tete Frau begleiten und für sie über­setzen kann. Die meisten unserer Frei­wil­ligen spre­chen aber leider nur Deutsch, Englisch und teil­weise noch Fran­zö­sisch. Anson­sten versu­chen wir die Frauen zu Ärzt*innen zu schicken, mit denen wir schon gute Erfah­rungen gemacht haben. 

Welche Forde­rungen habt ihr im Gesundheitsbereich?

EN: Wir fordern eine Gesund­heits­vor­sorge ohne Diskri­mi­nie­rung! Wir sind genauso Menschen, die krank werden und leiden – wahr­schein­lich sogar noch mehr aufgrund unseren Traumas. Ärzt*innen denken aber gar nicht so weit, dass wir gesund­heit­liche Probleme entwickeln könnten, die auf unseren Trau­mata oder unserem alltäg­li­chen Stress zurück­zu­führen sind. Viele geflüch­tete Frauen leiden zum Beispiel unter Depres­sionen oder haben Zysten.

„Women in Exile“ macht sehr viel Aufklä­rungs- und Öffent­lich­keits­ar­beit, vor allem aber auch Care-Arbeit für die Commu­nity. Wie kümmert ihr euch umeinander?

EN: Wir spre­chen viel mitein­ander und tauschen uns aus, sowohl in den Work­shops wie an unseren Sitzungen. Wir spre­chen offen über unsere Probleme und versu­chen einander gegen­seitig zu unter­stützen. Wir wissen, dass wir hier wenig­stens eine bessere Chance haben als dort, wo wir herge­kommen sind. Einige von uns, die schon länger hier sind, haben ein stabiles soziales Netz­werk – das ist sehr wichtig.

In Oktober kommt ihr an die Akti­ons­kon­fe­renz zu Care-Arbeit in Zürich. Worauf freut ihr euch?

EN: Wir freuen uns darauf, neue Personen und Perspek­tiven kennen­zu­lernen, die wir in unserer Kampagne aufnehmen können. Zudem möchten wir gerne darüber spre­chen, dass geflüch­tete Frauen oft dazu gedrängt werden, Care-Arbeit zu machen – ob zu Hause oder in der Lohn­ar­beit. Wir möchten betonen, dass wir auch andere Talente haben und uns nicht immer um alle und alles kümmern müssen. Wer es mag, soll Care-Arbeit machen, aber niemand soll dazu gedrängt werden.

Dieser Text ist zuerst bei der Fabrik­zei­tung erschienen.


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