Coro­na­krise: „Eine Flut von Hilfesuchenden“

Die Pandemie hat die Schweiz auch wirt­schaft­lich hart getroffen. Für viele Lohn­ab­hän­gige ist die Krise längst bittere Realität, der grosse Einbruch droht noch. 

Die zweite Welle der Pandemie habe die Schweiz „grad e chli verwütscht“, plau­derte Ueli Maurer kürz­lich in einem bundes­rät­li­chen Video in die Kamera. Offenbar war die Regie­rung davon über­rascht worden, dass die Fall­zahlen zu Beginn der kalten Jahres­zeit explo­dierten. Dabei hatten Epidemiolog:innen längst auf deren expo­nen­ti­elle Zunahme hinge­wiesen. Hören mochte das kaum jemand, zu sehr hatten sommer­liche Tempe­ra­turen und Contain­ment den Anschein von Norma­lität in die aufge­scheuchte Schweiz zurückgebracht.

Auch in wirt­schaft­li­chen Fragen ist eine ähnliche Verdrän­gungs­lei­stung zu beob­achten: Während in der Schweiz aber epide­mio­lo­gisch längst wieder die Notlage herrscht, wähnt man sich volks­wirt­schaft­lich noch beinahe in der warmen Jahres­zeit. Derzeit dürften jene Ökonom:innen, die Vorher­sagen treffen, mit dem Rotstift über ihren Büchern und Modellen brüten. Sie hatten in ihren Prognosen verhält­nis­mässig rosige Basis­sze­na­rien gemalt, in denen keine zweite Welle durch die Schweiz rollt. Noch Ende Oktober zitierte die Nach­rich­ten­agentur sda die Chefin von Adecco Schweiz: Es sei im Schweizer Arbeits­markt keine Krise zu befürchten.

Der Begriff der Krise ist umkämpft. Sein Einsatz wird von poli­ti­schen Akteur:innen behutsam abge­wogen. Ueli Maurer etwa wollte ihn an der Krisen-Pres­se­kon­fe­renz Anfang November partout nicht in den Mund nehmen. Mit dem schil­lernden Ausdruck droht man Konsument:innen zu veräng­stigen und poli­ti­sche Koor­di­naten zu verschieben: Poli­ti­sche Mass­nahmen werden plötz­lich denkbar, die zuvor ausge­schlossen waren. Wenn die Wirt­schaft eines Landes aber um über fünf Prozent schrumpft, dann muss man von einer Krise spre­chen. Und genau das sagt der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds (IWF) der Schweiz für dieses Jahr voraus.

Der wirt­schaft­liche Einbruch ist ein ungleich­för­miger Prozess. Er ruiniert die einen, während bei anderen die Kassen klin­geln. Amazon-Chef Jeff Bezos zählt seine Milli­arden, während Besitzer:innen von Restau­rants und Hotels den Medien ihre Misere klagen. Doch wie steht es um jene, die beson­ders hart von der Pandemie betroffen sind und die sich kaum öffent­lich zu Wort melden können?

„Für Hilfs­kräfte in der Gastro­nomie ist die Lage dramatisch“

„Wir beob­achten schon seit Wochen, dass deut­lich mehr Menschen Unter­stüt­zung benö­tigen als im Sommer. Derzeit sehen wir uns einer regel­rechten Flut von Hilfe­su­chenden gegen­über, die sich für staat­liche Leistungen anmelden wollen.“ Das sagt Fabio Weiler, Co-Leiter des Kafi Klick im Gespräch mit das Lamm. Das Internet-Café unter­stützt armuts­be­trof­fene Menschen in der Stadt Zürich, beson­ders jene, die keinen Computer besitzen, um Formu­lare und Anträge auszufüllen.

Zusätz­lich zur übli­chen Büro­kratie seien die Menschen in Not während der Pandemie auch auf hohe digi­tale Hürden gestossen, sagt Weiler. Bei der Unab­hän­gigen Fach­stelle für Sozi­al­hilfe (UFS) beob­achtet man derweil keine Zunahme der Anfragen, wie Geschäfts­leiter Andreas Hediger erklärt. Man erhalte aber auch in normalen Zeiten mehr Gesuche für recht­liche Unter­stüt­zung, als man bewäl­tigen könne.

Die Schwei­ze­ri­sche Konfe­renz für Sozi­al­hilfe (SKOS) hat im Früh­ling einen leichten Anstieg der Anmel­dungen regi­striert. Über den Sommer seien sie aber wieder auf das durch­schnitt­liche Niveau zurück­ge­gangen. Ende September – also bevor die Covid-Fall­zahlen explo­dierten – schrieb die SKOS, dass dieser Rück­gang vermut­lich auf Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung, Kurz­ar­beits­mass­nahmen und Erwerbs­er­satz zurück­zu­führen sei. Eine Prognose sei derzeit sehr schwierig, da die Entwick­lung von den weiteren staat­li­chen Reak­tionen abhänge, erklärt SKOS-Spre­cherin Ingrid Hess nun auf Anfrage. Derzeit geht man beim Fach­ver­band davon aus, dass bis 2022 etwa 28 Prozent mehr Menschen Sozi­al­hilfe beziehen müssen.

Detail­liert doku­men­tiert ist die Situa­tion auf dem Arbeits­markt. Das Bundesamt für Stati­stik (BFS) weist für das dritte Quartal 2020 rund 260’000 Erwerbs­lose aus, das sind 35’000 mehr als im Vorjahr. Diese Zahl sei in der aktu­ellen Situa­tion aber ein unzu­ver­läs­siger Indi­kator für die Entwick­lung, sagt Daniel Lampart, Chef­ökonom des Schwei­ze­ri­schen Gewerk­schafts­bundes (SGB).

„Wir verzeichnen deut­lich mehr Stel­len­su­chende als Anfang Jahr“, so Lampart gegen­über das Lamm. Dazu komme die immense Anzahl an Arbei­tenden in Kurz­ar­beit. „Derzeit deuten nicht nur die Indi­ka­toren auf eine Verschär­fung hin, wir kriegen auch entspre­chende Meldungen von unseren Mitglie­dern“, sagt der SGB-Ökonom.

Dies bestä­tigt auch ein Moni­to­ring der Jobver­mitt­lungs­platt­form der Regio­nalen Arbeits­ämter (RAV): Die Anzahl der Stel­len­su­chenden schoss ab Mitte März regel­recht in die Höhe. Im Sommer stabi­li­sierte sich die Lage auf hohem Niveau, um dann im Herbst erneut anzu­ziehen. Das BFS zählte im Oktober über 241’000 Stel­len­su­chende – über ein Drittel mehr als im Vormonat. Und dies, während gleich­zeitig die offenen Stellen stark rück­läufig sind.

Das Team des Kafi Klick helfe derzeit bis zu zehn Arbeits­su­chenden, sich auf dieselbe Stelle zu bewerben, sagt Co-Leiter Weiler. Beson­ders drama­tisch sei die Situa­tion für unge­lernte Hilfs­kräfte in der Gastro­nomie. Aber auch in der Reini­gung und in Teilen des Bauge­werbes präsen­tiere sich die Lage für wenig quali­fi­zierte Arbeiter:innen düster.

Als hätte man in der Schweiz zehn Wochen nicht gearbeitet

Wie hart die Pandemie den Arbeits­markt tatsäch­lich getroffen hat, zeigen Zahlen der Inter­na­tional Labour Orga­nization (ILO). Laut deren Covid-Monitor sind im zweiten Quartal 2020 welt­weit über 17 Prozent aller Arbeits­stunden wegge­fallen. Auf Anfrage liefert die UNO-Sonder­or­ga­ni­sa­tion auch Zahlen zur Schweiz: In den ersten neun Monaten sind demnach Arbeits­stunden von umge­rechnet 770’000 Voll­zeit-Arbeits­plätzen weniger gelei­stet worden als im Vorjahr.

Die Schweiz zählt rund fünf Millionen Beschäf­tigte, die sich umge­rechnet nicht ganz vier Millionen Voll­zeit­stellen teilen. Die Pandemie hatte also denselben Effekt, wie wenn sämt­liche Lohn­ab­hän­gigen in der Schweiz für zehn Wochen nicht gear­beitet hätten. Oder wie wenn kein Arbeits­platz existiert hätte. Dazu zählen die verlo­renen Stunden wegen Arbeits­lo­sig­keit, aber auch wegen Kurzarbeit.

Die gesell­schaft­li­chen Auswir­kungen wären deut­lich drama­ti­scher ausge­fallen, hätte der Staat den Einbruch nicht mit erwei­terter Kurz­ar­beits­ent­schä­di­gung aufge­fangen. Damit wurden vorerst viele Entlas­sungen verhin­dert. Bislang sind laut Oliver Schärli vom Staats­se­kre­ta­riat für Wirt­schaft (Seco) 8.3 Milli­arden Franken dafür aufge­wendet worden. Während der härte­sten Phase im Früh­ling kostete die Mass­nahme täglich 100 Millionen Franken, derzeit sind es rund 20 Millionen. „Aber wir verzeichnen wieder eine Zunahme von Anträgen“, erklärte Schärli Anfang November vor der Presse.

Die staat­li­chen Mass­nahmen vom Früh­ling sind beispiellos. Neben der Auswei­tung von Kurz­ar­beit wurde auch der Zugang zu Krediten erleich­tert und Betrei­bungen sistiert. Das gesamte Paket beläuft sich auf rund 70 Milli­arden Franken – rund zehn Prozent der jähr­li­chen Wirt­schafts­lei­stung der Schweiz. Der Absturz der Ökonomie konnte so ausge­bremst, eine Entlas­sungs­welle abge­flacht werden. Der IWF sah im Oktober – noch vor der zweiten Welle – dennoch einen Wirt­schafts­ein­bruch von minus 5.3 Prozent voraus, der stärkste Einbruch seit Dekaden.

Mit dem staat­li­chen Paket vom Früh­ling waren auch viele Firmen­pleiten aufge­schoben worden. Darum blieben zum Beispiel die Konkurs­mel­dungen im Kanton Zürich deut­lich hinter den letzten drei Jahren zurück. Das ändert sich aber gerade: Vor einigen Tagen teilten die Konjunkturforscher:innen der KOF mit, dass die Anzahl der Konkurse im Kanton Zürich und in der Nord­west­schweiz über den Normal­be­reich hinaus­ge­schossen seien. Dabei sind die meisten staat­li­chen Mass­nahmen noch nicht sehr lange ausgelaufen.

Das libe­rale Dogma vom Sparen

Ob der Staat nun wieder im selben Masse inter­ve­niert, ist mehr als frag­lich. Die Kulanz der ersten Welle ist vorbei, mitt­ler­weile wird über Hilfs­mass­nahmen hitzig debat­tiert. Die verein­fachte Kredit­ver­gabe lief im Juli aus, und statt sie zu erneuern, wird über soge­nannte Härte­fall­re­ge­lungen gestritten: die Rettung von bedrohten Firmen nach Einzel­fall­prü­fung, also keine breite Stüt­zung wie im Früh­ling. Offenbar dreht das Spar­ge­triebe im poli­ti­schen Räder­werk. Das alte Dogma der Neoli­be­ralen: bloss kein staat­li­ches Geld ausgeben! Die dadurch verur­sachten Schäden werden als „Struk­tur­be­rei­ni­gung“ ange­priesen, ganz so, als seien Konkurse und mensch­li­ches Elend ein natur­wüch­siger Prozess zum Nutzen der wirt­schaft­li­chen Entwicklung.

Wie nahe diese Ideo­logie an den Sozi­al­dar­wi­nismus gebaut ist, erweist sich derzeit. Offenbar hat sich die Regie­rung – auch auf Drängen einiger Wirt­schafts­ver­bände – entschieden, einen Teil der älteren Bevöl­ke­rung für den Staats­haus­halt zu opfern. Weniger drastisch kann man den Zusam­men­hang kaum benennen. Dass dieser Weg auch ökono­misch fatal ist, haben kürz­lich 60 Ökonom:innen in einem offenen Brief erklärt: Sie fordern einen Lock­down und staat­liche Stützung.

In der Schweiz, einem Gläu­bi­ger­staat mit tiefen Staats­schulden und eigener Zentral­bank, wären die notwen­digen Mass­nahmen zumin­dest mittel­fri­stig problemlos zu finan­zieren. SGB-Chef­ökonom Lampart weist zudem darauf hin, dass bei den Kran­ken­kassen Reserven von über elf Milli­arden Franken ange­häuft wurden. Der Gewerk­schafts­bund fordert nun, dass diese an die Haus­halte zurück­fliessen, um den Konsum zu stärken.

Die Entschei­dung für das Sparen statt für das Leben vermit­telt sich bereits durch die Insti­tu­tionen. Weiler vom Kafi Klick sagt: „Im Früh­ling war die Stim­mung eher: Wir lassen niemanden im Stich. Jetzt ziehen die Ämter deut­lich die Schraube an. Wir müssen mit unseren Besucher:innen ständig Sank­tionen anfechten.“

Von den komplexen Model­lie­rungen der Ökonom:innen kriegen diese kaum etwas mit. Auch die Debatten in den Parla­menten dürften viele nur als fernes Rauschen hören. Die Folgen hingegen spüren sie am eigenen Leib. Mitt­ler­weile harren die Hilfe­su­chenden bis zu zwei­ein­halb Stunden in der Kälte vor dem Kafi Klick aus, die Insti­tu­tion darf aus Pandemie-Gründen ihre Räume nicht öffnen. „Wir merken, dass die Leute mehr und mehr unter Druck geraten“, so Weiler.

 


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