COVID-19 im Libanon: Die Revo­lu­tion wird weitergehen

Mit dem Ausbruch des Coro­na­virus haben sich die im Oktober 2019 entflammten Proteste von der Strasse in die sozialen Netz­werke verlagert. 
Ein Kind, eine Frau und ein Mann
Wie weiter? Syrische Geflüchtete nehmen im Süden Libanons von der UNHCR geliefertes Hygienematerial entgegen (Foto: Lisa Abou Khaled, UNHCR).

„Der Lock­down wurde früh genug verhängt“, sagt Adham Hassa­nieh, einer der Initiant*innen der Proteste und Akti­vist bei der Grass­root-Bewe­gung Li Haqqi (‚Für meine Rechte‘) über Zoom. Dadurch konnten die Ansteckungen mit Corona bis jetzt im Rahmen gehalten werden. Es sei deswegen die Pflicht aller, sich an die Regeln zu halten und zu Hause zu bleiben, um rasch wieder aus dieser Krise herauszukommen.

Auch deshalb blieb die Innen­stadt von Beirut in den letzten Wochen menschen­leer. Seit Ende Oktober 2019 versam­melten sich dort und in anderen Städten im ganzen Libanon Woche für Woche zehn­tau­sende Demonstrant*innen. Sie errich­teten Zelt­städte, blockierten Strassen und verwü­steten Bank­fi­lialen, um bessere Lebens­be­din­gungen und ein Ende von Klien­te­lismus und Korrup­tion zu fordern. Die Protest­be­we­gung, die sich die Thawra-Parole (Revo­lu­tion‘) zum Namen machte, etablierte sich seither als mass­geb­liche ausser­par­la­men­ta­ri­sche Opposition.

Den dreissig revo­lu­tio­nären Gruppen gelang es über mehrere Monate, die Proteste aus dem ganzen Land konfes­si­ons­über­grei­fend zusam­men­zu­führen und über zivilen Unge­horsam ihren Anliegen Nach­druck zu verleihen. Ihr Druck führte Ende Oktober zum Sturz der Regie­rung. Das im Januar neu gebil­dete Technokrat*innen-Kabinett unter dem ehema­ligen Professor für Elek­tro­technik Hassan Diab schei­terte bisher damit, dem fort­lau­fenden Zusam­men­bre­chen der Wirt­schaft Einhalt zu gebieten. Die Lebens­mittel- und Medi­ka­men­ten­knapp­heit, die Perspek­tiv­lo­sig­keit und die allge­meine Depres­sion führten Ende Januar zu einer Eska­la­tion der Gewalt mit beinahe tägli­chen Ausein­an­der­set­zungen vor dem Parla­ments­ge­bäude in der Beiruter Innenstadt.

Noch immer ragt die Faust der Revo­lu­tion auf dem Märtyrer-Platz in die Höhe. (CC by Jonas Frey)

Diese wird nun von patrouil­lie­renden Sicher­heits­kräften (ISF) unter Kontrolle gehalten. Die ISF nutzen das momen­tane Vakuum aus und machen sich seit einigen Tagen daran, die zurück­ge­las­sene Infra­struktur der revo­lu­tio­nären Bewe­gung zu besei­tigen. „Die Zelte auf dem Märtyrer-Platz wurden von den Sicher­heits­kräften gewaltsam nieder­ge­rissen. Zuvor versuchten sie, die Blockaden vor dem Märtyrer-Platz zu besei­tigen. Diese Aktionen waren ein klarer Versuch, die physi­sche Präsenz der Revo­lu­tion in der Öffent­lich­keit zu zerstören“, sagt Adham Hassa­nieh und wirkt dabei hilflos. Ihm wird bewusst, dass der revo­lu­tio­nären Bewe­gung momentan ausser dem digi­talen Protest keine anderen Mittel mehr zur Verfü­gung stehen.

Zu Beginn der Corona-Krise haben sich die dreissig revo­lu­tio­nären Gruppen rasch zur Koope­ra­tion mit den lokalen Behörden durch­ge­rungen. Sie betei­ligen sich an der Vertei­lung von Hilfs­lie­fe­rungen und Hygie­ne­ma­te­rial und versu­chen dem Grund­satz der Revo­lu­tion – einen soli­da­ri­schen Libanon aufzu­bauen – gerade jetzt Geltung zu verleihen. Eine zu starke Ausbrei­tung des Virus würde die ohnehin schon anfäl­ligen Dienst­lei­stungs­be­reiche an den Rand des Kollapses bringen.

Das weit­ge­hend priva­ti­sierte Gesund­heits­sy­stem, in dem Corona-Patient*innen im Moment noch gratis behan­delt werden, würde bei einer rascheren Ausbrei­tung schnell an seine Grenzen stossen. Seit dem Staats­bank­rott Mitte März fehlen dem Libanon zudem die finan­zi­ellen Mittel und Devisen. Die Ende März von den Banken einge­führten Kapi­tal­kon­trollen bedeuten einen kompletten Bezugs­stopp für Dollars. Damit ist der vorläu­fige Höhe­punkt einer restrik­tiven Finanz­po­litik, die die Menschen tagtäg­lich zu spüren bekommen, erreicht.

Geflüchtet und gefährdet

Um das Schlimmste zu vermeiden, betei­ligen sich alle zivil­ge­sell­schaft­li­chen Akteure daran, die Ansteckungs­kurve flach zu halten, und rufen dazu auf, nur in drin­genden Notfällen nach draussen zu gehen. Damit sollen die am meisten gefähr­deten Bevöl­ke­rungs­gruppen geschützt werden – ältere Menschen und die Geflüch­teten in Camps. Neben den bis zu 500’000 palä­sti­nen­si­schen Geflüch­teten befinden sich im Libanon rund 1.5 Millionen Geflüch­tete aus Syrien. 20 Prozent von ihnen leben in infor­mellen Zelt­un­ter­künften, in welchen eine Verbrei­tung des Virus einer Kata­strophe gleich­kommen würde. „Der Rest lebt in anderen Unter­künften, unter sehr kriti­schen Bedin­gungen“, sagt Lisa Abou Khaled, Spre­cherin der UNHCR im Libanon. „Wir haben sehr früh auf Covid-19 reagiert, um die Verbrei­tung des Virus unter Geflüch­teten zu unter­binden und um die nötigen Dienste vorzu­be­reiten, falls es dazu kommen sollte.“ Viele von ihnen leben ohne Aufent­halts­be­wil­li­gung im Libanon und sind in der momen­tanen Lage mehr denn je auf die Dienste der UNHCR ange­wiesen. Mit dem Aufbau von provi­so­ri­schen Spitä­lern und neuen Unter­künften versucht diese, so gut es geht die Bedin­gungen für eine Notlage einzurichten.

„Die Geflüch­teten werden noch mehr gefährdet, als sie ohnehin schon sind. Die momen­tane Krise verrin­gert ihre sonst schon knappen Möglich­keiten, Zugang zu Leistungen zu erhalten“, führt Lisa Abou Khaled aus. Mit Spen­den­auf­rufen versucht die UNHCR zusammen mit anderen Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen, die finan­zi­ellen Mittel für die Versor­gung der Geflüch­teten aufzu­stocken. 76 Prozent von ihnen leben unter der Armuts­grenze, 54 Prozent in extremer Armut. Die Untä­tig­keit des Staates bei der Versor­gung und die deso­laten Zustände der Infra­struktur machen den Einsatz der Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen umso wichtiger.

Dass die Situa­tion der Geflüch­teten im Moment prekärer denn je ist, liegt auch daran, dass das Sechs-Millionen-Land zu lange von der Welt­ge­mein­schaft im Stich gelassen wurde. Der Libanon trägt mit der Unter­brin­gung und Versor­gung der Geflüch­teten eine enorme Bürde und hätte längst entla­stet werden müssen durch die Euro­päi­sche Union. Diese – und vor allem Frank­reich als ehema­lige Kolo­ni­al­macht – wusste bisher nichts mit den verän­derten poli­ti­schen Verhält­nissen im Libanon anzu­fangen. Die EU tut sich schwer, vom Stand­punkt abzu­kommen, die liba­ne­si­sche Regie­rung müsse den Reform­willen der Bevöl­ke­rung respek­tieren, bevor es zu Finanz­hilfen komme. Die euro­päi­schen Staaten haben es versäumt, vertrau­ens­volle Verhand­lungs­partner jenseits der korrupten und von der schii­ti­schen Hisbollah gestützten Regie­rung zu finden. Dies wäre nötig, um rich­tige huma­ni­täre Hilfe für die Geflüch­teten und die liba­ne­si­sche Bevöl­ke­rung zu leisten.

Dabei hätten die revo­lu­tio­nären Gruppen das Poten­tial, diese Rolle zu über­nehmen. Sie würden unbe­fan­gener mit den euro­päi­schen Staaten zusam­men­ar­beiten beim Wieder­aufbau der Wirt­schaft und der zerrüt­teten Insti­tu­tionen. Und sie könnten eine Alter­na­tive zu den reli­giösen Gesell­schafts­struk­turen bieten, welche die Menschen seit Ende des Bürger­krieges bestimmen.

Im Schul­ter­schluss mit lokalen Behörden und Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen werden sie sich deshalb an der schnellen Been­di­gung der Corona-Krise betei­ligen, indem sie sich dafür stark­ma­chen, dass die ausge­ru­fenen Regeln befolgt werden – auch damit die Proteste so schnell wie möglich wieder auf die Strasse zurück­kehren können.

Adham Hassa­nieh ist über­zeugt, dass eine konkrete Alter­na­tive zu den bestehenden Verhält­nissen nach dem Ende des Lock­downs drin­gender denn je sein wird. Die neuen Gewalt­akte der Sicher­heits­kräfte würden die Notwen­dig­keit einer Wider­auf­nahme des Protests gerade noch einmal verdeut­li­chen: „Die Revo­lu­tion wird auf jeden Fall von neuem ange­heizt werden.“


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