Libanon: Ein neues Kabi­nett, während die Gesell­schaft zerfällt

Seit 2019 verschlech­tert sich die Lage in Libanon: soziale Verwer­fungen, Wirt­schafts­krise, poli­ti­scher Still­stand. Jetzt gibt es eine neue Regie­rung. Unser Gast­autor, der Akti­vist Adham Al Hassa­nieh über die Kern­pro­bleme des Landes. 
Symbol des Zusammenbruchs: der zerstörte Hafen von Beirut. (Foto: Rashid Khreiss, Unsplash)

Am 12. September 2021 einigten sich die Rivalen und Anführer der sechs grossen Parteien des Libanon nach 13 Monaten Zänkerei inmitten einer beispiel­losen Finanz­krise auf die Bildung eines neuen Kabi­netts. Najib Mikati, ein Milli­ardär, der für seine globalen Geschäfte im Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­sektor bekannt ist, wird zum neuen Premier­mi­ni­ster ernannt. Damit führt er zum dritten Mal seit 2011 eine Regie­rung an.

Das neuge­formte Kabi­nett muss errei­chen, was seinen Vorgänger:innen seit Beginn der Finanz­krise 2019 miss­lang. Die Haupt­auf­gabe besteht darin, das Land schritt­weise hin zu poli­ti­scher und fiska­li­scher Stabi­lität zu führen. Zuoberst auf ihrer Agenda muss eine sofor­tige Lösung für die das Land lähmende Strom­krise stehen.

Knapp­heit, Kartelle, Armut

Die Regie­rung Mikatis tritt inmitten einer schlimmen Ener­gie­krise an. Aufgrund von Verzö­ge­rungen von Treib­stoff­lie­fe­rungen ist das staat­liche Elek­tri­zi­täts­un­ter­nehmen Elec­tri­cité du Liban (EDL) nicht in der Lage, ausrei­chend Strom bereit­zu­stellen, um die Lichter anzu­halten. Gleich­zeitig leidet auch das inof­fi­zi­elle und über die letzten Jahre expan­die­rende Netz­werk von Diesel-Strom-Produzent:innen unter Treib­stoff-Knapp­heit, da Händler:innen vermehrt Dieselöl horten, um es in der Zukunft zu höheren Preisen zu verkaufen. 

Seit einigen Monaten kontrol­lieren private Öl-Importeur:innen, die meistens mit dem poli­ti­schen Estab­lish­ment verban­delt sind und in Libanon als „Treib­stoff-Kartell“ bezeichnet werden, den Vertrieb von Erdöl­pro­dukten. Dies hat zu Benzin- und Diesel­mangel an Tank­stellen im ganzen Land geführt, an denen Libanes:innen nun stun­den­lang Schlange stehen, um ihre Autos wieder aufzufüllen.

Hinzu kommt: Die liba­ne­si­sche Zentral­bank Banque du Liban (BDL) kann ange­sichts schwin­dender Devi­sen­re­serven keine Treib­stoff­pro­dukte mehr subven­tio­nieren. In Anbe­tracht der nahenden Entschei­dung, die bestehenden Subven­tionen voll­ständig abzu­schaffen, wird sich die Ener­gie­krise noch verschlimmern.

Die Abschaf­fung der Subven­tionen für funda­men­tale Gebrauchs­güter wie Treib­stoff, Medi­ka­mente und Mehl ist nicht mehr abwendbar – der Staat ist faktisch bankrott.

Laut der Wirt­schafts- und Sozi­al­kom­mis­sion für West­asien (ESCWA) der Vereinten Nationen hat die Armut in Libanon im letzten Jahr „drastisch zuge­nommen“. Mitt­ler­weile leben 74 Prozent der Bevöl­ke­rung in Armut, 82 Prozent in mehr­di­men­sio­naler Armut, die auch andere Faktoren als das Einkommen berück­sich­tigen, wie zum Beispiel Zugang zu Gesund­heits­ver­sor­gung, Bildung und öffent­li­chen Einrich­tungen. Die multi­di­men­sio­nale Armut hat sich im Libanon seit 2019 von 42 Prozent bis 2021 beinahe verdoppelt.

Neue alte Elite und kommende Parlamentswahlen

Najib Mikati, der auf der Liste der reich­sten Libanes:innen einen der ersten Plätze einnimmt und dessen Vermögen sich laut Forbes auf 2.9 Milli­arden US-Dollar beläuft, vertritt als Parla­men­ta­rier den Wahl­kreis Tripoli, eine der ärmsten Regionen des Landes. Nicht nur in Libanon wird seine Tätig­keit als Unter­nehmer kritisch gesehen, zuletzt wurden auch inter­na­tional Vorwürfe gegen ihn laut. Mehr als 400 Bürger­rechts­gruppen aus Myanmar legten aufgrund von menschen­recht­li­chen Bedenken Beschwerde gegen ein Angebot der M1 Group ein, eine Firma, die Mikati und seinem Bruder gehört und eine der grössten Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­firmen von Myanmar über­nehmen wollte.

Neben Mikati kommen viele Minister:innen des neuen Kabi­netts aus dem Banken- und Finanz­sektor. So etwa der neuernannte Finanz­mi­ni­ster Youssef El-Khalil, der gleich­zeitig Direktor der Abtei­lung für Finanz­ope­ra­tionen der liba­ne­si­schen Zentral­bank ist. El-Khalil gilt als Archi­tekt der stark in der Kritik stehenden Finanz­ope­ra­tionen der Zentral­bank. Gegen den Chef der Zentral­bank, Riad Salameh, läuft in der Schweiz momentan ein Verfahren wegen Geld­wä­sche und Veruntreuung.

Ironi­scher­weise reprä­sen­tiert El-Khalil den schii­ti­schen und vom Iran mili­tä­risch ausge­rü­steten Hizbullah und die mit ihm verbün­dete Amal-Bewe­gung, währenddem der Hizbullah Riad Salameh als „Gesandter der USA in Libanon“ bezeichnet. Unter dem Deck­mantel der Propa­ganda vereint sie jedoch beide, dass sie ihre eigenen Privi­le­gien als Teil der alten Elite sichern wollen.

Die Zusam­men­set­zung der neuen Regie­rung ist Ausdruck davon, dass die seit dem Ende des Bürger­krieges 1990 bestehende Auftei­lung der poli­ti­schen Macht unter den grossen sechs poli­ti­schen Anfüh­rern des Libanon weiter­gehen soll. Diese Regie­rung wird den Inter­essen und Vorteilen der grossen Anleger:innen und Banken entge­gen­kommen, während ein Gross­teil der Gesell­schaft nicht aus der Armut heraus­kommen und ihr Lebens­stan­dard noch weiter sinken wird.

Denn das Haupt­an­liegen der herr­schenden Olig­ar­chie in Libanon besteht darin, so margi­nale Reformen wie möglich aufzu­gleisen, um die Bedin­gungen des Inter­na­tio­nalen Währungs­fonds (IWF) und der Welt­bank zu erfüllen, damit ein stabiler Zufluss von Fremd­wäh­rungen zur Bewäl­ti­gung des aktu­ellen Defi­zits statt­finden kann.

Das Kern­pro­blem des liba­ne­si­schen Politik- und Regie­rungs­sy­stems ist die Abwe­sen­heit eines ganz­heit­li­chen Ansatzes, um funda­men­tale Reformen herbei­zu­führen, die die Renten­öko­nomie – die Erwirt­schaf­tung hoher Einkommen ohne Eigen­lei­stung durch poli­ti­sche Akteur:innen, indem sie die Knapp­heits­lage auf dem Rücken der gesell­schaft­li­chen Allge­mein­heit für sich ausnutzen – über­windet. Anstelle des bestehenden fragilen, kapi­ta­li­sti­schen Status quo braucht es ein nach­hal­tiges System, das auf Produk­tion, Infra­struktur und Bezahl­bar­keit der Grund­güter und ‑leistungen basiert. 

Im Zuge der Proteste seit dem 17. Oktober 2019 und der verhee­renden Explo­sion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 hat sich die herr­schende Klasse aber dazu entschlossen, die refor­mi­stisch-progres­sive Oppo­si­tion mit aggres­siven Mitteln zu bekämpfen, anstatt den Aufbau eines nach­hal­tigen Systems zu unter­stützen, der einer Mehr­heit der Libanes:innen mit tiefen und mitt­leren Einkommen ein besseres Leben ermög­li­chen würde.

Nur indem die liba­ne­si­sche Gesell­schaft darauf drängt, sich alle poli­ti­schen Instru­mente zu eigen zu machen, um die herr­schende Klasse bei den kommenden Parla­ments­wahlen heraus­zu­for­dern und indem sich mehr Menschen in sozialen Gras­wur­zel­be­we­gungen, Gewerk­schaften und Univer­si­täten zu orga­ni­sieren beginnen, kann in den kommenden Jahren ein radi­kaler Wandel der poli­ti­schen Land­karte herbei­ge­führt werden. 


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