Das Ende der Solidarität

Immer und überall wird um Soli­da­rität gebeten, dabei ist der Begriff längst zur Floskel verkommen. Es gibt bessere Begriffe für den gemein­samen Kampf gegen Unge­rech­tig­keit, findet unser Kolumnist. 
Wir brauchen keine allies – wir brauchen Genoss*innen! (Bild: Midjourney / Kira Kynd)

Für Schriftsteller*innen kann es nicht viel Schlim­meres geben, denn als „Klas­siker“ bezeichnet zu werden, besagt ein geflü­geltes Wort. Thomas Mann beispiels­weise, sei schon zu Lebzeiten als Klas­siker „mumi­fi­ziert“ worden. Mit dem Kult um eine Person oder ihr Werk geht eine Art symbo­li­sche Beer­di­gung einher.

Ganz ähnlich erging es dem Begriff der Soli­da­rität. Auch er ist bereits mumi­fi­ziert, hinter der Wort­hülse steckt kaum noch Substanz. Die SPD, die in Deutsch­land den Bundes­kanzler stellt und wie keine andere Partei für den Sozi­al­abbau der vergan­genen 20 Jahre steht, spricht beinahe pausenlos von ihr. Und selbst die schwei­ze­ri­sche SVP ist sich nicht zu schade, den Soli­da­ri­täts­be­griff für die eigene Agenda zu nutzen, wenn sie behauptet, „das Asyl-Chaos“ würde die Soli­da­rität der Schweizer Bevöl­ke­rung zerstören.

Höchste Zeit zu über­prüfen, ob der Begriff noch für eman­zi­pa­to­ri­sche Anliegen taugt.

„David gegen Goliath“ ist hier Programm: Olivier David gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

Soli­da­rität als frei­wil­lige Geste

In west­li­chen Demo­kra­tien werde zuneh­mend versucht, „sozial verbriefte Rechte und Unter­stüt­zungs­lei­stungen auf das Prinzip der Soli­da­rität zu beziehen“, bemerkt der Philo­soph Martin Hart­mann. Was selbst­ver­ständ­lich ist, wird zum gross­her­zigen Akt umgedeutet.

Im Mai 2023 riefen etwa die Grünen in Deutsch­land Bund, Länder und Kommunen zu einer soli­da­ri­schen Zusam­men­ar­beit auf, was die Bewäl­ti­gung und Unter­brin­gung von Flüch­tenden aus der Ukraine angeht. Dabei handelt es sich um Kriegs­flücht­linge. Was die Grünen als soli­da­ri­sche Hand­lung einfor­dern, ist nichts anderes, als der Appell an die Behörden: Macht euren Job!

Mit der modernen Ausprä­gung unseres Soli­da­ri­täts­be­griffs seien zudem diszi­pli­nie­rende Mass­nahmen verbunden, schreibt Hart­mann. Verbriefte Bürger­rechte, etwa die Grund­si­che­rung, werden plötz­lich als frei­wil­lige, „soli­da­risch“ leist­bare humane Akte gerahmt, die der Staat gross­zügig an die Bürger*innen auszahlt – und gleich­zeitig an Bedin­gungen und Gegen­lei­stungen knüpft.

Soli­da­rität wird heute allzu oft als Bonus verstanden, um sich und anderen zu zeigen, dass man auf der rich­tigen Seite steht.

So werden etwa in Deutsch­land bei Nicht­be­tei­li­gung bei der Arbeits­suche Sank­tionen ausge­spro­chen, wodurch den Menschen, die Bürger­geld beziehen, bis zu 30 Prozent der Leistungen gekürzt werden können. Leistungen, die selbst voll ausge­zahlt nur knapp das Existenz­mi­nimum abdecken. Als wäre es keine recht­lich gesi­cherte Selbst­ver­ständ­lich­keit, dass der Staat das Über­leben der Bürger*innen sichert – und zwar bedingungslos.

Soli­da­rität wird heute allzu oft als Bonus verstanden, um sich und anderen zu zeigen, dass man auf der rich­tigen Seite steht. Aber dort, wo eigent­lich zuge­si­cherte Rechte als frei­wil­lige huma­ni­täre Hand­lungen umge­deutet werden, da stehen sie auch jeder­zeit zur Dispo­si­tion oder werden an Bedin­gungen geknüpft.

Welche Berech­ti­gung hat der so verwäs­serte Soli­da­ri­täts­be­griff also noch in der gesell­schaft­li­chen Linken, wo andau­ernd „calls for soli­da­rity“ kursieren, in denen um Spenden, Demobe­tei­li­gung und Aufmerk­sam­keit geworben wird?

Ich meine: Gar keine. Weg damit.

Absurder Begriff

Während sich der Begriff der Soli­da­rität an dieje­nigen richtet, die über Ressourcen verfügen, wäre es lohnender, jene zu adres­sieren, die nicht nur über eine diffuse  Vorstel­lung vom sozialen Elend unserer Gesell­schaft verfügen, sondern direkt betroffen sind: Die untere Klasse.

In der Schweiz können 25 Prozent der Menschen kein Geld zurück­legen, in Deutsch­land sind es 30 Prozent. Wenn die Wasch­ma­schine den Geist aufgibt oder plötz­lich das Auto stot­tert, wenn eine Zuzah­lung für eine medi­zi­ni­sche Behand­lung fällig wird, dann stehen diese Millionen von Menschen vor oft unlös­baren Problemen.

Menschen, die poli­tisch aktiv sind, haben häufiger einen höheren sozio­öko­no­mi­schen Status. Sie sind oftmals die Adressat*innen von Soli­da­ri­täts­auf­rufen, weil sie die Ressourcen haben, sich soli­da­risch einzubringen.

Eine bessere Welt erschaffen wir nicht, indem irgend­welche Anjas und Tims ihre Privi­le­gien checken und soli­da­risch teilen.

Gleich­zeitig ist die erdrückende Mehr­heit der Menschen, die wohl­ha­bend sind, nicht poli­tisch aktiv – weil der bürger­liche Staat und seine Insti­tu­tionen ohnehin in ihrem Sinne agiert. So steigt mit zuneh­mendem Einkommen zwar das Umwelt­be­wusst­sein. Doch gleich­zeitig tragen Menschen aus dem Bürgertum und Reiche über­durch­schnitt­lich viel zur Klima­krise bei.

Das zeigt, wie absurd der Begriff der Soli­da­rität ist. Wer vom gegen­wär­tigen System profi­tiert, mag als ally (dt. Verbündete*r) soli­da­ri­sche Akte voll­ziehen und sich mittels Privi­le­gien-Check die eigene Vorherr­schaft einge­stehen. Doch an der grund­le­genden Unge­rech­tig­keit rüttelt die über­wäl­ti­gende Mehr­heit dieser Menschen nicht.

Wir brau­chen Genoss*innen

Es ist höchste Zeit, den Begriff der Soli­da­rität zugun­sten anderer Begriffe einzu­tau­schen. Dem des Klas­sen­kampfes zum Beispiel – der ist poli­tisch weniger naiv und lohnt sich wieder­be­lebt zu werden. Eine bessere Welt erschaffen wir nicht, indem irgend­welche Anjas und Tims ihre Privi­le­gien checken und soli­da­risch teilen. Die Zeit, an so etwas zu glauben, ist längst abgelaufen.

Menschen ohne jegli­ches Erspartes sind es, die ange­spro­chen werden müssen. Sie müssen sich zusam­men­schliessen, denn gemeinsam haben sie die Macht. Und zwar nicht eine diffuse Macht, nein, eine ganz reale – denn viele von ihnen arbeiten tagtäg­lich an den Schal­tern und Hebeln der Produktionsmittel.

Aber bei Arbeiter*innen in den Betrieben soll es nicht bleiben. Schliess­lich finden sich Armuts­be­trof­fene und prekär Beschäf­tigte beinahe überall. Egal ob Studie­rende, Allein­er­zie­hende, Rassi­fi­zierte oder Erkrankte; in allen mögli­chen sozialen Perso­nen­gruppen (und an ihren Orten) gibt es grund­sätz­lich die Möglich­keit der Intervention.

Ich möchte noch ein weiteres, aus der Mode gekom­menes Wort reak­ti­vieren; den Genossen. In ihrem gleich­na­migen Essay schreibt die ameri­ka­ni­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Jodi Dean: „Ich begreife den Genossen als allge­meine Chiffre für das poli­ti­sche Verhältnis von Menschen auf derselben Seite einer poli­ti­schen Barri­kade.“ Genoss*innen, im Sinne Deans, sind Menschen, die sich zweck­ge­richtet zusam­men­schliessen, um für Verän­de­rungen zu kämpfen. Genos­sen­schaft­lich­keit ist ein viel wirkungs­vol­leres Mittel, als das immer mehr zur frei­willig verkom­mene leist­bare Prinzip der Solidarität.

Während der ally für Dean „den Rückzug oder Nieder­gang des Poli­ti­schen“ beschreibt, also eine „indi­vi­dua­li­sti­sche Selbst­hil­fe­technik“ ist, durch den die gesell­schaft­li­chen Probleme auf das Indi­vi­duum rück­ge­kop­pelt werden (bilde dich, checke deine Privi­le­gien, erwarte nichts), sind Genoss*innen – im Gegen­satz zu allies – auf Augen­höhe: „egalitär, gene­risch, utopisch“.

Das Verhältnis der Genoss*innen zuein­ander, so Dean, ist nach Aussen gerichtet – und dort, im Aussen, in der Realität, brau­chen wir die Verän­de­rung, die den ausge­lutschten Begriff der Soli­da­rität ersetzt.


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