Das grosse Umgraben

Wenn Forschende mit kolo­nia­li­sti­schen Methoden vorgehen, verschwinden Puzzle­teile der Evolu­ti­ons­ge­schichte. Was solch unlau­tere Prak­tiken angeht, steht auch die Schweizer Urge­schichts-Forschung schlecht da. Dass es anders geht, zeigt die nächste Gene­ra­tion von Paläontolog*innen.
In der Paläontologie besteht nach wie vor ein globales Machtungleichgewicht (Illustration: Luca Mondgenast).

Im Jahr 2020 tren­dete ein Hashtag mit einer scharfen Kritik auf Twitter: #Ubira­ja­ra­Belong­stoBR. Ubira­jara jubatus, eine bislang unbe­kannte Dino­sau­ri­erart, war von einem deutsch-englisch-mexi­ka­ni­schen Forschungs­team als zentrales Glied der Evolu­ti­ons­kette von Repti­lien zu Vögeln iden­ti­fi­ziert worden. Die Arbeit grün­dete auf einem Dino­sau­ri­er­kno­chen aus Brasi­lien, über dem Forschende im Natur­kun­de­mu­seum Karls­ruhe seit Jahren die Köpfe zusam­men­ge­steckt hatten. Nun entpuppte sich dieser als sensa­tio­neller Fund. Die Euphorie war gross.

Als die Ergeb­nisse veröf­fent­licht wurden und Paläontolog*innen in Südame­rika Wind von dem Projekt bekamen, hagelte es umge­hend Kritik an der Vorge­hens­weise der Studienautor*innen. Sie hatten nämlich ausge­blendet, dass der Dino-Knochen 1995 von den deut­schen Ausgrabungsleiter*innen unter dubiosen Bedin­gungen nach Karls­ruhe gebracht worden war.

Die erzürnten brasi­lia­ni­schen Kolleg*innen, von denen niemand in die Unter­su­chung einbe­zogen wurde, forderten dessen Rück­gabe. Welt­weit stimmten kriti­sche Forschende den Brasilianer*innen zu und machten ihrem Unmut über das neo-kolo­niale Vorgehen des Karls­ruher Teams auf den sozialen Medien Luft.

Nach langem Streit kehrte das Saurier-Fossil im Juli 2022 nach Brasi­lien zurück. Die Fach­zeit­schrift Creta­ceous Rese­arch, in der die Studie publi­ziert wurde, zog diese zurück. Seither ruhen die gewon­nenen Erkennt­nisse im Niemandsland.

Ubira­jara ist kein Einzelfall

„Das wäre auch anders gegangen“, sagt Emma Dunne von der Fried­rich-Alex­ander-Univer­sität Erlangen-Nürn­berg. „Besser.“ Sie ist eine von vielen jungen Paläontolog*innen, die kolo­nia­li­sti­sche Forschungs­prak­tiken kriti­sieren. Im Jahr 2021 belegte sie mit Kolleg*innen, dass 97 Prozent aller Berichte über Fossi­li­en­funde der letzten 30 Jahre welt­weit von Forschenden in wirt­schaft­lich gut situ­ierten Staaten stammen. Dabei kommen die Fossi­lien meist aus anderen, oft ärmeren und ehemals kolo­nia­li­sierten Ländern. Und: Ein frap­pie­render Anteil der Studien wird ohne Forschende aus den Ländern durch­ge­führt, in denen die Knochen gefunden werden.

Auch in der Schweiz: Bei mehr als der Hälfte aller von Schweizer Paläontolog*innen veröf­fent­lichten Studien sind keine lokalen Wissenschaftler*innen beteiligt.

„Wir bezeichnen diese Praktik als Fall­schirm-Wissen­schaft“, erzählt Emma Dunne. Wie bei einem Fall­schirm­sprung landen Forschende des globalen Nordens in anderen Ländern. Dort führen sie Ausgra­bungen durch und nehmen die Fossi­lien anschlies­send mit nach Hause. Lokale Expert*innen werden dabei übergangen. 

Das bringt zwei wesent­liche Probleme mit sich. Erstens: Forschende aus den wirt­schaft­lich benach­tei­ligten Regionen der Fund­stätten haben keinen Zugang mehr zu den Fossi­lien. Das ist ethisch unhaltbar und schlecht für die Wissen­schaft. Denn ohne die Exper­tise lokaler Wissenschaftler*innen gehen wich­tige Infor­ma­tionen verloren – über die Fund­orte und die Bedin­gungen, die dort herr­schen. Diese kennen orts­an­säs­sige Forschende meist besser als Aussenstehende.

Zwei­tens: Die Herkunft der Objekte wird oft nicht trans­pa­rent doku­men­tiert, wie der Fall Ubira­jara zeigt. Mit gravie­renden Folgen für die Forschung selbst: Wenn Unter­su­chungen zurück­ge­zogen werden müssen, weil die Fund­stücke unter unklaren gesetz­li­chen Verhält­nissen durch die Welt­ge­schichte reisen, verschwinden ganze Spezies aus der Erdgeschichte.

97 Prozent der fossilen Daten in der Paläo­bio­logie-Daten­bank (PBDB) stammen aus Publi­ka­tionen von Autor*innen, die in Ländern mit höherem und mitt­lerem Einkommen, vor allem in Nord­ame­rika und West­eu­ropa, ansässig sind. Die Fund­orte der foss­lien Daten sind aber über die ganze Welt verteilt.
(Grafik: Colo­nial history and global econo­mics distort our under­stan­ding of deep-time biodi­ver­sity, by Nuss­aïbah B. Raja, Emma M. Dunne, Aviwe Mati­wane, Tasnuva Ming Khan, Paulina S. Nätscher, Aline M. Ghilardi & Deva­priya Chattopadhyay)

Gefor­dert: Zusam­men­ar­beit auf Augenhöhe

Um mit derart zwei­fel­haften und unglei­chen Verhält­nissen aufzu­räumen, kämpft Dunne gemeinsam mit Kolleg*innen wie Omar Rega­lado Fernandez für ein Umdenken. Rega­lado Fernandez ist Palä­on­to­loge an der Eber­hard-Karls-Univer­sität Tübingen. Im Jahr 2014 kam er für sein Doktorat nach England, seit 2021 ist er in Deutsch­land tätig. Da er in Mexiko aufwuchs und auch dort studiert hat, ist er mit dem Thema seit Beginn seiner Karriere vertraut und setzt sich in inter­na­tio­nalen Fach­ver­bänden für einen kriti­schen Dialog ein. Konkret fordern die Jung-Paläontolog*innen ein Ende der kolo­nialen Prak­tiken. Das heisst, lokale Expert*innen sollen von Anfang an in Feld­stu­dien mitein­be­zogen werden.

„Es sollte selbst­ver­ständ­lich sein, sich mit Spezialist*innen vor Ort in Verbin­dung zu setzen, um ein Vorhaben gemeinsam zu planen“, sagt Dunne. Dazu gilt es aller­dings, kultu­relle und sprach­liche Hürden zu über­winden, sich mit der Geset­zes­lage vor Ort vertraut zu machen und finan­zi­elle Verhält­nisse abzu­klären. „Das ist aufwendig und oft mühselig.“ Rega­lado Fernandez ergänzt: „Die Gemein­schaft der Forschenden dazu zu bringen, einen solchen Aufwand zu betreiben, ist ein lang­wie­riger Prozess.“

Dazu gehöre die Bereit­schaft, unbe­queme Gespräche zu führen. „In der Palä­on­to­logie ist so eine Konflikt­fä­hig­keit noch nicht sehr gängig, vor allem die ältere Gene­ra­tion ist oft skep­tisch gegen­über Team­work mit Kolleg*innen vor Ort.“ Häufige Argu­mente sind, dass die Zeit durch inter­kul­tu­relle Kolla­bo­ra­tion verzö­gert werde oder dass nicht genug Ressourcen vorhanden seien, um die notwen­digen zusätz­li­chen Team­mit­glie­dern wie etwa Übersetzer*innen einzu­binden. „Wir stehen erst am Anfang“, meint Rega­lado Fernandez.

Am Ende aber soll inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit auf Augen­höhe entstehen, fordern die jungen Paläontolog*innen. Dazu gehört das gemein­same Schreiben von Arti­keln ebenso wie der Zugang zu Fund­stücken und die Offen­le­gung von deren Herkunft.

Die Digi­ta­li­sie­rung könnte helfen

Zumin­dest beim Zugang zu den Funden ist einiges in Bewe­gung. Hier könne die Digi­ta­li­sie­rung von Fund­ob­jekten und der Aufbau virtu­eller Museen helfen, meinen die kriti­schen Forscher*innen. Dabei werden wich­tige Infor­ma­tionen zu den Fossi­lien in Online-Daten­banken hinter­legt. So können die Objekte unter­sucht werden, ohne dass Fossi­lien oder Forschende kost­spie­lige Reisen antreten müssen.

Die Digi­ta­li­sie­rung palä­on­to­lo­gi­scher Samm­lungen wird nach und nach auch in Schweizer Museen disku­tiert. Aller­dings auch kritisch: „Solche Vorhaben brau­chen umfang­reiche Ressourcen, die nicht alle Museen und Forschungs­ein­rich­tungen haben“, gibt Loïc Costeur, Kurator im Natur­hi­sto­ri­schen Museum Basel, zu bedenken. Er koor­di­niert aktuell die Digi­ta­li­sie­rung der wich­tig­sten Basler Fund­stücke. Die Gelder dafür kommen von einer Initia­tive der Schweizer Akademie der Natur­wis­sen­schaften, die die Schaf­fung einer schweiz­weiten virtu­ellen Samm­lung unterstützt.

Doch was tun mit all den Objekten, die seit Jahr­zehnten in Archiven des globalen Nordens ruhen und aufgrund mangelnder Ressourcen nicht digital erfasst werden können?

Emma Dunne pocht auf Trans­pa­renz und auf die Bereit­stel­lung der notwen­digen Finan­zie­rung. „Die Umstände, unter denen Fund­stücke in den Besitz von Insti­tu­tionen gelangten, müssen offen­ge­legt werden“, fordert sie. Das gilt für Univer­si­täten ebenso wie für Muse­ums­ar­chive. Neben dem Herkunftsort sollte klar beschrieben werden, unter welchen Umständen ein Fund­stück die Reise in den reichen Westen ange­treten hat – also auch, ob mögli­cher­weise unklare gesetz­liche Verhält­nisse herrschten.

Omar Rega­lado Fernandez ortet hier den Kern eines Problems mit weit­rei­chenden Folgen: „Viele Menschen trauen der Wissen­schaft nicht, weil sie das Gefühl haben, dass sie nicht trans­pa­rent genug ist. Wir müssen endlich offen darüber spre­chen, wie wir vorgehen – auch in der Palä­on­to­logie.“ Die kommende Gene­ra­tion will sich dem Unbe­hagen stellen. Auch wenn es bis zu einem durch­gän­gigen Umdenken noch ein langer Weg ist.


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