Das Lamm: Rosa Nicole*, seit Wochen greift die Türkei die kurdischen Provinzen in Nordostsyrien an. Was passiert dort derzeit genau?
Rosa Nicole: In der Nacht zum 19. November hat der türkische Staat verschiedene Städte wie Kobane, Derik und Zirgan an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien aus der Luft angegriffen. Das geschah bereits früher schon, doch dieses Mal zielt die Türkei mit ihren Angriffen auf zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Elektrizitätswerke, Getreidesilos oder Schulen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: In der ersten Nacht des Beschusses am 19. November griff die Türkei das Elektrizitätswerk in Derik an und traf dabei den Wächter des Gebäudes. Zivilist*innen versuchten ihn zu retten, doch als sie das Werk erreichten, schlug eine zweite Rakete ein. Neun von ihnen wurden getötet.
Was macht diese Situation mit den Menschen?
Die Lage ist angespannt. Die Menschen wissen nicht, wann und wo der nächste Anschlag stattfinden wird. Obwohl in der Region seit elf Jahren Krieg herrscht, ist die Angst im Moment besonders gross. Denn die Kampfdrohnen und Artilleriegeschütze können überall und jederzeit einschlagen.
Trotzdem ist die Bevölkerung sehr tapfer. Viele sagen, dass sie auch im Falle eines Bodenangriffs bleiben werden, wie im Krieg von Afrin und Aleppo. Wenn man sich die Bilder von der Beerdigung der Zivilist*innen in Derik ansieht und den Trauerreden zuhört, merkt man: Die Angst der Bevölkerung verwandelt sich in Wut und in den Willen, bis zum Ende zu kämpfen.
Wie zeigt sich dies im Alltag der Leute?
Obwohl die Angst und der Wille, sich zu verteidigen sehr gross sind, muss das Leben weitergehen. Unsere Tage sehen trotz der Anschläge aus wie früher, wir müssen immer noch arbeiten und die Dinge tun, die alle tun müssen.
Was sich geändert hat, ist die grosse Unsicherheit, die entstanden ist. Die Vorsichtsmassnahmen, die wir treffen müssen. Und die Tatsache, dass wir vor dem Schlafengehen nicht wissen, was in der Nacht passieren wird.
Wenn wir aufwachen, schauen wir sofort in die Nachrichten, um uns zu informieren, was passiert ist: Wo gab es einen Angriff? Mit wie vielen Toten und Verwundeten? Manchmal sehen wir in den Sozialen Medien Bilder von Bekannten, die verwundet wurden oder gestorben sind. Die Familien sind ständig am Telefon, um zu erfahren, ob es ihren Angehörigen gut geht. Und in jedem Haus läuft ständig der Fernseher.
Wie sieht es mit dem Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und Wasser aus?
Die Wassersituation war schon immer schwierig, weil die Türkei den Fluss Euphrat seit Jahren blockiert. Auch die Gesundheitssituation ist prekär: Wegen dem Wassermangel breiten sich Krankheiten wie Cholera und Corona schnell aus. Und das Embargo der Türkei, der syrischen Regierung und der kurdischen Regionalregierung im Nordirak gegen Rojava führt zu einer Wirtschaftskrise, die wiederum einen Mangel an Medikamenten und Lebensmitteln zur Folge hat.
Zudem sind viele Ärzt*innen während des elf-jährigen Krieges, den Syrien und Rojava erleben, nach Europa geflohen.
Sie selbst kommen aus der Schweiz. Warum haben Sie sich entschieden, nach Rojava zu gehen?
Ich bin vor anderthalb Jahren nach Rojava gekommen, um mehr über die Revolution zu erfahren und sie so gut wie möglich zu unterstützen. Ich interessiere mich besonders für die autonome Frauenorganisation und war etwa bei den jungen Frauen und bei Kongra Star, der Konföderation der Frauenorganisationen aktiv. Ich habe aber auch in den Gesundheitsstrukturen und bei Jineolojî mitgewirkt, einer Frauenstruktur, die über das Frausein und die Geschichte der Frauen forscht.
Nicht alle lokalen linken Kämpfer*innen heissen Menschen von aussen willkommen. Warum ist gerade der Kampf um Rojava so international?
Ich denke, dafür gibt es verschiedene Gründe. Der wichtigste ist vielleicht, dass die Ideologie, auf der die Revolution beruht, an sich sehr internationalistisch ist. Das neue politische und ideologische System, das hier aufgebaut wird, ist der demokratische Konföderalismus, der von Abdullah Öcalan erdacht und vorgeschlagen wird. Aber dieser Vorschlag gilt nicht nur für Kurdistan, sondern für die ganze Welt.
Rojava sollte daher auch ausdrücklich zu einem Ort werden, an dem Revolutionär*innen aus der ganzen Welt lernen und sich ausbilden können, um danach ihre eigenen Bewegungen in der Heimat zu stärken.
Die Rojava-Revolution fand vor dem Hintergrund des seit 2011 andauernden Bürgerkriegs in Syrien statt. Die Kurd*innen, die in der Grenzregion zur Türkei und zum Irak leben, stellten sich weder auf die Seite der Assad-Regierung, die ihnen jahrzehntelang elementare Rechte verweigerte, noch auf die Seite der ebenfalls von arabischen Nationalist*innen dominierten Oppositionsgruppen, die die kurdische Selbstbestimmung ebenfalls nicht anerkannten. Unter der Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD), die Abdullah Öcalan nahesteht und aus der kurdischen Arbeiter*innenpartei (PKK) entstand, wurden zunächst im Untergrund Komitees gegründet, um die Bevölkerung zu versorgen und zu verteidigen. Als sich der Krieg auf die kurdischen Gebiete auszubreiten drohte, mobilisierte die PYD zusammen mit der Christlichen-Syrischen Einheitspartei (SUP) und weiteren Kleinparteien die Bevölkerung, um im Sommer 2012 die Macht zu übernehmen, und bildete die Autonome Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, auch bekannt unter dem kurdischen Namen Rojava.
Seitdem gilt Rojava als weltweit einzigartiges Projekt für radikale Demokratie in Form eines Rätesystems, deren kleinste Einheit der Selbstverwaltung die Kommune ist, etwa die Bewohner*innen eines Viertels, einer Strasse oder eines Dorfes. Die Verwaltung widerspiegelt die multiethnische und ‑religiöse Situation der Region und ist bekannt für Geschlechtergerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit. Mit Ausnahme des katalanischen Parlaments wird die de facto autonome Region von keinem Staat offiziell anerkannt.
Wie ist die aktuelle Sicherheitslage in der Region Cizire, wo sie sich befinden?
Auch hier finden seit Jahren Drohnenangriffe statt. Sie zielen auf Zivilist*innen. Die Lage ist sehr angespannt. Wie in anderen Regionen gibt es in Cizire zudem viele Schläferzellen des IS. Unsere Streitkräfte kämpfen gegen sie, aber die Gefahr ist immer noch gross. Eines der grössten Sicherheitsprobleme sind die Gefängnisse und Lager, in denen Zehntausende von IS-Gefangenen und deren Familien untergebracht sind.
Denn der türkische Staat versucht, sie zum Ausbruch zu bewegen, um eine weitere Kraft gegen die Revolution zu haben. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass die IS-Gefangenen zu Beginn dieses Jahres versucht haben, aus dem Gefängnis in der Stadt Hasakah auszubrechen.
Wie interpretieren Sie die jüngsten Angriffe?
Die neusten Beschüsse überraschen uns nicht, denn seit den Angriffen auf Afrin im Jahr 2018 und dann auf Serêkaniyê und Gire Spi im Jahr 2019 will der türkische Staat das Projekt, das hier aufgebaut wird, loswerden.
Seit einigen Jahren häufen sich die Drohnenangriffe und zielen vor allem auf politische Persönlichkeiten ab. Nun werden die verschiedenen Regionen wie Sheba, Kobane und Cizire massiv von Kampfflugzeugen und Drohnen angegriffen. Der Luftraum wird je nach Region von den USA oder von Russland kontrolliert. Heisst: Sie haben ihre Zustimmung zu diesen Angriffen gegeben.
Laut türkischen Staatsmedien sind die jüngsten Anschläge ein Akt der Vergeltung für die Terroranschläge in Istanbul, für die sie unter anderem die PKK verantwortlich machen.
Es ist lächerlich, dass der türkische Staat die Explosion in Istanbul zum Anlass nimmt, um im Namen der Sicherheit in die Autonomen Gebiete von Nord- und Ostsyrien einzudringen. Der Terrorvorwurf ist zudem zynisch: Es gibt genügend Beweise dafür, dass der türkische Staat dschihadistische Gruppen wie den IS unterstützt und ihnen gezielt dabei hilft, Gebiete in Rojava einzunehmen.
Die türkische Armee greift nicht nur militärische Einrichtungen an, sondern auch Wohngebiete und Zivilist*innen. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?
Der türkische Staat will die Moral der Zivilist*innen zerstören und so viel emotionalen Schmerz wie möglich verursachen. Er schreckt nicht zurück vor Kriegsverbrechen wie dem Einsatz von von weissem Phosphor im Krieg gegen die kurdische Stadt Serêkaniyê oder von chemischen Waffen gegen die militanten Flügel der PKK in den Bergen Kurdistans, die People’s Defence Forces (HPG) und die Free Women’s Units (YJA-STAR).
Die Türkei will, dass die Menschen die Städte und Dörfer verlassen, damit sie die Region leichter unter ihre Kontrolle bringen können. Es ist ein faschistisches Land, das seit Jahrzehnten eine rassistische Politik gegen das kurdische Volk betreibt und ein neo-osmanisches Reich schaffen will.
Was bedeutet das genau? Faschismus ist ja ein sehr spezifischer Begriff.
Es ist ganz klar, dass der türkische Staat eine faschistische Politik verfolgt, aber das ist nichts Neues, sondern etwas Historisches. Wenn wir Faschismus als eine Ideologie verstehen, die auf der Fantasie der Schaffung und des Schutzes einer verlorenen und glorreichen Nation basiert und die alle Mittel einsetzt, um dies zu erreichen, dann können wir ohne Zweifel sagen, dass die Türkei ein faschistischer Staat ist.
Und diese Politik versucht der türkische Präsident Erdogan auf der Ebene der Geostrategie umzusetzen. Die Türkei ist Teil der NATO und er nutzt sie für seine eigenen Vorteile. Zum Beispiel gibt die Türkei viel Geld für Waffen an verschiedene NATO-Länder, etwa an Deutschland. Ausserdem beherbergt die Türkei eine grosse Anzahl von Geflüchteten in Lagern, und Erdogan weiss, dass die EU diese Geflüchteten eigentlich nicht aufnehmen will.
Der EU ist es also wichtiger, das europäische Grenzregime aufrechtzuerhalten, als sich gegen die Angriffe der Türkei auszusprechen?
Ich denke, das ist eine Antwort, aber nicht die einzige. Die Abmachung zwischen der EU und der Türkei, möglichst keine Geflüchteten nach Europa zu lassen, spielt sicherlich eine Rolle. Aber auch die wirtschaftlichen Vereinbarungen der Türkei mit verschiedenen EU-Ländern sind ein Grund dafür, dass diese zu den Angriffen der Türkei schweigen.
Zudem scheint seit dem Krieg in der Ukraine die Loyalität gegenüber den NATO-Staaten zu einem Schlüsselelement geworden zu sein. Deshalb trauen sich nur wenige, ihre Stimme gegen NATO-Mitglieder wie die Türkei zu erheben.
In den Schweizer Medien wird nur sehr wenig über die jüngsten Bombenanschläge berichtet. Haben Sie Erklärungen hierfür?
Der türkische Staat nutzt alles, was möglich ist, für seine eigenen Interessen. Es ist kein Zufall, dass die Angriffe während der Fussballweltmeisterschaft und der iranischen Unruhen stattfinden. So sind die Chancen natürlich kleiner, dass darüber berichtet wird.
Wir erwarten deshalb auch, dass die Anschläge weitergehen und intensiver werden. Denn die Türkei will die ökologische, demokratische und frauenzentrierte Revolution, die hier stattfindet, zerstören.
Der Bodenangriff könnte jederzeit beginnen, vielleicht in ein paar Stunden, ein paar Tagen oder ein paar Monaten. Noch ist nichts klar, aber ich bin überzeugt, dass Erdogan vor den Wahlen in der Türkei alles Mögliche versuchen wird, um in die Region einzudringen.
*Name von der Redaktion geändert.
Mitarbeit: Natalia Widla
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