Der Krieg vor dem Krieg

Die Menschen in der Ostukraine leben bereits seit acht Jahren im Krieg. Viele haben die Region verlassen. Wie geht es jenen, die geblieben sind? Diese Foto­re­por­tage von 2019 scheint wie eine dunkle Vorah­nung für alles, was in den letzten Wochen geschehen ist. 
Hoffnung haben die Menschen schon lange nicht mehr. Seit 2014 herrscht Krieg in der Ostukraine. (Foto: Klaus Petrus)

Die 80-jährige Yuliya Vasi­levna Horuz­hevskaya wohnt in Luhanske, einem kleinen Dorf im Osten der Ukraine, nahe der Front, wo schon seit 2014 Krieg herrscht. Sie tischt Knob­lauch­brote auf, erzählt aus dem Leben, von ihren Lieb­schaften und ihren Kartof­feln – angeb­lich die besten im ganzen Land –, dann meint sie: „Mag diesen Krieg gewinnen, wer will, Haupt­sache, er hört auf.“ Das war im Jahr 2019.

Drei Jahre später marschieren Putins Truppen in die Ukraine ein. Seit dem Angriff vom 24. Februar 2022 wurden Tausende Menschen getötet, Zehn­tau­sende verletzt und mehrere Millionen vertrieben. Viele sind in Panik, alle in Sorge: um sich selbst, ihre Lieb­sten, ihr Land. Die Anteil­nahme und Soli­da­rität in anderen Ländern ist gross, ebenso das Entsetzen über diesen Angriff.

Dabei herrscht in der Ukraine nicht erst seit diesem 24. Februar Krieg. Nach den Maidan-Prote­sten im November 2013 in Kyjiw nahm Wladimir Putin im März 2014 die Halb­insel Krim ein und sicherte den prorus­si­schen Sepa­ra­ti­sten im Donbas im Osten der Ukraine seine bedin­gungs­lose Unter­stüt­zung zu. Daraufhin besetzten diese die Gebiete um Donezk und Luhanske und riefen sie als unab­hän­gige Volks­re­pu­bliken aus. Als Reak­tion darauf schickte die ukrai­ni­sche Regie­rung ihr Militär in die Ostukraine. Der Krieg trieb 1,5 Millionen Menschen in die Flucht und forderte 13’000 Tote – die Opfer der letzten Wochen nicht mitgezählt.

Im Reden über den Krieg gehen die Menschen im Krieg meist vergessen. Oder sie werden zu einem stummen Kollektiv. Wie oft ist dieser Tage etwa von „den Russen“ die Rede, wo man eigent­lich einen Macht­führer oder ein poli­ti­sches Regime meint, das wieder einmal das Völker­recht bricht?

Zuge­hö­rig­keiten fallen leichter, wenn man die Menschen – als einzelne – aus dem Blick nimmt. Auch davon ist jetzt wieder zu hören: von einem Kampf zwischen „Ost“ und „West“, von einem Angriff auf „Europa“. Damit ist keine geogra­fi­sche Zuord­nung gemeint, sondern ein „wir“ gegen die „anderen“.

Dabei laufen Soli­da­ri­täts­be­kun­dungen, die auf einem „wir gegen sie“ bauen, letzt­lich Gefahr, Kriegs­treiber wie Putin in dem zu bestärken, was sie sowieso am besten beherr­schen: im Spiel mit Feind­bil­dern, die sich in den Köpfen der eigenen Leute einni­sten und den anderen alles Mensch­liche nehmen sollen. Das erleich­tert die Kriegsführung.

Teil 1: Die Schüt­zen­gräben von Schachta Butowka

13’000 Tote hat der Ukraine-Krieg seit 2014 gefor­dert, unter ihnen sind minde­stens 3’300 Zivilist*innen – die Opfer seit dem russi­schen Angriff im Februar 2022 nicht einbe­rechnet. Das Unheil war all die Jahre sichtbar und für die Menschen im Osten des Landes allge­gen­wärtig: Check­points, Schüt­zen­gräben wie aus vergan­genen Zeiten, zerschos­sene Gebäude, zerstörte Strassen, vermintes Land.

Evgeni, ein ukrai­ni­scher Soldat, sprach bereits im Herbst 2019 von einem Stel­lungs­krieg, einem sinn­losen Krieg, der nur Geld und Menschen­leben koste. Von der patrio­ti­schen Euphorie und Unter­stüt­zung der Ukrainer*innen zu Beginn des Krieges sei nicht viel übrig­ge­blieben. Kyjiw liegt 700 Kilo­meter im Westen von Awdi­jiwka, wo Evgeni ausharrt. Und auch sonst sei die Haupt­stadt des Landes in den Köpfen der Leute hier im Osten weit weg, sagt der Soldat. Enttäu­schung liegt in seiner Stimme.

Drei Jahre später, im März 2022, ist Evgeni noch immer an der Front und in einem neuen Krieg, von dem er sagt: „Russ­land ist mächtig, die Ukraine ist glorreich.“

Teil 2: Die einsamen Häuser von Katerinivka

Viktors Haus ist ein Häus­chen. In der Küche, braune Tapete mit Girlanden an der Wand, steht ein Schrank und ein Tisch mit einer Mikro­welle, daneben ein Becken mit einer Zahn­bürste im Plastik­glas und einem Spiegel, an der Decke eine Glüh­birne, die modriges Licht verbreitet. Das wenige ist an seinem Platz und das Wohn­zimmer heraus­ge­putzt, als stünde das Haus zum Verkauf. Oder als würde hier keiner leben.

Jeden Morgen, zählt der müde Mann aus Kate­ri­novka auf, füttert er als Erstes seinen alten Hund, dann macht er die Wohnung sauber, arbeitet im Garten, raucht, trinkt ein Gläs­chen oder zwei, drei, isst, schläft, das ist alles. Fast sein ganzes Leben arbei­tete Viktor in verschie­denen Kohle­fa­briken bei Luhanske. Der Lohn war nicht üppig, doch er musste sich um nichts kümmern, konnte Frau und Kind ernähren. Und dann? „Verdammt sei dieser Krieg, er hat uns alles genommen“, murrt Viktor, der nur dann redet, wenn man ihn fragt.

Teil 3: Der Foto­graf aus Stanyzja Luhanska

Sie könnte aus einer Zaren­fa­milie stammen, er ist Foto­graf, angeb­lich der älteste im Land. Früher war er ein Diener der deut­schen Volks­armee, nun ist er alt und in Sorge: Alex­ander Ivano­witsch, 78, und seine Frau Valen­tina Pawlowa, 65, wohnen in einer von Raketen und Panzern vernarbten Strasse in Stanyzja Luhanska. Diese liegt fünf Kilo­meter vom Sepa­ra­ti­sten­ge­biet entfernt, 25 Kilo­meter von der russi­schen Grenze.

Als die Sepa­ra­ti­sten kamen und nicht mehr aufhören wollten zu feuern, mussten sie sich wochen­lang in einem Bunker verstecken. Zurück zuhause hatte das Dach ein Loch, die Wand zum Wohn­zimmer war zerschossen. Hier hat sich Alex­ander sein Foto­studio einge­richtet, zwei Aufsteck­blitze stehen im Raum, ein Drucker, eine verbeulte Kamera und eine neuere, an den Wänden kleben grosse, schiefe Schatten.

„Jeder Mensch hat nur ein Vater­land und meines ist die Ukraine, denn hier ist unsere Tochter geboren“, sagt Alex­ander, der nervös von einem Fuss auf den anderen tritt. Über Nacht sei sie ergraut, aus Angst vor den Gewehren, flüstert Valen­tina, heute lebe sie in Russ­land und alles sei gut.

Um Aufträge kümmert sich Alex­ander kaum noch, manchmal kommen Schul­kinder, Politiker*innen oder Pärchen vorbei, sie möchten ein Hoch­zeits­bild. Auch im Krieg werde gehei­ratet, sagt Alex­ander, dem Himmel sei Dank.

Teil 4: Krieg ohne Ende

Mit Politik, sagt Yuliya Vasi­levna Horuz­hevskaya aus dem Dörf­chen Luhanske an der Front­linie, habe sie nichts zu tun. Die Menschen im Donbas hätten sich daran gewöhnt, dass andere über ihr Los entscheiden: Zaren, Olig­ar­chen, der liebe Gott. Ohnehin kommt Yuliya von hier nicht mehr fort. Wohin sollte sie denn gehen? In die Nach­bar­dörfer, ein paar Kilo­meter weiter weg von den Schüt­zen­gräben? In die grossen Städte? Hier hat die alte Frau wenig­stens ein Dach über dem Kopf, einen Garten, die übrig­ge­blie­benen Menschen aus dem Ort – viel­leicht noch um die tausend –, die sie ihr Leben lang schon kennt.

Doch das sind schwere Gedanken. Lieber erin­nert sich Yuliya an früher, als Tochter und Enkel noch bei ihr waren. Dann redet sie über Stalin­grad, verbrannte Kinder, einen Lieb­haber aus Sankt Peters­burg, der sie partout heiraten wollte vor vierzig Jahren und über ihre Kartof­feln, die besten im ganzen Land. Manchmal hält Yuliya inne und weint und wimmert wie ein kleines Mädchen, ein andermal kann sie sich kaum halten vor Lachen, dann leuchten die Augen dieser alten Frau, die so char­mant ist und verwirrt zugleich.

Einmal, erzählt Yuliya, sei sie draussen im Garten gewesen, um nach Kartof­feln zu graben, da fand sie eine Mine. Viel­leicht wollen die ja gar nicht, dass wir uns Kartof­feln braten, dachte sie und grub weiter. „Wenn sie mich töten wollen, dann töten sie mich halt.“

Teil 5: Der lange Weg nach Stanyzja Luhanska

Einmal im Monat nehmen die älteren Bewohner*innen die Brücke über den Grenz­fluss Siwer­skji Donez nach Stanyzja Luhanska, die einzigen Passage zwischen Sepa­ra­ti­sten­ter­ri­to­rium und ukrai­ni­schem Regie­rungs­ge­biet, um ihre Rente zu holen. Denn von den Sepa­ra­ti­sten bekommen sie kein Geld. Und von der Ukraine nur, wenn sie es auf ihrem Grund und Boden abholen: Umge­rechnet im Schnitt 80 Franken pro Monat. Präsi­dent Wolo­dymyr Selen­skyj hatte, kaum an der Macht, die Ausgaben für Soziales gekürzt, von 2,7 Milli­arden Franken in 2019 auf 2,3 Milli­arden für 2020. Zu spüren kriegen das auch die Rentner:innen.

Hinter dem Kontroll­po­sten warten Taxis und Klein­busse, die die Alten zu den Bank­au­to­maten in Stanyzja Luhanska bringen. Oder zu Bekannten von Bekannten, die ihnen ein Zimmer vermieten, 100 Griwna oder vier Franken pro Nacht, falls sie es nicht mehr schaffen, am selben Tag zurück nach Luhanske zu gelangen.

Der Weg zurück ist beschwer­lich und bedarf Zeit. An den Check­points vergehen Stunden, Soldaten durch­wühlen die Taschen, sie prüfen Ausweis und Passier­schein. Zum Glück gibt es über­dachte Sitz­bänke gegen die Sommer­sonne, stabile Zelte gegen den rauen Wind und das Schnee­ge­stöber, Toiletten für alle Jahres­zeiten, einen Roll­stuhl für die Gebrechlichsten.

Hinter dem Kontroll­po­sten stellen sich Frauen und Männer in Reih und Glied, sie warten auf den Bus, drän­geln sich hinein, als gelte es, dem Schicksal zu entkommen. Dabei wollen sie doch bloss nicht diese 800 Meter laufen müssen hinüber bis zur Brücke, an deren Ende die Sepa­ra­ti­sten warten.

Teil 6: Die Krähen von Kramatorsk

Wie anmas­send, eine Stadt beschreiben zu wollen. Sie hat viele Gesichter, keines ist ihres. Viele Gerüche, viele Wunder, viele Wetter. Krama­torsk jeden­falls, 150’000 Bewohner*innen, hat viele neue Strassen. Und Parks mit Statuen, Hampel­män­nern, Karus­sells und polierten Panzern. Sushi­bars und bemalte Häuser mit Blumen, Gladia­toren und Wind­rä­dern auf den Fassaden.

Und gewiss hat Krama­torsk viele Hunde, die irgendwo begraben liegen. Bars, in denen die Jugend flies­send Englisch spricht. Im April 2014 fielen prorus­si­sche Sepa­ra­ti­sten in Krama­torsk ein, im Juli war die Stadt wieder in den Händen der ukrai­ni­schen Armee, im Oktober wurde sie provi­so­ri­sches Zentrum der Region. Fortan hatte man hier mächtig inve­stiert, die Schorn­steine der Stahl­in­du­strie und der Kohle­berg­werke begannen von Neuem zu rauchen.

Tags­über sind die Strassen von Krama­torsk leer, die Männer arbeiten in den Fabriken, die Taxi­fahrer dösen, die Frauen gehen zum Markt und über der Stadt kreisen und krächzen die Krähen. Abends sitzen die Jungen in den Bars. Krieg? Doch nicht bei uns, sagten sie vor drei Jahren, keine 70 Kilo­meter von der Front­linie entfernt. Im April dieses Jahres wurde Krama­torsk wieder von Raketen getroffen.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 32 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1924 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Ich sehe blau und gelb

Dass der Krieg am 24. ausbrechen würde, wusste ich schon am Tag zuvor. „Ich komme zum Frauentag“, schreibe ich einer Freundin in Charkiw. „Bist du verrückt?“, antwortet sie ein paar Sekunden später. „Heute Nacht beginnt der Beschuss.“

„Der Krieg ist zur Routine geworden“

Vor etwas mehr als einem Jahr hat Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Die Stadt Charkiw im Nordosten des Landes liegt direkt an der Frontlinie und ist regelmässig Ziel von Raketenangriffen. Das anarchistische Kollektiv Assembly arbeitet vor Ort. Im Interview mit dem Lamm sprechen die Mitglieder über das Leben im Ausnahmezustand, über ihre Politik und die lange anarchistische Tradition in der Ukraine.