„Der Krieg ist zur Routine geworden“

Vor etwas mehr als einem Jahr hat Russ­land seinen Angriffs­krieg gegen die Ukraine begonnen. Die Stadt Charkiw im Nord­osten des Landes liegt direkt an der Front­linie und ist regel­mässig Ziel von Rake­ten­an­griffen. Das anar­chi­sti­sche Kollektiv Assembly arbeitet vor Ort. Im Inter­view mit dem Lamm spre­chen die Mitglieder über das Leben im Ausnah­me­zu­stand, über ihre Politik und die lange anar­chi­sti­sche Tradi­tion in der Ukraine. 
Zerbombte Häuser, zerstörte Strassenzüge - Russland führt seinen Krieg gegen die Ukraine mit unverminderter Härte. (Foto: Alieś Uscinaŭ, Pexels)

Assembly.org.ua sammelt Infor­ma­tionen über Rekru­tie­rungs­raz­zien, bietet Ukrainer*innen Rechts­be­ra­tung an, um sich dem Armee­dienst zu entziehen und führt auf libcom.org eine Kolumne über basis­ori­en­tierte Anti-Kriegs­ak­tionen in Russland.

Einen weiteren Schwer­punkt ihrer Arbeit legen Assembly auf den Wieder­aufbau nach dem Krieg. Sie über­wa­chen entspre­chende Vorbe­rei­tungen lokaler Behörden und suchen nach Möglich­keiten, die Wieder­auf­bau­mass­nahmen für eigene poli­ti­sche Ziele und für die Bedürf­nisse der Menschen vor Ort nutzbar zu machen. Darüber hinaus leistet Assembly huma­ni­täre Hilfe.

Das Lamm: Assembly bezeichnet sich selbst als Unter­grund­ma­gazin und liefert seinen Leser*innen Infor­ma­tionen und Repor­tagen. Wie kamt ihr dazu, auch huma­ni­täre Hilfe zu leisten?

Assembly: Seit Mitte September gibt es regel­mässig russi­sche Rake­ten­an­griffe auf zivile Ener­gie­infra­struk­tur­an­lagen. Unsere Stadt wurde bereits mehr als ein Dutzend Mal getroffen, was lange Strom­aus­fälle zur Folge hat. Heute hält ein Strom­aus­fall jeweils etwa drei bis vier Stunden an. Im Dezember konnte er auch mal sieben, acht oder sogar zwölf Stunden dauern. In einer solchen Situa­tion sind viele Menschen auf huma­ni­täre Hilfe ange­wiesen. Darum sind wir hier in die Bresche gesprungen.

Zumin­dest haben wir den Winter besser über­standen als erwartet.

Wie sieht diese Hilfe aus?

Die städ­ti­schen Behörden begannen schon am 1. Dezember 2022 mit dem Verteilen warmer Speisen an Schulen und der Einrich­tung soge­nannter „Unbe­sieg­bar­keits­punkte“ auf den Strassen. Das sind öffent­lich zugäng­liche Zelte, in denen sich die Menschen kostenlos aufwärmen und ihre elek­tro­ni­schen Geräte aufladen können.

Trotzdem gibt es auch für uns noch einiges zu tun. Zum Beispiel haben sehr viele Menschen ihre Arbeit verloren. Gleich­zeitig kompen­sieren Arbeitgeber*innen die durch Strom­aus­fälle verur­sachten Verluste mit Lohn­kür­zungen bei den Arbeit­neh­menden. Wir sammeln zum Beispiel Geld, um die Verluste auszugleichen.

Wie ist die aktu­elle Situa­tion in Charkiw?

Zumin­dest haben wir den Winter besser über­standen als erwartet. Vor allem dank des unge­wöhn­lich milden Wetters: Die Tempe­ra­turen fielen nie unter –10 Grad Celsius. Ausserdem wurde das ukrai­ni­sche Ener­gie­sy­stem nicht voll­ständig zerstört, während der Strom­ver­brauch der Wirt­schaft durch die Schlies­sung grosser Indu­strie­be­triebe deut­lich sank.

Was Assembly betrifft, so konnten wir dank der Spenden einiger Genoss*innen aus dem Ausland in einem Privat­haus am relativ sicheren südli­chen Stadt­rand eine Gemein­schafts­heiz­stelle einrichten.

Wann habt ihr mit eurer Arbeit begonnen?

Wir haben unsere Arbeit schon vor dem Krieg aufge­nommen und sind seit März 2020 aktiv – also seit Beginn der Pandemie. Im dama­ligen Ausnah­me­zu­stand wurde einigen unserer Genoss*innen das Gehalt um 20 Prozent gekürzt und es kam zu Entlas­sungen. Um über die resul­tie­renden sozialen Probleme zu berichten und Menschen in der Krise zu vernetzen, stellten wir ein paar Wochen nach Beginn des Lock­downs unsere Website online.

Wie ging es dann im Krieg weiter?

Vor dem Beginn der regel­mäs­sigen Rake­ten­an­griffe auf die Ener­gie­infra­struktur hatten wir noch Hoff­nung, dass die Kämpfe zumin­dest in unserer Region nicht lange andauern würden. Damals berei­teten wir eine Frei­wil­li­gen­kam­pagne vor, um die zerstörten Stadt­teile wieder aufzubauen.

Bald war jedoch klar, dass der Krieg nicht so schnell enden würde. Also verwarfen wir diese Pläne und konzen­trierten uns darauf, über die städ­ti­schen Behörden zu recherchieren.

Wir orga­ni­sieren unsere Arbeit hori­zontal. Das heisst, wir haben keine Ideo­logie- und Theo­rie­prü­fungen wie bei der Aufnahme in eine marxi­sti­sche Partei, sondern arbeiten mit verschie­denen Personen und Initia­tiven zusammen.

Um welche Art Infor­ma­tionen geht es dabei?

Kürz­lich haben wir zum Beispiel über einen Coup aus dem Büro des Bürger­mei­sters berichtet.

Im Früh­jahr stellte der Stadtrat von Charkiw eine soge­nannte Frei­wil­li­gen­in­itia­tive zur Wieder­her­stel­lung der Stadt vor, die nicht von einem Archi­tekten oder einer Stadt­pla­nerin, sondern von einem dem Stadtrat nahe­ste­henden Mode­de­si­gner geleitet werden sollte. Dieser Desi­gner wäre niemals in der Lage gewesen, die nötige Arbeit zu leisten. Er hätte ledig­lich das Geld einge­stri­chen. Nachdem wir den Fall publik gemacht hatten, zog er sich aus dem Projekt zurück.

Daneben schreiben wir auch über Arbeits- und Stras­sen­kämpfe und versu­chen, die Erin­ne­rung an die Tradi­tionen der revo­lu­tio­nären Arbeiter*innenbewegungen zu bewahren.

Wird Assembly von der Bevöl­ke­rung akzeptiert?

Ja. Unser Magazin ist mitt­ler­weile zu einem Ort geworden, an dem sich Vertreter*innen von Selbst­or­ga­ni­sa­tion und fried­li­chem sozialem Kampf mit dem radi­kalen Unter­grund verbinden: eine echte Versamm­lung, die dem Namen „Assembly“ alle Ehre macht.

Wie verortet sich die Gruppe politisch?

Wir orga­ni­sieren unsere Arbeit hori­zontal. Das heisst, wir haben keine Ideo­logie- und Theo­rie­prü­fungen wie bei der Aufnahme in eine marxi­sti­sche Partei, sondern arbeiten mit verschie­denen Personen und Initia­tiven zusammen. Voraus­set­zung ist ledig­lich, dass sie nicht von Politiker*innen oder büro­kra­ti­schen Struk­turen kontrol­liert werden, dass sie hori­zon­tale direkte Aktionen von unten unter­stützen und der lokalen Gemein­schaft helfen wollen.

Bedeutet „horizon­tale Soli­da­rität“ für euch auch mit Menschen aus Belarus und Russ­land zusammenzuarbeiten?

Natür­lich. Viele Menschen dort gehen ein grosses Risiko ein, um das Gemetzel zu stoppen; Grund genug, ihnen dankbar zu sein. Mit Ausnahme einiger weniger rechter Gruppen unter­stützen wir sie – unab­hängig davon, ob sie eine in unserem Sinne inter­na­tio­na­li­sti­sche Haltung vertreten. Wir sind nicht vom FSB oder KGB. Wir prüfen unsere Genoss*innen nicht auf solche Detailfragen!

Natür­lich können Anarchist*innen die Stär­kung der ukrai­ni­schen Armee nicht einfach gutheissen.

Welchen Einfluss hat der Krieg auf eure Arbeit und eure Politik?

Es gibt im Kollektiv zwei Haupt­an­sichten, wie wir uns im Krieg verhalten sollten. Die einen denken, wir sollten der auto­ri­tären Politik beider Staaten, die sich in der Ukraine bekriegen, glei­cher­massen entge­gen­treten. Die andere Seite ist eher dafür, dass wir die krie­ge­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen so weit als möglich igno­rieren und statt­dessen den Kampf gegen Arbeit­ge­bende, gegen Land­raub in der Stadt und Vergleich­bares fort­führen. In unserem News­feed finden sich Texte von beiden Seiten.

Manche Linke und Alter­na­tive in Europa stehen eher für eine pazi­fi­sti­sche Haltung und weigern sich, den Kampf der Ukraine aktiv zu unter­stützen. Zu nennen wäre etwa ein Teil der deut­schen Links­partei mit Sahra Wagen­knecht an der Spitze. Was könnt ihr ihnen entgegnen?

Wir können ihnen sagen, dass Pazi­fismus keine Alter­na­tive zum Krieg ist, weil er die bestehende Ordnung, deren Wider­sprüche zu solchen Gemet­zeln führen, nicht infrage stellt. Natür­lich können Anarchist*innen die Stär­kung der ukrai­ni­schen Armee nicht einfach gutheissen. Aber statt Zeit mit Prote­sten gegen Waffen­lie­fe­rungen zu verschwenden, wäre es viel sinn­voller, beispiels­weise eine Infra­struktur aufzu­bauen, um flüch­tigen russi­schen Deser­tie­renden und poli­ti­schen Gefan­genen zu helfen. Nur hori­zon­tale Soli­da­rität über die Grenzen hinweg kann neue gesell­schaft­liche Bezie­hungen entstehen lassen! Aber all das setzt natür­lich voraus, dass die Linken, von denen du sprichst, wirk­lich gegen den Krieg sind und nicht klamm­heim­lich den Kreml unterstützen.

Viele Arbeiter*innen wollen nicht zur Armee. Darum werden sie ohne ihre Einwil­li­gung von den Arbeit­ge­benden gemeldet oder gleich auf offener Strasse in ein Auto gezerrt und zur Muste­rung gebracht.

Arbeitet ihr auch mit der ukrai­ni­schen Armee zusammen, etwa wenn es um Selbst­ver­tei­di­gung geht?

Einer unserer Genossen hat sich zu Beginn des Krieges tatsäch­lich frei­willig zur ukrai­ni­schen Armee gemeldet. Er konnte einige Kontakte zu den Soldat*innen knüpfen, aber weiter ging es nicht. Mit unserem Infor­ma­ti­ons­portal richten wir uns haupt­säch­lich an Menschen, die in keiner Armee dienen wollen. Denn der Staat handelt ausschliess­lich in seinem eigenen Inter­esse und im Inter­esse der herr­schenden Klasse.

Wie ist die Lage der Arbeiter*innen im Krieg?

Die Ukraine war schon vor dem Krieg das Land mit den mise­ra­bel­sten Löhnen in Europa. Seit Kriegs­be­ginn hat sich die Situa­tion verschlech­tert. Minde­stens die Hälfte der Wirt­schaft in unserer Stadt und minde­stens ein Drittel der Wirt­schaft des Landes wurden zerstört, Arbeits­plätze gingen verloren. Zusätz­lich ist es Männern zwischen 18 und 60 Jahren heute verboten, das Land zu verlassen, was sie noch anfäl­liger für Ausbeu­tung macht.

Wie stehen die Arbeiter*innen in Charkiw zur Armee?

Viele Arbeiter*innen wollen nicht zur Armee. Darum werden sie ohne ihre Einwil­li­gung von den Arbeit­ge­benden gemeldet oder gleich auf offener Strasse in ein Auto gezerrt und zur Muste­rung gebracht. Sich dem zu wider­setzen ist eine Ordnungs­wid­rig­keit. Nach den medi­zi­ni­schen Tests folgt dann meist die Einbe­ru­fung ins Ausbil­dungs­zen­trum. Wer da nicht frei­willig auftaucht, muss sogar mit einer Frei­heits­strafe rechnen.

Wie beein­flusst diese Rekru­tie­rungs­praxis die Arbeitsbedingungen?

Weil die Bosse befürch­teten, durch die Rekru­tie­rungen viele Fach­kräfte zu verlieren, führt die Regie­rung eine spezi­elle Liste von Unter­nehmen, die das Recht haben, 50 Prozent ihrer Beschäf­tigten von der Mobi­li­sie­rung auszu­nehmen. Damit ihr jewei­liges Unter­nehmen auf diese Liste kommen kann, müssen die Arbeiter*innen noch schlech­tere Arbeits­be­din­gungen akzep­tieren. Sie werden also erpressbar, was die Ausbeu­tung erleichtert.

Der poli­ti­sche Anar­chismus hat in der Ukraine eine lange Tradi­tion, die bis auf die soge­nannten Mach­nowscht­schina zurück­geht. 1917 kontrol­lierten anar­chi­sti­sche Truppen mit dem Revo­lu­tionär Nestor Machno (Mach­nowscht­schina) an der Spitze einen Gross­teil der östli­chen Ukraine und setzten eine frei­heit­lich-liber­täre Gesell­schafts­ord­nung durch. Das Gebiet konnte im Bürger­krieg gegen die konter­re­vo­lu­tio­näre Weisse Armee vertei­digt werden. Erst als sich nach der Okto­ber­re­vo­lu­tion auch die Rote Armee gegen die Mach­nowscht­schina wandte, wurden die Anarchist*innen besiegt. Anstelle ihres Modells eines liber­tären Sozia­lismus’ setzte die Sowjet­union den dikta­to­ri­schen Staats­kom­mu­nismus durch.

Wie steht ihr zur histo­ri­schen anar­chi­sti­schen Bewe­gung in der Ukraine?

Wir betreiben inten­sive Studien über die reiche liber­täre Vergan­gen­heit von Charkiw und veröf­fent­li­chen die Ergeb­nisse auf unserer Home­page. Ein wich­tiger Teil dieser poli­ti­schen Tradi­tion ist die Mach­nowscht­schina, deren Regie­rungsrat übri­gens in der Nähe von Izium im Süden unserer Region gewählt wurde. Im Zentrum Char­kiws gab es sogar die Anar­chie-Strasse, in der sich in den Zwan­zi­ger­jahren das anar­chi­sti­sche Haupt­quar­tier der Mach­nowscht­schina befand. Heute spielt diese lange anar­chi­sti­sche Tradi­tion in der Politik aber kaum noch eine Rolle.

„Fuck 1917 – fight now!“

Woran liegt das?

Es fehlt die revo­lu­tio­näre Klasse. War die Ukraine zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts ein Land der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, ist sie jetzt in erster Linie ein Land der Rentner*innen, der Bürokrat*innen und Straf­ver­fol­gungs­be­hörden. Das ist in Russ­land, mit Ausnahme des Kaukasus und einiger asia­ti­scher Regionen, nicht anders.

Sind revo­lu­tio­näre Verän­de­rungen damit ausgeschlossen?

Nicht unbe­dingt. Wir beob­achten unter den verblei­benden Arbeiter*innen und Intel­lek­tu­ellen auf beiden Seiten der Front eine deut­liche Abnahme des natio­na­li­sti­schen Furors. Sollte sich der Krieg noch länger hinziehen, könnte es also durchaus zu einer revo­lu­tio­nären Situa­tion wie in den Zwan­zi­ger­jahren kommen. Darauf müssen wir uns vorbe­reiten und dürfen nicht nost­al­gisch an der Vergan­gen­heit fest­halten. War also vor einigen Jahren in Frank­reich der Slogan „Fuck 68 – fight now“, gilt für uns heute in Charkiw: „Fuck 1917 – fight now!“


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