Der Vulkan und die Gelder

Vor zwei Wochen führte der Ausbruch des Vulkans Nirya­gongo im Osten der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo zu einer huma­ni­tären Notlage. Das Früh­warn­sy­stem, mit inter­na­tio­nalen Geldern aufge­baut, hatte versagt. Was lief schief? 
Am Tag nach dem Ausbruch des Vulkans Niryagongo. (Foto: Guerchom Ndebo)

Die Bevöl­ke­rung Gomas war nicht vorge­warnt, als der Vulkan Nyira­gongo, der über der ostkon­go­le­si­schen Stadt thront, am Abend des 22. Mai ausbrach. Noch vor den ersten offi­zi­ellen Infor­ma­tionen hatten viele Menschen ihre Doku­mente und die wich­tig­sten Habse­lig­keiten gepackt und sich auf den Weg gemacht, raus aus der Stadt. Viele erin­nern sich nur zu gut daran, was vor 19 Jahren geschah, als die Lava des Nyira­gongo ein Drittel Gomas unter sich begraben hatte. 130 000 Menschen wurden damals obdachlos und verloren alles, was sie in ihren Häusern zurück­lassen mussten. Mehr als 200 Personen starben infolge des Ausbruchs.

Um eine Wieder­ho­lung dieses Szena­rios zu vermeiden, erhielt das Vulkan­ob­ser­va­to­rium von Goma in den folgenden Jahren inter­na­tio­nale Unter­stüt­zung für die Über­wa­chung der Vulkane in der Region und das zuge­hö­rige Risikomanagement.

Etliche Tafeln mit verschie­den­far­bigen Gefah­ren­stufen prägen seitdem das Stadt­bild. Doch am Abend des 22. Mai wurde über keiner dieser Tafeln die rote Warn­flagge aufge­hängt. Erst um Mitter­nacht ordneten die Behörden die Evaku­ie­rung Gomas an – als bereits einer der Lava­ströme auf die Stadt zufloss. Ein geplantes Vorgehen existierte nicht, und die Menschen fanden auf den Böden von Schulen oder Kirchen in den Nach­bar­städten Zuflucht. Viele mussten die regne­ri­sche Nacht im Freien verbringen. Gegen Morgen wurde klar: Der eine Lava­strom hat sich vom Stadt­rand her eine Schneise gefressen und kam kurz vor dem Flug­hafen zum Still­stand. Der andere hat hingegen 17 nahe­ge­le­gene Dörfer mit ihren Schulen, Märkten und Gesund­heits­zen­tren zerstört. Ein für die Stadt wich­tiges Wasser­re­ser­voir wurde zerstört, 20 000 sind obdachlos geworden.

Vorwürfe der Verun­treuung inter­na­tio­naler Gelder

Seit dem Vulkan­aus­bruch 2002 wird die Arbeit des Vulkan­ob­ser­va­to­riums von Goma durch inter­na­tio­nale Geldgeber:innen unter­stützt. Auch die Schweiz trug zwischen 2003 und 2011 über verschie­dene UN-Orga­ni­sa­tionen insge­samt 1.82 Millionen Franken zur Reduk­tion der Risiken durch den Vulkan Nyira­gongo bei, etwa durch den Ausbau der verschie­denen Über­wa­chungs­sy­steme, die Sensi­bi­li­sie­rung der Bevöl­ke­rung und die Entwick­lung eines Notfallplans.

Der uner­war­tete neue Ausbruch und dessen Folgen verdeut­li­chen jedoch: Die Gelder haben ihr Ziel verfehlt.

Es begann mit Beschwerden über Miss­stände im Obser­va­to­rium. Seit dem Jahr 2018 doku­men­tierte die Bürger­rechts­be­we­gung LUCHA Lohn­kür­zungen von Mitar­bei­tenden sowie die Verun­treuung von bereit­ge­stellten Mitteln für neue Mess­ge­räte, die bis ins Jahr 2013 zurück­gehen. Sie kontak­tierte wieder­holt die kongo­le­si­sche Regie­rung und inter­na­tio­nale Geldgeber:innen. Nicht aber die Schweiz – diese hatte ihre Finan­zie­rung schon 2011 einge­stellt, als das Obser­va­to­rium in eine staat­liche Struktur inte­griert wurde.

Als Reak­tion auf die Vorwürfe ordnete die kongo­le­si­sche Regie­rung eine Unter­su­chung an und beschlag­nahmte Doku­mente und Bank­un­ter­lagen. Doch trotz Hinweisen auf Verun­treuung von Geldern wurde die Unter­su­chung nie abge­schlossen, bis heute kein Schluss­be­richt veröffentlicht.

Seit 2015 erhielt das Vulkan­ob­ser­va­to­rium 2.3 Millionen Dollar von der Welt­bank, doch ihr vier­jäh­riges Finan­zie­rungs­pro­gramm wurde im Oktober letzten Jahres nicht verlän­gert. Es habe Schwä­chen gegeben bei der Umset­zung des Zuschusses, die Vorwürfe der Verun­treuung von Geldern wurde von der Welt­bank jedoch nicht bestätigt.

Kurzum: Die Mitar­bei­tenden des Vulkan­ob­ser­va­to­riums wollten zusammen mit LUCHA die Korrup­tion stoppen und dafür sorgen, dass der Vulkan täglich über­wacht wird. Passiert ist das Gegen­teil: Die Welt­bank drehte den Geld­hahn ab – mit gravie­renden Konsequenzen.

Eine Frage der Prioritäten

Trotz der Finan­zie­rungs­lücke setzte das Obser­va­to­rium seine Bemü­hungen zur Über­wa­chung des Nyira­gongo so gut es ging fort. Doch mehrere Akti­vi­täten mussten einge­stellt werden. Über sieben Monate fehlte die Finan­zie­rung für das Internet zur Über­tra­gung von Echt­zeit­daten von Fern­sen­soren. Und es fehlte an Mitteln für regel­mäs­sige Messungen vor Ort – ein teures Vorhaben, da der Schutz der Vulkanolog:innen vor bewaff­neten Gruppen sicher­ge­stellt werden muss. 

Erst im Mai wurde das Internet wieder­her­ge­stellt und Aufzeich­nungen gemacht. Nichts­de­sto­trotz wurden die Vulkanolog:innen von der Erup­tion am Abend des 22. Mai über­rascht, die Warn­si­gnale seien nicht eindeutig gewesen.

Klar können der Vulkan und seine Magma­be­we­gungen nicht kontrol­liert werden. Trotzdem: Bessere Messungen hätten Warn­si­gnale viel­leicht deut­li­cher gemacht, andere Prio­ri­täten hätten den Schutz der Bevöl­ke­rung gewährleistet.

Seit Jahren etwa arbeitet das Natio­nale Institut für Geophysik und Vulka­no­logie in Pisa an Lava­strom­si­mu­la­tionen, um künst­liche Barrieren für die Abschir­mung der Stadt zu iden­ti­fi­zieren. Goma wurde jedoch ober­halb der Lava­ströme von 2002 wieder aufge­baut und hat sich seitdem auf das Vier­fache ausgeweitet.

Um der Abhän­gig­keit von inter­na­tio­nalen Zahlungen und deren Unbe­stän­dig­keit zu verhin­dern, wandte sich die Bürger­be­we­gung LUCHA vor dem Rückzug der Welt­bank erneut an die kongo­le­si­sche Natio­nal­ver­samm­lung und forderte eine nach­hal­tige staat­liche Finan­zie­rung. Doch die Warnungen wurden nicht ernst genommen.

Aber auch der Rückzug der Welt­bank wirft Fragen auf. Sollen Menschen wegen des unver­ant­wort­li­chen Verhal­tens ihrer Regie­rung jeden Tag einer eigent­lich besser voraus­plan­baren Natur­ka­ta­strophe ausge­setzt sein?

Eine Folge des Blicks

So zynisch es auch klingen mag: Die Finan­zie­rung von Risi­ko­ma­nage­ment für Natur­ka­ta­stro­phen scheint in der inter­na­tio­nalen Zusam­men­ar­beit zumin­dest im Osten der DR Kongo schlichtweg weniger attraktiv zu sein als die Bewirt­schaf­tung anderer Themenfelder.

Ein Blick auf die aktu­ellen Projekte der Welt­bank in der betrof­fenen Region zeigt: Neben einem 200-Millionen-Projekt zur Stär­kung des Gesund­heits­sy­stems finan­ziert sie ausschliess­lich Projekte zu gender­spe­zi­fi­scher Gewalt, so etwa in Goma wie in Kabati, das von der Lava total über­flutet wurde, aber auch in Sake, wohin die meisten Menschen geflohen sind, sowie in den Zufluchts­orten Kirotshe, Minova und Ruts­huru. Die insge­samt 600 Millionen Dollar für gender­spe­zi­fi­sche Gewalt lassen die zwei Millionen Dollar für das Vulkan­ob­ser­va­to­rium zur Lächer­lich­keit verkommen.

Dass gender­spe­zi­fi­sche Gewalt auf die huma­ni­täre Agenda gesetzt wurde, ist unbe­streitbar wichtig. Gerade weil dieses Problem in der DR Kongo lange igno­riert wurde. Die medial-poli­ti­sche Fokus­sie­rung brachte jedoch auch ihre Schat­ten­seiten. Etwa den Hype um das Thema, welcher im Wett­be­werb um Hilfs­gelder zu künst­li­chen Aufblä­hungen von Opfer­sta­ti­stiken führte und andere Probleme über­schat­tete. Für NGOs in der DR Kongo, die sich die Bekämp­fung sexu­eller Gewalt nicht zu einem ihrer Ziele gesetzt hatten, sei es zeit­weise schwierig gewesen, Gelder zu erhalten.

Auch die unre­flek­tierte Akzep­tanz oder gar schon Erwar­tung dieses Tatbe­standes – die Folge eines andau­ernden sexuell-rassi­fi­zierten (post-)kolonialen Blicks auf die Region, so argu­men­tiert Chloé Lewis – begün­stigt das viel zu einsei­tige Narrativ von der DR Kongo als die „Verge­wal­ti­gungs­haupt­stadt der Welt“. Huma­ni­täre pater­na­li­sti­sche Logiken scheinen hier wirk­samer zu greifen als bei einem Vulkan, der noch nicht ausge­bro­chen ist.

Magma unter der Stadt

Obwohl Goma nur am Rande von der Lava erreicht wurde, kam die Stadt nicht zur Ruhe: In den folgenden Tagen erschüt­terten heftige Erdbeben die Region – mehrere Hundert, phasen­weise alle 15 Minuten. Es bildeten sich grosse Risse in Strassen, manche Gebäude fielen zusammen. Zudem befand sich weiterhin giftiger Asche­staub in der Luft.

In der Nacht auf den 27. Mai folgte eine erneute Evaku­ie­rungs­an­ord­nung für zehn der 18 Bezirke Gomas. Radar­bilder zeigten, dass sich Magma unter der Stadt hindurch bewegt. Dieses drohte bei einer weiteren Erup­tion an die Ober­fläche zu gelangen. Das schlimmst­mög­liche Szenario, so die Kommu­ni­ka­tion des Obser­va­to­riums, sei eine Erup­tion unter dem angren­zenden Lake Kivu, die Hundert­tau­sende Tonnen Kohlen­di­oxid frei­setzen und das Leben um den See zum Ersticken bringen könnte. Auch die zweite Evaku­ie­rung spielte sich ohne offen­sicht­liche Orga­ni­sa­tion oder logi­sti­sche Unter­stüt­zung ab, weder durch die Regie­rung noch durch huma­ni­täre Orga­ni­sa­tionen. Es gab keine Koor­di­na­tion der Menschen­be­we­gungen, keine orga­ni­sierten Trans­porte und vor allem keine Auffangstationen.

Auf sich allein gestellt

Die Betrof­fenen sind enttäuscht und wütend. Nicht nur hat ihr Vertrauen in ihre Regie­rung einmal mehr gelitten, auch ihr Miss­trauen in die huma­ni­tären Orga­ni­sa­tionen ist gewachsen. Auch wenn die meisten die Verant­wor­tung für die aktu­elle Lage bei der eigenen Regie­rung sehen, fragen sich viele, weshalb die über 200 huma­ni­tären Orga­ni­sa­tionen vor Ort nicht sofort zur Hilfe eilten. „Sie haben tatsäch­lich evaku­iert und sind abge­reist“, „sie alle sind geflüchtet“, berich­teten Bekannte auf Twitter und am Telefon.

Die UN kündigte schon vor der erneuten Evaku­ie­rung der Bevöl­ke­rung den Abzug ihres gesamten nicht-essen­ti­ellen Perso­nals von unge­fähr 5 000 Personen aus Goma an. Am Tag danach schien sich für manche Kongoles:innen eine unan­ge­nehme Situa­tion zu wieder­holen. Während ein Gross­teil von ihnen zu Fuss unter­wegs in die nahe gele­gene Klein­stadt Sake war, evaku­ierten die UN und Hilfs­or­ga­ni­sa­tionen ihr Personal auf der dicht gedrängten Strasse in ihren Fahrzeugen.

In die Bresche sprangen andere: Indi­vi­duen aus der Diaspora schickten Geld in die Gebiete für die erste Unter­stüt­zung, etliche lokale Spen­den­ak­tionen wurden aufge­gleist. Die Bürger­rechts­be­we­gung LUCHA orga­ni­sierte sich seit dem Tag des Ausbruchs in verschie­denen Städten. In Sake kochen und verteilen Jugend­liche Brei für die Bevöl­ke­rung ohne Mittel, disku­tieren mit den Behörden über die Repa­ratur eines Wasser­re­ser­voirs oder machen Toiletten sauber.

Derweil kam es in der über­füllten Klein­stadt zu Engpässen in der Bargeld­geld­aus­gabe – Anbieter:innen wie Western Union sind zu wenig liquid, um die ange­kom­menen Geld­be­träge auf einmal auszu­zahlen. Die Unter­stüt­zung durch huma­ni­täre Orga­ni­sa­tionen braucht trotzdem mehr Zeit: Nachdem sie sich in ihren Über­gangs­re­si­denzen ausser­halb der Stadt einge­richtet hatten, mussten sie erst die Leute zählen, huma­ni­täre Bedürf­nisse abklären und Berichte schreiben.

Langsam machten sich die aus Goma geflüch­teten Leute in die Stadt zurück, obwohl die Provin­zi­al­re­gie­rung es noch nicht erlaubt hatte. Auch dorthin, wo noch akute Gefahr herrschte. Es ist nicht so, dass sie sich den Risiken nicht bewusst gewesen wären. Die meisten von ihnen erin­nern sich noch zu gut an 2002. Aber ohne genü­gend Nahrung, ohne Dach über dem Kopf und ohne Sicher­heit blieb ihnen nicht viel anderes übrig.

Derzeit kommt sicht­bare Hilfe von huma­ni­tären Orga­ni­sa­tionen langsam an. Méde­cins sans Fron­tières instal­liert in Sake Wasser­tanks, die UNHCR beginnt mit dem Aufbau von Zelten, das World Food Programme orga­ni­siert Nahrungs­mit­tel­hilfe für die näch­sten zehn Tage. 

Die Kata­strophe ist passiert. Nun scheinen die Menschen das Geld wert. Die Notlage ist sichtbar – die Frage ist, wie lange noch.

Im Moment arbeitet die Provinz­re­gie­rung an der schritt­weisen Rück­kehr der Vertrie­benen nach Goma, auch wenn ein Wieder­auf­leben der vulka­ni­schen Akti­vität noch nicht voll­ständig ausge­schlossen werden kann.


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