Die Frei­zeit ist reif

Weniger arbeiten und damit Gutes für Umwelt, Gesell­schaft und Wirt­schaft tun – klingt zu schön, um wahr zu sein? Wissenschaftler*innen der Univer­sität Bern zeigen: Eine andere Arbeits­welt wäre möglich. 
Eine Arbeitszeitreduktion kann sowohl positive Auswirkungen auf das Klima als auch das individuelle Wohlbefinden haben. (Illustration: Luca Mondgenast)

Die junge Gene­ra­tion sei faul und würde lieber arbeitslos als unzu­frieden mit ihrer Arbeit sein, monieren Gegner*innen einer allge­mein­gül­tigen Reduk­tion der Erwerbs­tä­tig­keit. Doch was ist es, das eine Arbeits­zeit­re­duk­tion so attraktiv macht?

Für die Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung nichts, könnte man meinen: Vor rund zehn Jahren lehnten die Schweizer Stimm­be­rech­tigten die Feri­en­in­itia­tive ab. Aus den bis dahin geltenden vier Wochen Mindest­ur­laub wären mit der gewerk­schaft­li­chen Initia­tive sechs geworden. 66 Prozent stimmten dagegen.
Eine Stimm­be­völ­ke­rung, die sich gegen mehr Ferien, Frei­zeit und Raum für Erho­lung ausspricht?

Was paradox klingt, ist in der Schweiz Norma­lität. Die Bewah­rung des Wohl­stands durch indi­vi­du­ellen Fleiss und mehr Arbeit gilt als Schweizer Selbst­ver­ständ­lich­keit.

Nun aber bringt die Wissen­schaft selbst diese Erzäh­lung ins Wanken: Das Centre for Deve­lo­p­ment and Envi­ron­ment (CDE) der Univer­sität Bern veröf­fent­lichte kürz­lich ein Paper zum Thema Arbeits­zeit­re­duk­tion. Dieses zeigt, dass eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Reduk­tion der Erwerbs­ar­beit grosses Poten­tial für posi­tive Einflüsse auf Umwelt, Lebens­zu­frie­den­heit und eine funk­tio­nie­rende Wirt­schaft haben könnte.

„Bis vor kurzem wäre eine Reduk­tion der Wochen­ar­beits­zeit in der Schweiz eine Sache der Unmög­lich­keit gewesen“, sagt Chri­stoph Bader, Wissen­schaftler am CDE, der an besagtem Paper betei­ligt war. Auch die Pandemie habe vor Augen geführt, wie schnell die Politik zu reagieren fähig sei – zum Beispiel durch die Finan­zie­rung der Kurz­ar­beit, meint Bader. Dies habe den Weg geebnet zur erneuten Ausein­an­der­set­zung mit der Arbeits­zeit­re­duk­tion.

In den letzten zwei Jahren ging es plötz­lich schnell: Erste Schweizer Firmen stellten auf eine Vier-Tage-Woche um, Gewerk­schaften wie Synd­icom und UNIA forderten eine 35-Stunden-Woche. Island ging mit einer Vier-Tage-Woche beispiel­haft voran, verzeich­nete einen über­wäl­ti­genden Erfolg und ebnet so den Weg für Initia­tiven in anderen Ländern – auch in der Schweiz.

Im Dezember 2021 wagte SP-Natio­nal­rätin Tamara Funi­ciello einen poli­ti­schen Vorstoss beim Schweizer Parla­ment, um eine Maxi­mal­ar­beits­zeit von 35 Wochen­stunden für mitt­lere und tiefe Einkommen zu erzielen. Der Bundesrat schmet­terte die Initia­tive mit dem Argu­ment ab, dass ein solcher Beschluss „eine Abkehr von zentralen Elementen der Schweizer Arbeits­markt­po­litik“ bedeuten würde.

Trotzdem geht die Diskus­sion auch in der Schweiz weiter. Im April griff zum Beispiel der „Strike For Future“ das Thema auf. „Wir sind am Ende der mensch­li­chen und plane­taren Grenzen ange­langt, die Produk­tion muss gedros­selt werden“, finden Hannah Borer und Mattia De Lucia, Aktivist*innen aus Zürich. Eine radi­kale Reduk­tion der hiesigen Arbeits­zeit könne ein Mittel dafür sein. 

Der posi­tive Effekt aufs Klima

Die posi­tiven Auswir­kungen auf das Klima sind ein essen­ti­eller Grund, der für eine Reduk­tion der Erwerbs­ar­beits­zeit spricht. Gemäss Studien zu OECD-Ländern würde sich unser CO2-Fuss­ab­druck im Durch­schnitt um ganze 14,6 Prozent redu­zieren, wenn wir unsere Arbeits­zeit um zehn Prozent verrin­gern würden. Eine Verrin­ge­rung um 25 Prozent entspräche sogar einem um 36,6 Prozent gerin­gerem ökolo­gi­schen Fussabdruck.

Diese Reduk­tion beinhaltet einer­seits die gesparte Energie durch weniger Produk­tion, aber auch das Wegfallen von Pendel­strecken. „Natür­lich ist das nur eine Modell­rech­nung“, kontex­tua­li­siert Bader die genannten Zahlen.

„Wir sind am Ende der mensch­li­chen und plane­taren Grenzen ange­langt, die Produk­tion muss gedros­selt werden.“

– Hannah Borer und Mattia De Lucia, Aktivist*innen aus Zürich

Der Zusam­men­hang von gelei­steten Arbeits­stunden und CO2-Emis­sionen ist ausserdem nicht für alle Länder gleich. „Für weniger stark entwickelte Volks­wirt­schaften ist ein stei­gendes Wachstum mögli­cher­weise immer noch sinn­voll, während wir in der Schweiz mit unserem Konsum deut­lich runter sollten“, erklärt der Wissen­schaftler. Ausschlag­ge­bend sei das Zusam­men­spiel des Arbeits­zeit- und Einkom­mens­ni­veaus und die Art und Weise, wie die neu gewon­nene Zeit genutzt wird.

Studien zeigen, dass wir gerade in unserer Frei­zeit die meisten Emis­sionen verur­sa­chen, inso­fern wir das Geld dazu haben. Denn je mehr wir verdienen, desto grösser werden unser Klima-Fuss­ab­druck und Ressour­cen­ver­brauch.

Der Zusam­men­hang liegt auf der Hand: Wer mehr Geld hat, lebt tenden­ziell auf grös­serem Fuss, verreist öfter und kauft sich mehr Dinge, als Personen mit weniger Geld. Ein ökolo­gi­scher Effekt auf der indi­vi­du­ellen Ebene würde sich vor allem dann einstellen, so die Wissenschaftler*innen des CDE, wenn wir in der neu gewonnen Frei­zeit ressour­cen­leichte Tätig­keiten wählten: Uns also zum Beispiel um soziale Bezie­hungen kümmerten, weiter­bil­deten oder einem frei­wil­ligen Enga­ge­ment nachgingen.

Die skur­rile Diskus­sion um Produktivität

Ein komplexer Aspekt im Zusam­men­hang mit einer vermin­derten Arbeits­zeit ist die Produk­ti­vität, also wie viel Wert­schöp­fung im Verhältnis zum Zeit­auf­wand erfolgen kann. Zahl­reiche Studien zeigen, dass verrin­gerte Wochen­ar­beits­stunden zu einer erhöhten Produk­ti­vität der Arbeit­neh­menden führt, da sie sich etwa besser von ihrer Arbeit erholen können.

Grosse Konzerne wie Kellogg’s oder Unilever haben dies früh erkannt und sich zunutze gemacht. Doch: „Eine Verkür­zung der Erwerbs­ar­beits­zeit darf nicht als Mittel zur Stei­ge­rung von Produk­ti­vität und Profit von Unter­nehmen führen“, wenden die Aktivist*innen ein. Damit wäre der ökolo­gi­sche und somit auch der soziale Effekt einer Arbeits­zeit­re­duk­tion dahin.

„Wir müssen also ein anderes Mass als die Arbeits­pro­duk­ti­vität finden, eine Art von Quali­täts­mass. Es braucht ein anderes Ziel als das Wachstum der Wirt­schaft als Selbstzweck.“

– Chri­stoph Bader, Wissen­schaftler am CDE

Während die Arbeits­pro­duk­ti­vität in der Schweiz zwischen 1991 und 2017 um 26 Prozent gestiegen ist, sind die Real­löhne ledig­lich um 14 Prozent in die Höhe, so der Bericht des CDE. Das durch höhere Arbeits­pro­duk­ti­vität entste­hende Wachstum schlug sich also nicht in einer Entla­stung oder einer finan­zi­ellen Besser­stel­lung der Lohn­ab­hän­gigen nieder. Im Gegen­teil: „Die Ungleich­heit ist in dieser Zeit gestiegen. Das ist durch­ge­hend für fast alle OECD-Staaten“, sagt Wissen­schaftler Bader.

In den 1990ern war auch die Digi­ta­li­sie­rung auf Hoch­kurs, die viele Arbeits­ab­läufe beschleu­nigte und die Produk­ti­vität steigen liess. So lag 1950 die durch­schnitt­liche Wochen­ar­beits­zeit in der Schweiz bei bei 47,7 Stunden, 2020 noch bei 41,7 Stunden. Damit verfügt die Schweiz aller­dings immer noch über eine der höch­sten wöchent­li­chen Erwerbs­ar­beits­zeit in Europa.

Gleich­zeitig hat die durch­schnitt­liche Wert­schöp­fung – also die Trans­for­ma­tion vorhan­dener Güter in Güter mit höherem Geld­wert – pro Arbeits­stunde in der Schweiz seit Mitte der 1990er um ledig­lich ein Prozent pro Jahr zuge­nommen. Während das Wirt­schafts­wachstum hoch­ent­wickelter Volks­wirt­schaften seit geraumer Zeit stagniert, scheinen sich neben den ökolo­gi­schen auch die ökono­mi­schen Grenzen sicht­barer zu zeigen.

Aus einer ökolo­gi­schen Perspek­tive ist ein Wachs­tums­schwund grund­sätz­lich als positiv zu bewerten, schluss­fol­gern die Wissenschaftler*innen des CDE. Aller­dings stelle er für unser aktu­elles Wirt­schafts­sy­stem, das struk­tu­rell auf ein stän­diges Wachstum ausge­richtet ist, ein Problem dar: Vermin­dertes Wachstum führe zum Beispiel dazu, dass unsere derzei­tige Wirt­schaft nicht mehr genü­gend neue Arbeits­plätze schafft, um die Arbeits­plätze, die durch den Anstieg der Arbeits­pro­duk­ti­vität wegfallen, zu kompen­sieren.

Chri­stoph Bader: „Wir führen diese skur­rile Diskus­sion über Produk­ti­vität. Aber in der Bildung oder der Gesund­heit wird nichts produ­ziert, das immer noch effi­zi­enter gelei­stet werden könnte, sondern man bietet eine möglichst gute Dienst­lei­stung an. Wir müssen also ein anderes Mass als die Arbeits­pro­duk­ti­vität finden, eine Art von Quali­täts­mass. Es braucht ein anderes Ziel als das Wachstum der Wirt­schaft als Selbst­zweck.“ Die Wirt­schaft stecke in der soge­nannten Produk­ti­vi­täts­falle, so Bader.

Die Vermin­de­rung der Arbeitslosigkeit

Befürworter*innen einer Arbeits­zeit­re­duk­tion nennen gerne einen weiteren posi­tiven Effekt: die Vermin­de­rung der Arbeits­lo­sig­keit. Durch eine soge­nannte „kurze Voll­zeit“ – 35 statt 42 Stunden pro Woche bei 100 Prozent zum Beispiel – würden Stel­len­pro­zente und somit Jobs frei.

Wie das insge­samt zu hand­haben wäre? Etwa über eine Umver­tei­lung der Arbeits­kräfte, wie die Aktivist*innen Hannah Borer und Mattia De Lucia vom Strike For Future meinen: „Arbeits­stellen in unnö­tigen oder klima­schäd­li­chen Bran­chen müssen abge­baut, Bereiche wie die Pflege oder ökolo­gisch sinn­volle Bereiche dafür aufge­stockt werden.“

Durch den soge­nannten „Perso­nal­aus­gleich“ könnte die Nach­frage nach Arbeits­kräften zunehmen, sagt die Akti­vi­stin. „Somit könnte das Kräf­te­ver­hältnis zwischen Arbeit­neh­menden und Arbeitgeber*innen verschoben werden.“

Es gibt auch Kritiker*innen der Theorie, dass eine Arbeits­zeit­re­duk­tion zu weniger Arbeits­lo­sig­keit führen würde. So auch der Ökonom Maurice Höfgen. Er ist der Meinung, dass ein Perso­nal­aus­gleich deshalb unrea­li­stisch sei, da profit­ori­en­tierte Betriebe über­haupt erst bei einer Zunahme der Produk­ti­vität eine Arbeits­zeit­re­duk­tion in Betracht ziehen würden. Das heisst, erst wenn ein Unter­nehmen beispiels­weise 20 Prozent produk­tiver sei, käme für sie in Frage, die Arbeits­zeit um 20 Prozent zu redu­zieren – aller­dings würden so keine neuen Arbeits­stellen frei.

„Natür­lich kommt es immer auf die Begleit­mass­nahmen und die Ausge­stal­tung einer Arbeits­zeit­re­duk­tion an“, kontert Bader vom CDE. Es gäbe auch Beispiele, in denen die Unter­nehmen nicht alleine mit den Konse­quenzen einer Arbeits­zeit­re­duk­tion umgehen müssten. „In Öster­reich beispiels­weise gibt es ein Programm für einzelne Bran­chen, in welchem der Staat den vollen Lohn oder Teile davon über­nimmt, wenn Firmen eine arbeits­lose Person einstellen“, erläu­tert der Wissen­schaftler. So hätten Unter­nehmen den Anreiz, einen Perso­nal­aus­gleich zu voll­ziehen, und die verblei­bende Arbeit würde auf mehr Leute aufgeteilt.

Die Förde­rung der Gleichstellung

Die Schweiz ist nicht nur eine der Spitzenreiter*innen bei der wöchent­li­chen Normal­ar­beits­zeit, auch der Anteil von 35 Prozent Teil­zeit­ar­bei­tenden ist einer der höch­sten in Europa. Die Geschlech­ter­un­gleich­heit, die dabei zum Vorschein kommt, wurde vom briti­schen Magazin The Econo­mist als eine der grössten Europas einge­stuft.

Mit der unter­schied­li­chen Vertei­lung der Teil­zeit­ar­beit geht die Ungleich­ver­tei­lung der unbe­zahlten Sorge­ar­beit zwischen den Geschlech­tern einher. 2016 über­traf in der Schweiz die soge­nannte Care-Arbeit mit 9,2 Milli­arden Stunden die gelei­stete Erwerbs­ar­beit von 7,9 Milli­arden Stunden. Diese Diskre­panz schlägt sich auch in einer nied­ri­geren sozialen Absi­che­rung nieder: Wer Teil­zeit beschäf­tigt ist, unter­liegt einem grös­seren Armutsrisiko.

„Bei einer radi­kalen Arbeits­zeit­re­duk­tion müssten wir vermut­lich auch unsere Sozi­al­sy­steme anders finanzieren.“

– Chris­topf Bader, Wissen­schaftler am CDE

Eine Senkung der Arbeits­zeit hin zu einem Modell mit weniger Wochen­stunden würde also einer­seits die Erwerbs­ar­beit von Frauen aufwerten und ande­rer­seits zumin­dest theo­re­tisch mehr Lebens­zeit von Männern für Fürsorge- und Haus­ar­beit zur Verfü­gung stellen. Das Beispiel Island bestä­tigt die Theorie, dass Care-Arbeit bei einer Verkür­zung der Arbeits­zeit deut­lich gerechter verteilt wird. So haben Männer zum Beispiel mehr Initia­tive bei der Haus­ar­beit gezeigt, wenn sie weniger Zeit in ihre Lohn­ar­beit inve­stieren mussten.

Die Schere bei der Alters­armut könnte sich durch ausge­gli­che­neres Einzahlen in die Renten­kasse verrin­gern und auch gegen den Gender-Pay-Gap könnte eine Arbeits­zeit­re­duk­tion wirkungs­voll sein. „Im Moment springen viele Arbeits­kräfte aus dem Ausland für uns ein, wenn zum Beispiel beide Eltern­teile arbeiten“, erin­nert die femi­ni­sti­sche Akti­vi­stin Hannah Borer an die global Care-Chain. Demnach könnte eine Reduk­tion der Arbeits­zeit ein nütz­li­ches Werk­zeug sowohl gegen geschlech­ter­spe­zi­fi­sche als auch gegen die Benach­tei­li­gung von auslän­di­schen Arbeits­kräften sein.

Die Verbes­se­rung der Gesundheit

Arbeits­be­zo­gene Gesund­heits­pro­bleme sind häufig und divers: Von Rücken­schmerzen über Lärm bis hin zu sexua­li­sierter Gewalt gibt es viele Dinge, die Arbeit­neh­mende bela­stet. Im Durch­schnitt ist die Gesund­heit von einem unter vier Männern und einer von sechs Frauen in der Schweiz durch ihre Arbeit beein­träch­tigt. Hoch­ge­rechnet sind 1.1 Millionen der lohn­ab­hän­gigen Erwerbs­tä­tigen betroffen.

Laut dem Job-Stress-Index sind auch rund ein Drittel der fünf Millionen Erwerbs­tä­tigen in der Schweiz emotional erschöpft. Diese psychi­sche Bela­stung ist ein wesent­li­cher Kosten­ver­ur­sa­cher im Gesund­heits­wesen. Der durch Stress entstan­dene Schaden aus Produk­ti­vi­täts­ver­lust wird für die Schweizer Betriebe auf 6.5 Milli­arden Franken oder ein Prozent der Wirt­schafts­lei­stung geschätzt. Eine Reduk­tion der Erwerbs­ar­beit kann dafür ein gutes Mittel gegen psychi­sche Über­la­stung sein.

Die Möglich­keiten der Finanzierung

Somit kommen wir auch schon direkt zu der Frage der Finan­zie­rung. Die Wissenschaftler*innen des CDE haben verschie­dene Modelle dazu ausge­ar­beitet. Aufgrund der hohen arbeits­be­zo­genen Gesund­heits­ko­sten könnte es nämlich sein, dass durch eine Arbeits­zeit­ver­kür­zung keine zusätz­li­chen Kosten anfallen.

Es ist die attrak­tivste Möglich­keit zur Finan­zie­rung: Niemand muss die Kosten tragen, da diese entweder gar nicht anfallen oder durch weniger Gesund­heits­ko­sten kompen­siert werden. „Wenn arbeits­be­zo­gene Krank­heiten wie Stress, Burnout und Boreout zurück­gehen und so die Gesund­heits­aus­gaben sinken, wären auch weniger Arbeits­losen- und Sozi­al­hil­fe­aus­gaben nötig“, schluss­fol­gert Bader.

Diese Möglich­keit bela­stet die Arbeit­neh­menden: Ihr Lohn geht ganz einfach propor­tional zu der Arbeits­zeit­re­duk­tion zurück. Es findet also kein Lohn­aus­gleich statt. Dieses Modell ist inso­fern proble­ma­tisch, weil es die Kosten auf einzelne Person abwälzt, keine gesamt­ge­sell­schaft­liche Lösung bietet und sozial daher nicht verträg­lich ist. 

Hier wird die soge­nannte „kurze Voll­zeit“ von den Arbeit­ge­benden getragen, indem die Löhne gleich bleiben, auch „Arbeits­zeit­ver­kür­zung bei vollem Lohn­aus­gleich“ genannt. So steigen die Produk­ti­ons­ko­sten während die Gewinne der Unter­nehmen sinken – für Firmen also keine sehr attrak­tive Strategie.

Bei dieser Vari­ante kommt ein Zuwachs der Produk­ti­vität den Arbeiter*innen anstatt den Kapitalinhaber*innen zugute. Es könnte jedoch sein, dass Arbeitgeber*innen als Ausgleich die Preise ihrer Produkte erhöhen, wodurch die Kosten der kurzen Voll­zeit zumin­dest teil­weise wieder auf die Arbeit­neh­menden (in dem Fall als Konsument*innen) zurück­fallen würden.

Die dritte Möglich­keit, die die Wissenschaftler*innen des CDE sehen, ist die Quer­sub­ven­tion durch alter­na­tive Einnah­me­quellen – also durch den Staat, bezie­hungs­weise unsere Steuern. Dies wäre beispiels­weise möglich, indem es eine Verla­ge­rung der Besteue­rung, weg von der Arbeit, dafür hin zu einer vermehrten Besteue­rung von Kapital und Umwelt­aus­wir­kungen statt­finden würde.

Denn heute werden unsere Sozi­al­sy­steme gröss­ten­teils durch die Besteue­rung von Arbeit finan­ziert: Rund die Hälfte des Steu­er­auf­kom­mens der öffent­li­chen Hand basiert auf der Besteue­rung von Arbeit – entweder direkt durch die Einkom­mens­steuern oder indi­rekt durch Lohn­bei­träge an die Sozialversicherungen.

Chri­stoph Bader meint, dass eine abso­lute Reduk­tion der Erwerbs­ar­beits­zeit bei der jetzigen Ausge­stal­tung der Finan­zie­rung der Sozi­al­sy­steme nega­tive Auswir­kungen auf deren Sicher­heit hätte. Eine soziale-ökolo­gi­sche Trans­for­ma­tion der Erwerbs­ar­beit müsse daher auch zu einer zumin­dest teil­weisen Entkopp­lung der Erwerbs­ar­beit von der Existenz­si­che­rung, im Sinne der Abhän­gig­keit von den Sozi­al­sy­stemen, führen.

Die Wissenschaftler*innen des CDE selbst propa­gieren eine Mittelweg-Vari­ante: Die Erwerbs­ar­beits­zeit­re­duk­tion mit abge­stuftem Lohn­aus­gleich. Gemäss ihren Analysen nähme ab dem Medi­an­ein­kommen, das 2020 in der Schweiz bei 6’665 Franken lag, die Zufrie­den­heit mit zusätz­li­chem Einkommen nicht weiter zu. Gleich­zeitig steige ab dem Medi­an­ein­kommen der ökolo­gi­sche Fuss­ab­druck markant an.

Arbeit­neh­mende, die jetzt Voll­zeit arbeiten und dabei weniger als den Medi­an­lohn verdienen, könnten ihre Arbeits­zeit redu­zieren und dabei gleich viel verdienen wie zuvor. Sie hätten so zwar nicht mehr Geld, dafür aber mehr Zeit zur Verfü­gung, die sie für zeit­in­ten­sive, aber ressour­cen­leichte Tätig­keiten einsetzen könnten.

Arbeit­neh­mende, deren Einkommen leicht über dem Medi­an­lohn läge, erhielten einen abge­stuften Lohn­aus­gleich, während dieje­nigen mit den höch­sten Einkommen keinen Lohn­aus­gleich erhielten. Vielverdiener*innen hätten somit mehr Zeit, gleich­zeitig jedoch weniger Geld als zuvor zur Verfü­gung, was die ökolo­gi­schen Kosten ihres Lebens­stils beschränken könnte.

Ein mögli­ches Instru­ment zur Umset­zung und Finan­zie­rung eines abge­stuften Lohn­aus­gleichs wäre eine die soge­nannte „nega­tive Einkom­mens­steuer“, bei welcher Haus­halte mit tiefem Einkommen eine Ausgleichs­zah­lung erhielten. Mit stei­gendem Einkommen nehmen die Trans­fer­lei­stungen bis zu einem zu bestim­menden Schwel­len­wert ab. Wer darüber liegt, muss Einkom­mens­steuern zahlen. Dies funk­tio­niere aller­dings nur, wenn genü­gend bezahlte und existenz­si­chernde Arbeits­stellen verfügbar sind, so das CDE.

Was jetzt?

„Wir müssen auf vielen verschie­denen Ebenen gleich­zeitig ansetzen“, ist sich Bader sicher. Dann hätten auch poli­ti­sche Vorstösse viel mehr Kraft. „Und somit wird auch die Chance grösser, dass wir gesamt­ge­sell­schaft­lich etwas errei­chen.“ Die Ausar­bei­tung der Arbeits­zeit­re­duk­tion müsste bran­chen­spe­zi­fisch ange­passt werden, so der Wissen­schaftler. Ausserdem sei eine Vermin­de­rung der Erwerbs­ar­beits­zeit nur ein Puzzle­teil von vielen auf dem Weg zu einer sozial-ökolo­gi­schen Transformation.

Hannah Borer und Mattia De Lucia sehen in einer radi­kalen Arbeits­zeit­re­duk­tion ein Werk­zeug, das einen ersten Ansatz zur Verbes­se­rung vieler Probleme vereint. „Was wir jetzt tun müssen, ist den Diskurs weiter zu fördern, uns zum Beispiel mit unseren Mitarbeiter*innen zu orga­ni­sieren und uns zu fragen: Was würde eine Arbeits­zeit­re­duk­tion eigent­lich für uns bedeuten?“

Die Diskus­sion um eine redu­zierte Erwerbs­ar­beits­zeit sei nicht neu, so die Aktivist*innen. Dass wir heute nicht noch viel mehr arbeiten, hätten wir verschie­denen Arbeits­kämpfen in der Vergan­gen­heit zu verdanken. Es gälte, diese Bewe­gung weiter zu führen.


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