UK on Strike!

Seit dem letzten Sommer legten in Gross­bri­tan­nien so viele Arbeiter*innen ihre Arbeit nieder wie seit Jahr­zehnten nicht mehr. Das Lamm sprach mit diversen Strei­kenden vor Ort. 
Alle gleich hinter dem Union Jack? In Grossbritannien wird gestreikt. (Illustration: Luca Mondgenast)

Um halb 9 Uhr an einem Mitt­woch­morgen im Februar ist die Anzahl Personen vor dem British Museum, einem der bekann­te­sten Museen Londons, noch bescheiden. An einem Baum­stamm vor dem Haupt­ein­gang hängt ein oranges Banner mit der Aufschrift „On Strike“ und ein paar Leute, die sich Leucht­we­sten über ihre Winter­jacken gestreift haben, stehen auf dem Gehweg und unter­halten sich. Sie alle sind gewerk­schaft­lich orga­ni­sierte Mitar­bei­tende des Museums, die den Anfang eines Streik­po­stens bilden. 

In diesen soge­nannten Picket Lines versam­meln sich Ange­stellte, die ihre Arbeit nieder­ge­legt haben, um Passant*innen auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen und Kolleg*innen dazu zu bringen, sich ihnen anzu­schliessen. „Die meisten kommen erst später“, sagt Noemi Petti­nato, eine der strei­kenden Museumsmitarbeiter*innen fast entschul­di­gend. Tags zuvor sei es auch so gewesen. Grund dafür sei der Umstand, dass das Ticket für den Zug, mit dem sie von ihrem Wohnort ausser­halb Londons ins Zentrum fährt, zu Rand­zeiten rund 10 Pfund weniger koste.

Bilder von Picket Lines und von tausenden Menschen mit Trans­pa­renten, auf denen Slogans wie „Enough is Enough“ stehen oder auf denen höhere Löhne – das Haupt­an­liegen der Streiks – gefor­dert werden, gingen in den vergan­genen Monaten um die Welt. 

Am Anfang der aktu­ellen Streik­welle stand eine Aktion im Juni 2022, bei der um die 40’000 Bahnarbeiter*innen ihre Arbeit nieder­legten. Seither haben sich immer mehr Ange­stellte den Streiks ange­schlossen, darunter etwa Lehrer*innen sowie Ange­stellte des Natio­nalen Gesund­heits­dien­stes (NHS).

Wie das briti­sche Stati­stikamt vor Kurzem bekannt gab, wurden im Jahr 2022 allein knapp 2.5 Millionen Arbeits­tage gestreikt, so viel wie seit dem Jahr 1989 nicht mehr. Und das war noch längst nicht alles: Im neuen Jahr gingen die Proteste weiter. So streikten am 1. Februar 2023 500’000 Personen verschie­dener Bran­chen und in den näch­sten Wochen sind weitere natio­nale und regio­nale Streiks angekündigt.

Im Gegen­satz zum 1. Februar, an dem das British Museum geschlossen blieb, arbei­teten zu Beginn dieser Woche genü­gend Leute, um einen Teil des Museums öffnen zu können. Soeben geht ein junger Mann mit gesenktem Kopf an der Picket Line vorbei und läuft durch das Tor Rich­tung Gebäude. „Er ist doch auch in der Gewerk­schaft, oder?“, fragt ein Kollege Noemi Petti­nato mit verär­gertem Gesicht. „Ja“, meint sie und zuckt mit den Schul­tern. Zwischen Strei­kenden und Streikbrecher*innen, von denen einige am Eingang stehen, deren Schicht bereits begonnen hat, herrscht ein eher entspannter Umgang. 

Wie die meisten anderen Strei­kenden in Gross­bri­tan­nien fordern auch Petti­nato und ihre Kolleg*innen mehr Lohn. Bei der höch­sten Infla­ti­ons­rate seit über 40 Jahren, ganze elf Prozent im vergan­genen Jahr, und astro­no­mi­schen Ener­gie­preisen ist das wenig über­ra­schend. Viele Ange­stellte, die seit Jahren beim Museum ange­stellt seien, hätten in Bezug auf die Kauf­kraft heute sogar einen tieferen Lohn als zu Beginn ihrer Anstel­lung, da sie über Jahre hinweg nicht den vollen Teue­rungs­aus­gleich erhielten, sagt Petti­nato, die im Besucher*innenzentrum des Museums arbeitet. 

Wenig ist es sowieso: „Nach den Steu­er­ab­zügen bleiben mir etwa 1’500 Pfund“, also rund 1’650 Schweizer Franken. Als Allein­ste­hende zahle man in London für ein einzelnes Zimmer bis zu 1’000 Pfund Miete. Das bezieht sich wohl­ge­merkt auf die Miete für ein einzelnes, preis­wertes Zimmer. „Dazu kommen 200 Pfund für den Trans­port. Und wenn du noch was essen oder sonst leben willst, kannst du dir selbst ausrechnen, wie viel dir dafür noch bleibt.“ Für Petti­nato ist es das erste Mal, dass sie für ihre Rechte als Arbeit­neh­merin kämpft. „Es fühlt sich gut an“, meint sie lächelnd. „So, als wären wir auf der rich­tigen Seite.“

An den Hoch­schulen wird schon lange gestreikt

Genau wie Petti­nato streiken viele Brit*innen zum ersten Mal in ihrem Leben – und das nicht nur in London, sondern in allen Landes­teilen. Andere sind da geübter, nament­lich die Uni-Ange­stellten, die seit über zehn Jahren regel­mässig ihre Arbeit nieder- und den Hoch­schul­be­trieb teil­weise lahm­legen. In der Woche vor dem Muse­ums­streik hatten Mitglieder der Univer­sity and College Union (UCU), einer Gewerk­schaft von Unian­ge­stellten, an verschie­denen Hoch­schulen im Land gestreikt, unter anderem im schot­ti­schen Glasgow.

Es regnet ausnahms­weise gerade nicht, als sich UCU-Mitglieder am Frei­tag­mittag auf den Buchan­an­steps im Zentrum Glas­gows versam­meln. Einige Leucht­we­sten, ein paar Trans­pa­rente und viele pinke Strick­mützen mit dem Logo der Gewerk­schaft sind zu sehen. Um kurz vor 1 Uhr haben sich etwa 40 Leute vor den Buchanan Steps in der Fussgänger*innenzone versam­melt, als plötz­lich aus der Ferne Tril­ler­pfeifen zu hören sind. Eine Mini-Demo bestehend aus Studie­renden, die den Streik der Ange­stellten unter­stützen, stösst dazu. 

Als die Vertreter*innen der Gewerk­schaft sowie des STUC, eines Dach­ver­bandes von Gewerk­schaften in Schott­land, auf der Treppe ihre Reden halten, sind knapp 100 Personen versam­melt. Die Stim­mung ist trotz der eisigen Bise und des ernsten Themas gut, es wird ausgiebig geklatscht, ein paar ältere Männer halten ab und zu die zur Faust geballte Hand in die Luft. Die Redner*innen beziehen sich nicht nur auf die eigenen prekären Bedin­gungen an der Uni, sondern verorten sich in einem gesamt-briti­schen Kampf für Arbeiter*innenrechte.

„Das ist der dritte Streiktag in diesem Jahr, weitere 15 Tage sind geplant“, sagt Catriona Mowat, eine der Redner*innen, nachdem der offi­zi­elle Teil der Veran­stal­tung vorbei ist. Mowat arbeitet in der Univer­wal­tung und ist Teil der UCU Glasgow Cale­do­nian Univer­sity. Die Ange­stellten der Unis, darunter viele Lehr­kräfte, fordern seit Jahren höhere Löhne, bessere Arbeits­be­din­gungen und keine Renten­kür­zungen – bisher erfolglos. 

Doch dieses Mal könnte es anders kommen. „Es fühlt sich jeden­falls anders an“, sagt Mowat und meint damit die Streik­welle, die ganz Gross­bri­tan­nien erfasst hat und auf viel Sympa­thie stösst. „Der ganze öffent­liche Sektor ist am Streiken und wir erhalten sehr viel Unter­stüt­zung aus der Bevöl­ke­rung“, sagt Mowat. 

Inner­halb ihrer Uni streiken nicht nur Lehr­kräfte und Büro­an­ge­stellte, sondern aktuell auch Teile des Putz­per­so­nals – mit denen man sich soli­da­ri­siere. Und von den Studie­renden habe man noch nie so viel Zuspruch erhalten. Tatsäch­lich sind diese teil­weise von den Streiks an ihren Unis genervt, was vor allem mit den horrenden Studi­en­ge­bühren von je nach Studi­en­gang und Hoch­schule um die 10’000 Pfund pro Seme­ster zu tun hat. Doch aktuell scheinen viele Verständnis für die Anliegen ihrer Dozent*innen zu haben und sehen die Schuld für die Streiks eher bei den Universitätsleitungen.

Sie habe Hoff­nung, dass sich etwas bewege, meint Catriona Mowat. Vor Kurzem habe ihnen die Unilei­tung ein Angebot für eine Lohn­er­hö­hung gemacht – aller­dings kein befrie­di­gendes: Ihre Mitglieder hätten das Angebot in einer Online-Abstim­mung abgelehnt. 

Wenige Tage nach dem Streiktag in Glasgow fanden weitere Verhand­lungen statt. Mowat glaubt, dass auch die aktu­elle Politik der Tory-Regie­rung die Streiks zusätz­lich befeuere. „Gerade das neue Anti-Streik-Gesetz trägt viel dazu bei, dass die Leute einfach wütend sind.“ Mowat meint die „Strikes (Minimum Service) Bill“, der Entwurf eines neuen Gesetzes, mit dem fest­ge­legt werden soll, dass gewisse, als system­re­le­vant defi­nierte Berufe ein Minimum an Dienst­lei­stungen sicher­stellen müssten. 

Konkret bedeutet das: Einer bestimmten Anzahl Personen, beispiels­weise der Beleg­schaft einer Kran­ken­haus­ab­tei­lung, könnte es verboten werden, zu streiken – sie wären gesetz­lich zur Arbeit gezwungen. Das Gesetz wird derzeit gerade im House of Lords behan­delt und hat in breiten Schichten der Bevöl­ke­rung Protest ausge­löst. Es wäre nur das neueste in einer ganzen Reihe von Gesetzen, welche das Recht zu streiken in Gross­bri­tan­nien einschränken oder erschweren.

Die Preka­rität des Lebens analysieren

Die aktu­elle Streik­welle nicht nur zu beschreiben und zu feiern, sondern sie auch zu hinter­fragen und zu analy­sieren, ist etwas, das sich die Angry Workers zur Aufgabe gemacht haben. Das seit 2014 bestehende Kollektiv hat auf seiner Website Texte publi­ziert, in denen es die Arbeits­kämpfe der vergan­genen Monate einordnet. 

Gegründet wurde das Kollektiv ursprüng­lich von einer Hand­voll Leuten, die beschlossen, sich in einem Viertel Londons nieder­zu­lassen, in dem vorwie­gend migran­ti­sche Arbeiter*innen wohnen. Dort nahmen sie schlecht bezahlte Jobs in Produk­tion und Logi­stik an und begannen, Netz­werke aufzu­bauen, eine eigene Zeitung unter die Leute zu bringen und ihre Kolleg*innen bei den Kämpfen für ihre Rechte zu unterstützen.

Mitt­ler­weile ist das Kollektiv gewachsen und besteht nicht mehr ausschliess­lich aus Personen, die ihr Berufs­leben ganz der poli­ti­schen Arbeit widmen. Seit Beginn dabei ist Peter*. Er sitzt ein paar Tage nach dem Streik der Muse­ums­mit­ar­bei­tenden in seiner Küche in einem Haus in der engli­schen Stadt Bristol, wo er seit zwei Jahren lebt. „Gestern hatte ich eine Zwölf­stunden-Schicht im Spital, dann bin ich mit dem Fahrrad noch in den Ast eines Baumes gefahren“, erklärt er und deutet auf einen Kratzer auf seiner Stirn. Nach dreissig Jahren in Indu­strie­be­trieben hat Peter zum ersten Mal einen Job als Pfle­ge­as­si­stent. Der Job sei hart, die Schichten zu lang, aber er habe schon einiges für sich gelernt, meint er nüchtern.

Als Mitar­bei­tende des natio­nalen Gesund­heits­dien­stes vor Kurzem streikten – je nach Sektor und Gewerk­schaft zum ersten Mal seit dreissig Jahren oder gar zum ersten Mal über­haupt – war auch Peter dabei. „Die Betei­li­gung meiner Abtei­lung an den Picket Lines war leider sehr bescheiden“, sagt er. „Von denje­nigen, die kamen und sich soli­da­ri­siert haben, hätten die meisten eigent­lich frei gehabt und waren also gar nicht am Streiken.“

Peter glaubt, dass es auch an der mangelnden Vorbe­rei­tung und Unter­stüt­zung der Gewerk­schaften lag, dass in seinem Spital nicht mehr Leute streikten. „Ich habe bei meiner Gewerk­schaft einge­bracht, dass es Sinn machen würde, sich mit anderen zu koor­di­nieren, aber niemand wollte auf mich hören.“ Den tradi­tio­nellen Gewerk­schaften gegen­über sind die Angry Workers sowieso sehr kritisch und bemän­geln unter anderem, die Funktionär*innen kümmerten sich mehr um die eigene Profi­lie­rung als um die Inter­essen der Arbeiter*innen oder seien zu reinen Dienst­lei­stungs­an­bie­tern verkommen.

Dank der Streiks erleben aktuell viele der tradi­tio­nellen Gewerk­schaften in Gross­bri­tan­nien einen extremen Zuwachs. So verzeich­nete etwa die grösste briti­sche Bildungs­ge­werk­schaft (NEU), in der unter anderem Lehrer*innen orga­ni­siert sind, nach der Ankün­di­gung des Streiks in nur zwei Wochen über 30’000 neue Mitglieder.

Trotz der Kritik an den Gewerk­schaften soli­da­ri­sieren sich die Angry Workers mit allen strei­kenden Arbeiter*innen. Was von den Streiks bleiben wird und wohin sie sich entwickeln? Peter mag keine Prognose abgeben. „Zumin­dest lernen gerade viele Leute, wie sich Verhält­nisse zwischen Kolleg*innen während eines Streiks verän­dern, wie Unter­neh­mens­lei­tungen und die Regie­rung darauf reagieren und wie frustrie­rend die Gewerk­schafts­bü­ro­kratie sein kann.“

*Peters Name wurde auf seinen Wunsch hin geändert.


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