Ein leicht verzerrtes Schweizerkreuz ist an die Fassade eines Containers gemalt, daneben andere Motive: Kindergartenkinder haben Spuren hinterlassen – auf ihrem Unterrichtsgebäude.
Die Farbe tut dem Container gut, in dem der Kindergarten des Primarschulhauses Moritzberg untergebracht ist. Die beiden Container, die als Unterrichtsräume für die PrimarschülerInnen dienen, hatten weniger Glück. Sie sind nackt. Der Lack blättert ab. Rostflecken. Schimmelspuren. Wir sind in Ürikon, Stäfa, am rechten Ufer des Zürichsees. In einer der reichsten Regionen der Schweiz.
Seit mehr als 20 Jahren gehen hier die SchülerInnen in sogenannten Provisorien zur Schule; viele verbrachten einen wesentlichen Teil ihrer Schulzeit in den Containern. Während sich der Steuerfuss auf tiefem Niveau mal nach oben, mal nach unten entwickelte, blieben die Provisorien bestehen – bis selbst die zuständige Schulpflege im Juni 2018 schrieb: „Der Doppel-Kindergartenpavillon ist in einem schadhaften Zustand und muss kurz- bis mittelfristig ersetzt werden.”
Wie konnte das passieren?
Eine ganz normale Zürcher Gemeinde
Ürikon, am oberen Ende des Zürichsees, nahe der Grenze zum Kanton St. Gallen gelegen, ist der äusserste Zipfel der Goldküste. Politisch gehört der Ort zur Gemeinde Stäfa mit ihren 14’000 EinwohnerInnen. Doch als wir dort ankommen, ist von ihnen nicht viel zu sehen.
Es ist grau. Hochnebel. Auf den Bergen der gegenüberliegenden Seeseite liegt Schnee. Der Kiosk am Bahnhof hat geschlossen, denn es ist Mittag.
Vertreten werden die 14’000 EinwohnerInnen Stäfas von einem Gemeinderat, der sich aus vier FDP‑, jeweils zwei GLP- und SP- und einem CVP-Mitglied zusammensetzt. Wenn auch geografisch am Rand der Goldküste gelegen, ist das hier das Kernland des bürgerlichen Wirtschaftsliberalismus der Schweiz.
Die Stille am Bahnhof wird von Kinderrufen unterbrochen. Sie kommen von der Hauptstrasse her, die den steilen Hügel hochführt. Zwei Jungs fahren auf ihren Trottinetts in Richtung Primarschulhaus Moritzberg, und sie grüssen uns höflich. Ob sie zum Unterricht müssen, wollen wir von ihnen wissen. Und als sie mit „Ja“ antworten, fragen wir, ob der Unterricht tatsächlich in einem Container stattfindet. Sie bejahen. „Da fahren wir gerade hin!“ Und: „Der Container ist voll in Ordnung!“

Tiefe Steuern – reiche Menschen
Das erste Gebäude der Schulanlage Moritzberg wird 1957 gebaut, 1967 wird es zum ersten Mal ergänzt. Aber weil der Bauboom am Zürichsee nicht abbricht, sieht sich die Schulpflege 1997 dazu veranlasst, das Schulhaus aufgrund einer Prognose der Bevölkerungsentwicklung um zwei Schulzimmer aufzustocken. Das kostet rund 1.3 Millionen Franken. Der Bedarf ist an der Gemeindeversammlung vom 27. Oktober 1997 eigentlich unbestritten. Obwohl zu diesem Zeitpunkt eine Steuererhöhung in der Schulgemeinde geplant ist, was einige kritische Voten in einen Zusammenhang mit der Schulhauserweiterung stellen.
Stäfa hat zu dieser Zeit nämlich noch nicht das Image des gutbürgerlichen Steuerparadieses. Doch das sollte sich 1999 ändern. In einer kuriosen Mischung aus Jahrtausendwende-Euphorie und positiver konjunktureller Entwicklung spielt sich am rechten Seeufer ein regelrechtes race to the bottom ab; ein bodenloser Steuerwettbewerb zwischen den indes vollständig überbauten ländlichen Gemeinden.
1999, erst zwei Jahre nach der Aufstockung, wird der Schulraum bereits wieder knapp. Aber statt das Gebäude weiter auszubauen oder zu ergänzen, entscheidet sich die Gemeinde für einen provisorischen „Pavillon“. Stäfa schafft seinen ersten Container an. Der Kindergarten wird 1999 in den Pavillon verlegt, um für die Primarschule mehr Raum im Hauptgebäude zu schaffen.
Das Rennen um die tiefsten Steuern geht derweil weiter: Die NZZ zählt Stäfa in einem euphorischen Artikel zur „Verfolgergruppe“: Die Gemeinde senkt innerhalb von nur zwei Jahren ihren Gesamtsteuersatz von 105 auf 96 Prozent. Ein Entscheid, welcher in der Folge zu einem Boom an wohlhabenden ZuzüglerInnen führt.
Genau diese ZuzüglerInnen sind mitverantwortlich dafür, dass auch der Kindergartenpavillon bald nicht mehr ausreicht. Bereits vier Jahre nach dessen Anschaffung wird das Schulhaus um ein weiteres Provisorium ergänzt: einen weiteren Container, der als neues Schulzimmer dient. Und weil das immer noch nicht reicht, wird 2008 noch ein Container auf den bestehenden Container gestellt. Seither hat sich nichts Grundlegendes mehr verändert. Die Provisorien sind alle noch in Betrieb.
Während das Schulhaus möglichst billig provisorisch erweitert wird, zeigt der tiefe Steuerfuss seine Wirkung. Lag das durchschnittliche steuerbare Vermögen der StäferInnen 2003 noch bei 448’000 Franken, liegt es heute bei 761’000 Franken – eine Zunahme von fast 70 Prozent. Natürlich ist das Vermögen auch in Stäfa nicht gleichmässig verteilt: Das deutlich tiefere Medianvermögen weist auf eine kleine, äusserst reiche Bevölkerungsgruppe hin.
Der Entscheid, am Steuerwettbewerb teilzunehmen, hat sich für Stäfa – und vor allem für seine wohlhabenden ZuzüglerInnen – also gelohnt.
Für die SchülerInnen nicht.

Im Winter frieren die Kinder. Im Sommer schwitzen sie.
Ob der Kindergartenpavillon für mehr als 21 Jahre gedacht war, als die Gemeindeversammlung der Investition am 31. Mai 1999 zustimmte, ist unklar. „Bereits bei der Bewilligung der Bauten wurde davon ausgegangen, dass diese über Jahre genutzt werden“, schreibt uns Cristina Würsten (FDP), Präsidentin der Schulpflege in Stäfa, auf Anfrage. Die Protokolle und der Antrag für die Investition erzählen indes eine andere Geschichte. Dort wird zwar erwähnt, dass der Raumbedarf für den Kindergarten entsprechend den Prognosen ausgewiesen ist. Die wachsende Anzahl an PrimarschülerInnen erfordere mehr Platz im Schulhaus Moritzli – Raum, der bis anhin durch die KindergärtlerInnen besetzt war. In keinem der Gemeindeprotokolle, die das Lamm von 1997 bis heute vorliegen, wird von einer langfristigen oder dauerhaften Lösung gesprochen. Im Antrag für die Schulcontainer 2003 wird sogar ausdrücklich von einer vorläufigen Lösung gesprochen. Dazu aber später mehr.
Der Schulleiter Stephan Bättig bestätigt gegenüber das Lamm, dass Stäfa lange nicht auf eine unmittelbare Lösung gesetzt habe. Und: „Viele Provisorien stehen länger als ursprünglich geplant.“
Dass Stäfa so lange gewartet hat, hat einen Grund: Geld. Kostete die Aufstockung des Moritzli um zwei Schulzimmer 1997 noch 1.3 Millionen Franken, beliefen sich die Kosten für die zwei neuen Kindergartenzimmer im Pavillon 1999 – während der Steuerwettbewerb tobte – nur noch auf rund 450’000 Franken.
Damals galt: Die Ausgaben der Gemeinde sollen tief gehalten, ihre Kasse geschont werden. In diesen politischen Kontext rückt es ein Vater, der sich bereits 2014 zusammen mit seiner Frau in einem Leserbrief öffentlich über den Kindergartenpavillon beschwerte. Der Zustand des Pavillons sei beschämend für eine Gemeinde wie Stäfa. „Die Kinder frieren im Winter auf dem eiskalten Boden, im Sommer weiss man nicht, wie die Temperatur runterzubringen ist.“ Die sanitären Anlagen im Pavillon Moritzberg seien veraltet und abgenutzt und dadurch am Limit, was die Hygiene angehe, und auch der Regen habe schon Wege in den Kindergarten gefunden. „Es ist nicht gerecht, dass unsere Kleinsten in Wirklichkeit aus finanziellen Gründen zurückstehen müssen.”
Als wir den Vater fünf Jahre später zu dem Leserbrief befragen, erinnert er sich gut. Seine Kinder gehen jetzt nicht mehr in den Kindergarten im Pavillon, sondern in die Primarschule in Moritzberg – in die Schulcontainer. Gefragt, was er vom Umstand hält, dass der Kindergartenpavillon immer noch steht, sagt er nur lakonisch: „Hinter der Entscheidung für die Provisorien stehen politische Überlegungen, da können wir wenig machen.“ Auch Schulleiter Bättig sagt, Sparpolitik sei für den Ausbaustandard der Schule entscheidend: „Es geht beim Ausbau des Schulhauses um hohe Millionenbeträge – und die Kommunalpolitik wird nicht nur von Personen bestimmt, deren Kinder bei uns zur Schule gehen.“
Was könnte der Üriker Schulleiter damit meinen?
Vielleicht, dass die Gemeinde Stäfa mit vier Privatschulen auf 14’000 EinwohnerInnen in puncto Privatschulen-Dichte einen Schweizer Spitzenplatz belegt? Gerade für die Eltern, die ihre Kinder in diesen Privatschulen unterbringen, sind Investitionen in öffentliche Schulen wenig nutzbringend.
Oder meint der Schulleiter vielleicht die Tatsache, dass zu Beginn des neuen Jahrtausends dank der Tiefsteuerpolitik nicht etwa Familien, sondern vor allem wohlhabende Paare in die neuen Überbauungen zogen? Auch für diese wohlhabenden Paare wäre eine Steuererhöhung für ein neues Schulhaus wenig sinnvoll gewesen.
Klar ist: Die Provisorien sind in einem schadhaften Zustand. Dass der Unterricht in einem Container stattfand, sei ein Störfaktor gewesen, bestätigt eine ehemalige Schülerin, die zwischen 2000 und 2006 die Schule Moritzberg besuchte, gegenüber das Lamm. „Manchmal, wenn es draussen regnete, wurde es im Klassenzimmer nass.“
Schulpräsidentin Cristina Würsten und Schulleiter Stephan Bättig widersprechen dieser Aussage: Die Unterrichtsqualität leide nicht unter den Provisorien. Bestätigung scheint die Schulpflege Stäfa-Ürikon von der Fachstelle für Schulbeurteilung des Kanton Zürichs zu erhalten. In einem grossen Bericht, welcher auf der Homepage der Schule Moritzberg prominent aufgeschaltet ist, lobt die Fachstelle den Unterricht in höchsten Tönen – auch denjenigen in den Containern.
Nur: Die Evaluation bezieht sich auf die Prozessabläufe der Schule; der Zustand der Infrastruktur wird lediglich in die Bewertung miteinbezogen. So schreibt die Fachstelle: „In den Interviews kamen die Schulkinder unmittelbar auf die schöne, grosse Schulanlage zu sprechen.” Konfrontiert mit anderslautenden Beschreibungen vom Zustand der Container, unter anderem von der Stäfener Schulpflege selber, relativiert die Fachstelle das Loblied: „Da die Lehrpersonen nur einen Einfluss auf den Unterricht und nicht auf die Infrastruktur haben, gibt die Schulevaluation keine Beurteilung dazu ab“, schreibt die Fachstelle auf Anfrage von das Lamm.

Auch die SP kann Tiefsteuerpolitik
Die Geschichte der Provisorien in Stäfa ist eine Geschichte der Tiefsteuerpolitik. Und es wäre ein Leichtes, sie bloss als Geschichte über die Regierungsarbeit bürgerlicher Parteien zu erzählen. Aber damit würde man einen wichtigen Aspekt der Entstehungsgeschichte der Container weglassen.
Denn die Schulpflege in Stäfa ist zwar meist in FDP-Hand – wie eigentlich der ganze Gemeinderat. In einer für diese Geschichte zentralen Zeitspanne war die Schulpflege Stäfa-Ürikon aber in Hand der SP. Und nicht in den Händen von irgendeinem oder irgendeiner SozialdemokratIn, sondern in denen von Daniel Jositsch, dem heutigen Zürcher Ständerat.
Daniel Jositsch war ab 2000 Mitglied der Schulpflege – ab 2001 bis zu seiner Wahl in den Zürcher Kantonsrat 2006 war er sogar deren Präsident. Und als solcher ist er auch für den Entscheid für die zusätzlichen Schulpavillons 2003 zuständig. Im Antrag an die Gemeindeversammlung begründet er die Anschaffung der Container mit der anhaltenden, regen Bautätigkeit in Stäfa sowie der ungünstigen Verteilung der SchülerInnen in Stäfa selber. „Mit den Containern kann vorübergehend genügend Schulraum für die wachsende Schülerzahl zur Verfügung gestellt werden“, schreibt Jositsch in seinem Antrag.
Ein weiterer Grund, der im Antrag nicht erwähnt wird: Hätte die Schulpflege eine definitive Lösung auf dem Moritzberg beantragt, hätte man auch gleich eine Turnhalle bauen müssen. Und das hätte weitere Investitionen nach sich gezogen. Das bestätigt ein ehemaliges Mitglied der Schulpflege, das zur gleichen Zeit wie Jositsch in der Kommission sass.
Die Tiefsteuerpolitik lohnte sich für Jositsch politisch.
2006 – kurz nach seiner Wahl in den Kantonsrat – schreibt Jositsch eine Kolumne im Tages-Anzeiger. Die SP Bezirk Meilen habe eine moderate Steuersenkung von 5 % im Jahr 2005 unterstützt. „Wo umgekehrt Geld verschwendet wird, da muss natürlich auch konsequent eingeschritten werden. Und wo Steuern übermässig hoch sind, da können sie gesenkt werden.” Wo Geld verschwendet wurde, schreibt Jositsch nicht. In der Bildung jedenfalls nicht: Bereits damals lagen die Bildungsausgaben von Stäfa unter dem kantonalen Durchschnitt; heute gibt im ganzen Kanton Zürich keine Gemeinde weniger Geld pro Kopf für Bildung aus.
Daniel Jositsch und die SP Bezirk Meilen haben auf mehrmalige Anfrage von das Lamm nicht geantwortet.
Ein Ende in Sicht?
Inzwischen ist eine Instandsetzung und Erweiterung der Infrastruktur in Aussicht. Stephan Bättig ist optimistisch – zumindest verhalten. “Wenn man zu optimistisch ist, wird man eher enttäuscht”, sagt der Schulleiter. Er fürchtet sich vor Baurekursen. Immerhin: Ein Planungskredit über 700’000 Franken wurde bereits gesprochen. Es ist also tatsächlich gut möglich, dass die Geschichte der Üriker Schulcontainer nach mehr als 20 Jahren bald zu einem Ende gelangen wird.
Als wir Ürikon verlassen wollen und am Bahnhof auf den nächsten Zug in Richtung Zürich warten, suchen wir das Gespräch mit einem Jugendlichen, der als einziger auf denselben Zug wartet. Er sagt, er sei in Ürikon aufgewachsen. Wir wollen von ihm wissen, was er von den Containern des Schulhauses Moritzberg hält; ob ihn die Provisorien gestört haben. „Dazu kann ich nichts sagen”, antwortet er. „Ich bin in einem Internat zur Schule gegangen.”

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