Das Prinzip der Demokratie ist so simpel wie bestechend: Selbstherrschaft. Diese Selbstbestimmung wird als Garant für die Legitimation von Macht betrachtet. Die Idee dafür geht auf den Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau zurück. Er vertritt die Position, dass allein der Wille der Allgemeinheit legitimiert sei, um über ebendiese Allgemeinheit zu herrschen. Im Gegensatz etwa zur Legitimation durch eine adelige Abstammung, eine übersinnliche Ordnung – oder beides.
Diese Idee, dass sich die Beherrschten nur selbst beherrschen dürfen, liegt eigentlich auch dem schweizerischen System zugrunde — ganz besonders den Volksabstimmungen. Wohl auch deshalb erfreuen sie sich berechtigterweise allgemeiner Beliebtheit.
Und trotzdem sind sie je nach Abstimmungsvorlage nicht demokratisch. Denn immer wieder betreffen Abstimmungen bei Weitem nicht nur diejenigen, die auch darüber abstimmen dürfen. Nur schon weil knapp ein Drittel der Schweizer Wohnbevölkerung nicht an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen darf, obwohl sie vom Ausgang des Urnengangs betroffen sein werden. Der Grund: Sie haben keinen Schweizer Pass. Doch noch viel grössere, demokratietheoretische Fragezeichen tauchen bei einigen Abstimmungsvorlagen bei einem Blick über die Landesgrenze hinweg auf.
Zum Beispiel bei der Konzernverantwortungsinitiative, die am 29. November zur Abstimmung kommt. Aber nicht nur dort. Auch die 2018 verworfene Volksinitiative „Für gesunde sowie umweltfreundlich und fair hergestellte Lebensmittel“ dürfte kaum nach Rousseaus Geschmack gewesen sein. Die sogenannte Fair-Food-Initiative wollte folgende Passage in der Schweizer Verfassung verankern:
„Der Bund stärkt das Angebot an Lebensmitteln, die von guter Qualität und sicher sind und die umwelt- und ressourcenschonend, tierfreundlich und unter fairen Arbeitsbedingungen hergestellt werden.“
Damit wollte die Initiative unter anderem die Einfuhr von fair produzierten Lebensmittel fördern. Die Initiative wurde bei 37 % Stimmbeteiligung mit 61.3 % abgelehnt. Insgesamt haben 1’227’326 Personen ein Nein in die Urne gelegt. Ein Nein für fair hergestellte Importprodukte. Ein Ja dafür, dass sie weiterhin Produkte in den Läden sehen wollen, die unter Bedingungen hergestellt worden sind, unter denen sie selber nie arbeiten wollen würden.
Doch der Entscheid gegen die Förderung fair produzierter Importprodukte wird in erster Linie nicht die Schweizer:innen betreffen, sondern die Produzent:innen dieser Produkte. Laut Wikipedia sind weltweit 25 Millionen Menschen im Anbau, der Verarbeitung und dem Vertrieb von Kaffee tätig. Zusammen mit ihren Familienangehörigen leben dementsprechend rund 100 Millionen Menschen vom Kaffeeanbau.
Natürlich liefern nicht all diese Kaffeeproduzent:innen ihre Produkte in die Schweiz. Berücksichtigt man jedoch auch all die Menschen, die irgendwo auf der Welt Vanille, Bananen, Tee, Mangos oder Kakao für den Schweizer Markt herstellen, so kann man davon ausgehen, dass eine genügend grosse Anzahl Menschen zusammenkommen würde, um den 1.2 Millionen Schweizer:innen, die die Fair-Food-Initiative verworfen haben, das Wasser reichen zu können. Hätte man ihnen die Möglichkeit gegeben, über eine Vorlage mitzuentscheiden, die sie ja offensichtlich massgeblich betrifft, wäre die Fair-Food-Initiative kaum verworfen worden.
Abstimmungen wie diejenige über die Fair-Food-Initiative haben mit dem grundlegenden demokratischen Prinzip der Selbstherrschaft kaum etwas zu tun. Denn die Abstimmenden entscheiden nicht primär über ihr eigenes Leben, sondern über das der anderen. Dadurch wird der Demos zum Pseudodemos, der denjenigen auf der anderen Seite der Grenzen seinen Willen aufdrückt. Egal ob ein Ja oder ein Nein herauskommt, ein Urnengang, der vorwiegend über andere entscheidet, ist keine Demokratie, sondern Herrschaft.
Nicht anders sieht es bei der KVI aus. Sie verlangt, dass Konzerne mit Sitz in der Schweiz in Zukunft für Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen zur Rechenschaft gezogen werden können – auch ausserhalb der Schweizer Grenzen. Doch weder die Kinder, die in Peru vergiftetes Wasser trinken müssen, noch die Bauern, die sich in Indien mit Pestiziden vergiften, werden die Möglichkeit haben, für oder gegen einen besseren Schutz ihrer Menschenrechte und ihrer Umwelt zu stimmen.
Umso mehr verlangt diese Initiative denjenigen ab, die die Möglichkeit haben, hier mitzubestimmen. Es liegt jetzt in ihrer Verantwortung, die Wünsche der Ausgeschlossenen einfliessen zu lassen. Nicht weil wir dazu legitimiert wären – aber weil es das einzig Richtige ist. Denn eines ist sicher: Könnten bei dieser Abstimmung alle mitreden, die von ihr betroffen sind, wäre das Ergebnis klar: Ja. Und es ist jetzt an uns, einen solchen wirklich demokratischen Entscheid zu simulieren.
*Hinweis: Wir haben uns ein paar Stunden nach der Veröffentlichung dieses Artikels dafür entschieden, die kolorierte Version der Illustration durch eine Version ohne Farben zu ersetzen. Wir sind zur Ansicht gekommen, dass die Zuweisung von Hautfarben in diesem Kontext eine nicht nötige Reproduzierung von Stereotypisierung darstellt.
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