Der alte weisse Mann ist das personifizierte Feindsymbol des Feminismus. Er ist konservativ, unflexibel und wünscht sich „die guten alten Zeiten“ zurück. So zumindest das Klischee.
In der Realität sind es junge Männer, die sich durch feministische Fortschritte bedroht fühlen. Das zeigt eine Studie der Göteborgs Universitet, in der 32’000 Männer in 27 europäischen Ländern befragt wurden.
Die Studien-Autor*innen kommen zum Schluss, dass Männer am ehesten im Alter von 18 bis 29 Jahren „Fortschritte in Frauenrechten“ als Bedrohung für die Chancen von Männern wahrnehmen. Dies gilt insbesondere für junge Männer, die öffentliche Institutionen in ihrer Region als ungerecht empfinden oder in Regionen wohnen, in denen die Langzeitarbeitslosigkeit zunimmt.
Die Autor*innen nennen dies einen Effekt des „modernen Sexismus“. Dieser basiert auf der Wahrnehmung der jungen Männer, dass die Gleichstellung der Geschlechter schon erreicht sei und weitere Massnahmen zur Frauenförderung zu einer besonderen Bevorzugung von Frauen führen würde.
Wer vergisst die Männer?
Vor zwei Wochen nahm die NZZ die Studie zum Anlass für einen Kommentar. Einerseits benennt der Journalist die Gefahr, die von misogynen Personen wie Andrew Tate ausgeht. Andererseits sieht er in der Anforderung der modernen Gesellschaft, „charmant, aber nicht übergriffig“ zu sein, eine Herausforderung für verunsicherte Männer. Er appelliert: „Wer von Gleichstellung spricht, darf die jungen Männer nicht vergessen.“
Davon abgesehen, dass die halbe Weltbevölkerung sich seit Jahrzehnten mit widersprüchlichen Rollenbildern auseinandersetzen muss – willkommen in der Welt jeder einzelnen FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) – und Verunsicherung auch produktiv sein kann, finde ich auch, dass Männer in der Gleichstellungsdebatte fehlen.
Der vorwurfsvolle Ton des Kommentars verwirrt mich aber. Als hätten die, die über Gleichstellung sprechen, Männer aktiv davon ausgeschlossen. Wer genau vergisst denn wo die Männer?
Mir scheint: Die feministische Bewegung tut nichts anderes, als Männer und ihre Rolle im Patriarchat zu thematisieren. Wir setzen uns für eine gerechte Elternzeit ein, wir ermuntern ein diverses Männlichkeitsbild, wir kämpfen für Lohngerechtigkeit und faire Teilzeitarbeit und wir wehren uns gegen Gewalt. All das, um auch Männern ein besseres, freieres Leben zu ermöglichen. Nicht zuletzt ist diese Kolumne aus dem Gedanken heraus entstanden, dass auch Männer in die feministische Debatte eingegliedert werden sollten.
Lohnungleichheit, unbezahlte Care-Arbeit, sexualisierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxische Maskulinität, die Abschaffung der Wehrpflicht und homosoziale Gewalt sind feministische Themen – und werden als „Frauensache“ abgestempelt. Dadurch werden diese Themen einerseits abgewertet, andererseits die Verantwortung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) übertragen.
Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betroffenen‑, sondern auf der Täterseite. Es sind eben Männersachen. Deshalb müssen Männer als Teil der privilegierten Gruppe Verantwortung übernehmen und diese Probleme angehen.
Bildung ermuntert kritisches Denken
Der NZZ-Journalist hingegen fokussiert ausschliesslich auf Leistung und Wohlstand. Er schreibt, dass die Angst der Männer nicht unberechtigt sei: Während sich die Situation für Frauen verbessert habe, stagniere oder verschlechtere sie sich für Männer. Bei der Pisa-Studie etwa schliessen Buben regelmässig schlechter ab als Mädchen.
Der Kommentar kommt zum Schluss: „Haben junge Männer Erfolg in Schule und Beruf, verringert das die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu Vertretern des ‚modernen Sexismus‘ verkommen.“
Gemäss der Modernisierungstheorie stimmt das grundsätzlich: In Regionen mit wirtschaftlicher Entwicklung und demokratischen Institutionen entstehen emanzipative Werte. Klar, denn: Existenzielle Sicherheit fördert die individuelle Selbstentfaltung, Bildung ermuntert kritisches Denken und politische Partizipation regt das Hinterfragen von Autoritäten an.
Die Studien-Autor*innen demonstrieren diesen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Problemen und modernem Sexismus deutlich. In ihrer Konklusion schreiben sie, dass der moderne Sexismus durch die Verbesserung des Vertrauens in die Institutionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen angegangen werden kann – hier hat der NZZ-Journalist sein Fazit her.
Sie schreiben aber auch, dass die Daten keine Aussagen über die Richtung der Beziehung zwischen wahrgenommener institutioneller Fairness und Sexismus zulassen: Da die Studie nur festgestellt hat, ob die Befragten öffentliche Institutionen als ungerecht empfinden und nicht, ob sie es objektiv wirklich sind, können die Autor*innen nicht abschliessend bestätigen, ob dieses Gefühl den Sexismus verstärkt hat oder umgekehrt.
Sexismus verschwindet also nicht einfach, nur weil Buben in der Schule brillieren und dann zu Männern heranwachsen, die studieren und schliesslich eine Managerposition in einem Grossunternehmen besetzen (denn genau so würde doch die NZZ „Erfolg“ definieren?) – ein solcher Weg ist in der Leistungsgesellschaft Schweiz auch ohne kritisches Denken oder politische Partizipation möglich.
Während der NZZ-Journalist an der Symptombekämpfung festhält, lohnt es sich, die Studie genau zu lesen und seine Schlussfolgerungen zu hinterfragen. Sind Männer, die in Schule und Beruf erfolgreich sind, wirklich weniger sexistisch? Wie sehr wirken sich Privilegien auf die eigene sexistische Haltung aus? Ist Verunsicherung das Problem oder unser Unvermögen, damit umzugehen?
Kapitalismus vs. Patriarchat
Das Problem ist, dass diese jungen Männer – die Vertreter des modernen Sexismus – (noch) nicht gelernt haben, dass FINTA ihnen genauso wenig aufgrund ihres Geschlechts unterstellt sind wie ihre männlichen Kollegen aufgrund ihrer Augenfarbe oder sonst eines wahllosen Körpermerkmals. Dass junge Männer aufgrund ihrer Abneigung gegen die öffentlichen Institutionen oder des Frusts, keine lebenssichernde Arbeitsstelle zu finden, sich gegen FINTA wenden, zeigt nur, dass sie schon vorher sexistisch waren – was in unserer mit Sexismus verwobenen Gesellschaft nicht erstaunt.
Der Soziologe Michael Kimmel hat vor zehn Jahren für sein Buch Angry White Men mit etlichen weissen amerikanischen Männern der Mittelklasse gesprochen. Was diese Männer vereint, beschreibt er als „aggrieved entitlement“ („gekränkter Anspruch“ auf Deutsch). Wenn einem Privilegien weggenommen werden, zu denen man sich berechtigt fühlt, tut es weh. Man fühlt sich diskriminiert, obwohl man es nicht ist – im Gegenteil.
Kimmel führt weiter aus: Statt zu erkennen, dass ihre Gegner diejenigen sind, die Arbeitsplätze abbauen, auslagern und streichen, richten diese Männer ihre Wut gegen diskriminierte Personen, die versuchen, in diesem ausbeuterischen System ihre Ansprüche geltend zu machen.
Es werden eigentlich zwei gesellschaftliche Probleme gegeneinander ausgespielt: Auf der einen Seite haben wir das kapitalistische System, das Profit vor Gesundheit stellt und Arbeiter*innen als vernachlässigbare Ware sieht. Auf der anderen Seite haben wir die patriarchale Gesellschaft, die FINTA systematisch abwertet.
Während die Hauptlast der finanziellen Versorgung der Familie vor einigen Jahrzehnten auf den Schultern der Männer lag, liegt für FINTA mittlerweile eindeutig eine Doppelbelastung vor. Sie kämpfen um eine lebenserhaltende Arbeitsstelle und müssen sich gleichzeitig gegen strukturellen Sexismus in Form von Lohnungleichheit sowie Alltagssexismus ausgehend von Männern in ihrem Umfeld behaupten.
Wir dürfen die jungen, verunsicherten Männer nicht vergessen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass es viele Arten von Privilegien und Privilegienverteilung gibt. Ein feministischer Kampf muss sich gegen beide Formen der Unterdrückung wenden: Wir müssen den verunsicherten und frustrierten Männern den Sexismus austreiben. Wir müssen aber auch den neoliberalen Girlboss-Feministinnen den Armenhass austreiben.
Nach unten treten ist nie, nie, nie die Lösung.
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