Die verun­si­cherten jungen Männer

Gemäss einer Studie fühlen sich beson­ders junge Männer von Gleich­stel­lung bedroht. Die NZZ schreibt, dass wir die verun­si­cherten Männer in der Gleich­stel­lungs­de­batte nicht vergessen dürfen, verpasst aber den sprin­genden Punkt. Eine Kritik. 
Junge Männer sind verunsichert – aber ist das denn immer so schlecht? (Foto: Unsplash / Adi Yusuf)

Der alte weisse Mann ist das perso­ni­fi­zierte Feind­symbol des Femi­nismus. Er ist konser­vativ, unfle­xibel und wünscht sich „die guten alten Zeiten“ zurück. So zumin­dest das Klischee.

In der Realität sind es junge Männer, die sich durch femi­ni­sti­sche Fort­schritte bedroht fühlen. Das zeigt eine Studie der Göte­borgs Univer­sitet, in der 32’000 Männer in 27 euro­päi­schen Ländern befragt wurden.

Die Studien-Autor*innen kommen zum Schluss, dass Männer am ehesten im Alter von 18 bis 29 Jahren „Fort­schritte in Frau­en­rechten“ als Bedro­hung für die Chancen von Männern wahr­nehmen. Dies gilt insbe­son­dere für junge Männer, die öffent­liche Insti­tu­tionen in ihrer Region als unge­recht empfinden oder in Regionen wohnen, in denen die Lang­zeit­ar­beits­lo­sig­keit zunimmt.

Die Autor*innen nennen dies einen Effekt des „modernen Sexismus“. Dieser basiert auf der Wahr­neh­mung der jungen Männer, dass die Gleich­stel­lung der Geschlechter schon erreicht sei und weitere Mass­nahmen zur Frau­en­för­de­rung zu einer beson­deren Bevor­zu­gung von Frauen führen würde.

Wer vergisst die Männer?

Vor zwei Wochen nahm die NZZ die Studie zum Anlass für einen Kommentar. Einer­seits benennt der Jour­na­list die Gefahr, die von miso­gynen Personen wie Andrew Tate ausgeht. Ande­rer­seits sieht er in der Anfor­de­rung der modernen Gesell­schaft, „char­mant, aber nicht über­griffig“ zu sein, eine Heraus­for­de­rung für verun­si­cherte Männer. Er appel­liert: „Wer von Gleich­stel­lung spricht, darf die jungen Männer nicht vergessen.“

Davon abge­sehen, dass die halbe Welt­be­völ­ke­rung sich seit Jahr­zehnten mit wider­sprüch­li­chen Rollen­bil­dern ausein­an­der­setzen muss – will­kommen in der Welt jeder einzelnen FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) – und Verun­si­che­rung auch produktiv sein kann, finde ich auch, dass Männer in der Gleich­stel­lungs­de­batte fehlen.

Der vorwurfs­volle Ton des Kommen­tars verwirrt mich aber. Als hätten die, die über Gleich­stel­lung spre­chen, Männer aktiv davon ausge­schlossen. Wer genau vergisst denn wo die Männer?

Mir scheint: Die femi­ni­sti­sche Bewe­gung tut nichts anderes, als Männer und ihre Rolle im Patri­ar­chat zu thema­ti­sieren. Wir setzen uns für eine gerechte Eltern­zeit ein, wir ermun­tern ein diverses Männ­lich­keits­bild, wir kämpfen für Lohn­ge­rech­tig­keit und faire Teil­zeit­ar­beit und wir wehren uns gegen Gewalt. All das, um auch Männern ein besseres, freieres Leben zu ermög­li­chen. Nicht zuletzt ist diese Kolumne aus dem Gedanken heraus entstanden, dass auch Männer in die femi­ni­sti­sche Debatte einge­glie­dert werden sollten.

Lohn­un­gleich­heit, unbe­zahlte Care-Arbeit, sexua­li­sierte Gewalt, aber auch der Kampf gegen toxi­sche Masku­li­nität, die Abschaf­fung der Wehr­pflicht und homo­so­ziale Gewalt sind femi­ni­sti­sche Themen – und werden als „Frau­en­sache“ abge­stem­pelt. Dadurch werden diese Themen einer­seits abge­wertet, ande­rer­seits die Verant­wor­tung für die Lösung dieser Probleme auf FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Personen) übertragen. 

Das ist nicht nur unlo­gisch, sondern auch unnütz: Die Ursache des Problems liegt nicht auf der Betroffenen‑, sondern auf der Täter­seite. Es sind eben Männer­sa­chen. Deshalb müssen Männer als Teil der privi­le­gierten Gruppe Verant­wor­tung über­nehmen und diese Probleme angehen.

Bildung ermun­tert kriti­sches Denken

Der NZZ-Jour­na­list hingegen fokus­siert ausschliess­lich auf Leistung und Wohl­stand. Er schreibt, dass die Angst der Männer nicht unbe­rech­tigt sei: Während sich die Situa­tion für Frauen verbes­sert habe, stagniere oder verschlech­tere sie sich für Männer. Bei der Pisa-Studie etwa schliessen Buben regel­mässig schlechter ab als Mädchen.

Der Kommentar kommt zum Schluss: „Haben junge Männer Erfolg in Schule und Beruf, verrin­gert das die Wahr­schein­lich­keit, dass sie zu Vertre­tern des ‚modernen Sexismus‘ verkommen.“

Gemäss der Moder­ni­sie­rungs­theorie stimmt das grund­sätz­lich: In Regionen mit wirt­schaft­li­cher Entwick­lung und demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen entstehen eman­zi­pa­tive Werte. Klar, denn: Existen­zi­elle Sicher­heit fördert die indi­vi­du­elle Selbst­ent­fal­tung, Bildung ermun­tert kriti­sches Denken und poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion regt das Hinter­fragen von Auto­ri­täten an.

Die Studien-Autor*innen demon­strieren diesen Zusam­men­hang zwischen wirt­schaft­li­chen Problemen und modernem Sexismus deut­lich. In ihrer Konklu­sion schreiben sie, dass der moderne Sexismus durch die Verbes­se­rung des Vertrauens in die Insti­tu­tionen und die Schaf­fung von Arbeits­plätzen ange­gangen werden kann – hier hat der NZZ-Jour­na­list sein Fazit her.

Sie schreiben aber auch, dass die Daten keine Aussagen über die Rich­tung der Bezie­hung zwischen wahr­ge­nom­mener insti­tu­tio­neller Fair­ness und Sexismus zulassen: Da die Studie nur fest­ge­stellt hat, ob die Befragten öffent­liche Insti­tu­tionen als unge­recht empfinden und nicht, ob sie es objektiv wirk­lich sind, können die Autor*innen nicht abschlies­send bestä­tigen, ob dieses Gefühl den Sexismus verstärkt hat oder umgekehrt.

Sexismus verschwindet also nicht einfach, nur weil Buben in der Schule bril­lieren und dann zu Männern heran­wachsen, die studieren und schliess­lich eine Mana­ger­po­si­tion in einem Gross­un­ter­nehmen besetzen (denn genau so würde doch die NZZ „Erfolg“ defi­nieren?) – ein solcher Weg ist in der Leistungs­ge­sell­schaft Schweiz auch ohne kriti­sches Denken oder poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion möglich.

Während der NZZ-Jour­na­list an der Symptom­be­kämp­fung fest­hält, lohnt es sich, die Studie genau zu lesen und seine Schluss­fol­ge­rungen zu hinter­fragen. Sind Männer, die in Schule und Beruf erfolg­reich sind, wirk­lich weniger sexi­stisch? Wie sehr wirken sich Privi­le­gien auf die eigene sexi­sti­sche Haltung aus? Ist Verun­si­che­rung das Problem oder unser Unver­mögen, damit umzugehen?

Kapi­ta­lismus vs. Patriarchat

Das Problem ist, dass diese jungen Männer – die Vertreter des modernen Sexismus – (noch) nicht gelernt haben, dass FINTA ihnen genauso wenig aufgrund ihres Geschlechts unter­stellt sind wie ihre männ­li­chen Kollegen aufgrund ihrer Augen­farbe oder sonst eines wahl­losen Körper­merk­mals. Dass junge Männer aufgrund ihrer Abnei­gung gegen die öffent­li­chen Insti­tu­tionen oder des Frusts, keine lebens­si­chernde Arbeits­stelle zu finden, sich gegen FINTA wenden, zeigt nur, dass sie schon vorher sexi­stisch waren – was in unserer mit Sexismus verwo­benen Gesell­schaft nicht erstaunt.

Der Sozio­loge Michael Kimmel hat vor zehn Jahren für sein Buch Angry White Men mit etli­chen weissen ameri­ka­ni­schen Männern der Mittel­klasse gespro­chen. Was diese Männer vereint, beschreibt er als „aggrieved entit­le­ment“ („gekränkter Anspruch“ auf Deutsch). Wenn einem Privi­le­gien wegge­nommen werden, zu denen man sich berech­tigt fühlt, tut es weh. Man fühlt sich diskri­mi­niert, obwohl man es nicht ist – im Gegenteil.

Kimmel führt weiter aus: Statt zu erkennen, dass ihre Gegner dieje­nigen sind, die Arbeits­plätze abbauen, ausla­gern und strei­chen, richten diese Männer ihre Wut gegen diskri­mi­nierte Personen, die versu­chen, in diesem ausbeu­te­ri­schen System ihre Ansprüche geltend zu machen.

Es werden eigent­lich zwei gesell­schaft­liche Probleme gegen­ein­ander ausge­spielt: Auf der einen Seite haben wir das kapi­ta­li­sti­sche System, das Profit vor Gesund­heit stellt und Arbeiter*innen als vernach­läs­sig­bare Ware sieht. Auf der anderen Seite haben wir die patri­ar­chale Gesell­schaft, die FINTA syste­ma­tisch abwertet.

Während die Haupt­last der finan­zi­ellen Versor­gung der Familie vor einigen Jahr­zehnten auf den Schul­tern der Männer lag, liegt für FINTA mitt­ler­weile eindeutig eine Doppel­be­la­stung vor. Sie kämpfen um eine lebens­er­hal­tende Arbeits­stelle und müssen sich gleich­zeitig gegen struk­tu­rellen Sexismus in Form von Lohn­un­gleich­heit sowie Alltags­se­xismus ausge­hend von Männern in ihrem Umfeld behaupten.

Wir dürfen die jungen, verun­si­cherten Männer nicht vergessen. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass es viele Arten von Privi­le­gien und Privi­le­gi­en­ver­tei­lung gibt. Ein femi­ni­sti­scher Kampf muss sich gegen beide Formen der Unter­drückung wenden: Wir müssen den verun­si­cherten und frustrierten Männern den Sexismus austreiben. Wir müssen aber auch den neoli­be­ralen Girl­boss-Femi­ni­stinnen den Armen­hass austreiben.

Nach unten treten ist nie, nie, nie die Lösung.


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