Dissens statt Cervelat

Rechte Scharfmacher*innen warnen vor Spal­tung und Pola­ri­sie­rung. Damit wollen sie zeigen, dass sie den gesell­schaft­li­chen Konsens reprä­sen­tieren. Um dagegen zu argu­men­tieren, braucht es ein neues Verständnis von Spal­tung. Ein Kommentar. 
Die Cervelat: Das verklärte Symbol des schweizerischen gesellschaftlichen Konsenses. (Illustration: Luca Mondgenast)

„Wie nennt man die abge­bil­dete Schweizer Wurst?“ Die Frage stammt aus einem der Wissens-Tests, die Einbür­ge­rungs­wil­lige in einer Schweizer Gemeinde durch­führen müssen, um einen roten Pass zu erhalten. Die rich­tige Antwort darauf lautet: Cervelat. Die soge­nannte Schweizer Natio­nal­wurst. Verklärtes Symbol der Rechtspopulist*innen zur Vertei­di­gung der christ­lich-natio­nalen Iden­tität, des gesell­schaft­li­chen Konsenses.

Gesell­schaft­li­cher Konsens, das ist die still­schwei­gende Über­ein­kunft über die Grund­werte des Zusam­men­le­bens, über den ideo­lo­gi­schen Kern einer Gemein­schaft – getragen von einer Mehr­heit, so die Vorstellung.

Um diese Mehr­heit steht es nicht gut, sieht man sich ein Abstim­mungs­plakat der Rechts­aussen-Partei vom Februar an. Der Cervelat, das Symbol der Mehr­heit, der Leit­kultur und dessen, worauf sich diese Gesell­schaft geei­nigt hat, stehe kurz vor dem Verbot. Ein alpines Hirten­volk sieht sich, seine kuli­na­ri­sche Tradi­tion und die darin schlum­mernde Leit­kultur in Gefahr. Die Gefahr heisst Pola­ri­sie­rung. Oder: Spaltung.

Dieser Text erschien zuerst in einer gemein­samen Ausgabe von das Lamm und dem Kultur­ma­gazin 041.

Mit ihrer Vorstel­lung nehmen jene, die eine Gesell­schaft über Folk­lore, Mythos und Symbolik vor der Spal­tung bewahren wollen, für sich heraus, das Ideal­bild einer Gesell­schaft formen zu können. Damit wollen sie die Deutungs­ho­heit über das, was gemeinhin als gesell­schaft­liche Realität beschrieben wird, für sich bean­spru­chen, um in poli­ti­schen Debatten den gesell­schaft­li­chen Konsens und daher die unsicht­bare Mehr­heit reprä­sen­tieren zu können.

Doch im Gegen­satz zu Mehr­heits­ver­hält­nissen bei Abstim­mungen sind gesell­schaft­liche Realität und gesell­schaft­li­cher Konsens schwer mess­bare Phäno­mene. Gesell­schaft ist imagined commu­nity – die abstrakte Vorstel­lung von einer Gemein­schaft, die Werte und Normen teilen soll. Gesell­schaft ist nicht die Herren­gruppe, die am Stamm­tisch einer Inner­schweizer Beiz Cervelat isst und Bier trinkt. Gesell­schaft ist die Vorstel­lung davon, dass diese bier­trin­kenden Cerve­la­tesser reprä­sen­tativ sind und deshalb die Mehr­heit bilden in einem Land der verschneiten Berge und läutenden Glocken.

Je stiller die Über­ein­kunft mit dieser Vorstel­lung von Gesell­schaft, desto grösser die Gräben zwischen jenen, die am Tisch sitzen, und jenen, die draussen bleiben müssen.

Jene also, die den Status quo vor Spal­tung bewahren wollen im Namen von Leit­kultur und Konsens, spalten die Gesell­schaft, indem sie von vorn­herein fest­legen, wie Gesell­schaft ist.

Von Spal­tung als Status quo ausgehen

Mit jeder neuen Abstim­mung stechen sie wieder ins Auge, die Gräben, die sich durch die Gesell­schaft ziehen. Rechts­aussen inter­pre­tiert das als Kultur­kampf zwischen „Schma­rotzer-Städ­tern“ und „Land­be­völ­ke­rung“, als ein sich zuneh­mend pola­ri­sie­rendes Land, in dem von keinem gesell­schaft­li­chen Konsens mehr ausge­gangen werden könne wie früher.

Doch neu ist das nicht. Schon 1992 vor der EWR-Abstim­mung wurde von rechts ein Stadt-Land-Graben herauf­be­schworen, um eine Trenn­linie zwischen welt­lich-abge­ho­benen Städter*innen und heimat- und natur­ver­bun­denen Landbewohner*innen zu ziehen. Damals wie heute war und ist die anti­städ­ti­sche Polemik der Rechten vor allem Ausdruck ihres Hasses auf die plurale Gesell­schaft, die in der städ­ti­schen Umge­bung mehr Öffent­lich­keit erfährt als auf dem Land.

Je öfter rechts­kon­ser­va­tive Scharfmacher*innen die Pola­ri­sie­rung an die Wand malen und dabei ein harmo­ni­sches „Früher“ zurück­sehnen, desto mehr reak­ti­vieren sie damit die in der Mitte der Gesell­schaft schlum­mernde Vorstel­lung von einer Leit­kultur. Späte­stens seit der Massen­ein­wan­de­rungs­in­itia­tive, dem Brexit und Trump schürt die Panik­mache vor Pola­ri­sie­rung Ängste, die Mehr­heiten in der Stimm­be­völ­ke­rung schaffen können, um die Leit­kultur vor der angeb­li­chen Verein­nah­mung zu retten. 

Es wäre aller­dings verfehlt, der bestehenden Leit­kultur eine andere, eine linke Leit­kultur entge­gen­zu­stellen. Denn unab­hängig davon, wie soli­da­risch oder gerecht die Vorstel­lung von Leit­kultur ist – der Anspruch, über eine möglichst breit gestreute Kultur die Grund­sätze des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­le­bens fest­legen zu können, birgt stets die Gefahr der Über­hö­hung des gesell­schaft­li­chen Konsenses. Sprich: alles als wahr anzu­nehmen, was Konsens ist. Sich in Klar­heit wähnen über das, was gelten soll.

Dabei ist Klar­heit darüber, was sein soll, immer bloss ein Phan­tasma. Eine Gesell­schaft kann sich nicht abschlies­send über einen Konsens defi­nieren, sondern muss sich selbst immer als verän­derbar betrachten. Heraus­zu­finden, was sein soll, ist dagegen immer eine Ange­le­gen­heit des Dissenses, des Diskurses und des Aufein­an­der­pral­lens der Widersprüche.

Um eine neue Gesell­schaft aufzu­bauen, braucht es deshalb ein neues Bewusst­sein für Spal­tung. Wir müssen davon ausgehen, dass sowohl der Ursprung als auch der Status quo der Gesell­schaft in der Gespal­ten­heit ihrer Mitglieder besteht. Dass Gesell­schaft ein Konglo­merat von Indi­vi­duen unter­schied­li­cher Reali­täten und Auffas­sungen ist. Dass eine bestehende Leit­kultur, gesell­schaft­li­cher Konsens und Iden­tität unter dem Deck­mantel der Einig­keit und Homo­ge­nität über­wind­bare Konstruk­tionen sind.

Erst, wenn sich die Gesell­schaft ihrer von Grund auf bestehenden Gespal­ten­heit bewusst wird und darin eine Chance sieht, öffnen sich Räume gegen­über denje­nigen, die nicht dazu­ge­hören, erschaffen die Menschen von sich aus kultu­relle Räume mit eigenen Verhal­tens­normen, einer eigenen Sprache, einer eigenen Iden­tität – ohne Anspruch auf Gesamt­ge­sell­schaft­lich­keit und immer im Bewusst­sein, dass das einende Element der Menschen ihre Unter­schied­lich­keit ist.

Davon ausge­hend brau­chen wir, wenn schon, eine Leit­kultur der Gleich­heit. Ein unvor­ein­ge­nom­menes Recht, das alle Menschen – auch jene, die dies ablehnen – ohne Ausnahme gleich­be­han­delt, sowohl mate­riell als auch rechtlich.


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