Nachdem du wie jeden Abend deinen Kindern einen Gutenachtkuss auf die Stirn gedrückt und dich davon überzeugt hast, dass die elektrischen Mückenfallen eingeschaltet sind, läufst du am farbenfrohen Kalender vorbei, der im Treppenaufgang hängt. Du hast ihn von deinen Kindern zu Weihnachten gekriegt. Er ist vollgeklebt mit Fotos aus vergangenen Jahren.
Heute ist der 20. September. Trotzdem strahlen dir immer noch die sommerlichen Fotos vom Kalenderblatt August entgegen. Du seufzt und nimmst den Kalender von der Wand, um zum aktuellen Monat umzublättern: September 2042.
In der Mitte klebt ein Bild von dir und deinen damaligen Freund*innen vor einer Gletscherzunge, die es heute nicht mehr gibt. Neben euch stehen Tourist*innen mit Atemschutzmasken. Das Bild muss im Corona-Jahr entstanden sein, denkst du – im Klimaprotestherbst. Und du fragst dich, wieso du eigentlich nicht dabei warst bei der grossen Protestwoche in Bern.
1) Du dachtest wohl, du müsstest zügeln, arbeiten und ins Fitnessstudio gehen
Oder du hattest halt einfach schon zum Bier trinken mit deinen Freund*innen abgemacht. Einmal lief der Klimastreik sogar an eurem Tisch in der Strassenbeiz vorbei. Und kurz hattest du darüber nachgedacht, einfach aufzustehen und mitzulaufen. Doch der nächste Schluck des kühlen Biers wischte diesen Gedanken wieder weg. Immerhin hast du dir vorgenommen, dir das nächste Klimastreik-Datum in die Agenda zu schreiben. Aber als dein Freundeskreis dann anfing, genau für dieses Wochenende einen Kurztrip nach Berlin zu planen, wars dann doch nicht mehr so wichtig. Wenn du nichts vorgehabt hättest, wärst du ja schon hingegangen. Aber es hat halt gerade nicht so gepasst. Und es sind doch sicher genug andere hingegangen.
2) Du dachtest wohl, das mit Corona sei halt einfach blöd gelaufen
Also dass dieses Virus von den Fledermäusen zu den Menschen wanderte. Aber wenn du jetzt, fünf Pandemien später, darüber nachdenkst, kannst du dich vage an einen Artikel auf Zeit Online erinnern, der aufzeigte, dass Klimaschutz ja auch Biodiversitätsschutz und das wiederum präventiver Pandemieschutz sei. Und auch die Beiträge, die davon sprachen, dass mit steigenden Temperaturen tropische Krankheiten wie Malaria oder das Dengue-Fieber in die Schweiz kommen könnten, hast du eigentlich schon damals wahrgenommen. Dass du heute nach der Dämmerung aber lieber nicht mehr draussen sitzen willst und die Sommerabende trotz tropischer Temperaturen in der mückensicheren Stube verbringst – daran hast du damals nicht gedacht.
3) Du dachtest wohl, dass mit diesen Riesenbränden sei nur in Kalifornien und Australien ein Problem
Du fandest es schon krass, dass die Brände in Kalifornien so gross waren, dass der Rauch bis nach Europa kam (Tagesthemen, 11.09.2020, Minute 31). Dass heute auch in der Schweiz das Anfeuern im Wald wegen zu hoher Brandgefahr eigentlich durchgehend verboten sein würde, hattest du dir damals aber nicht vorstellen können. Anders als du haben deine Kinder noch nie ein Schlangenbrot gemacht. Denn an den wenigen Tagen, an denen das Feuern im Wald erlaubt ist, sind alle Feuerstellen so rappelvoll, dass ihr euch das nicht antun wollt.
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4) Du dachtest wohl, es sei wichtiger, das Tomatenbeet zu jäten
Und du erinnerst dich daran, dass ihr beim Jäten darüber geredet habt, dass die Klimastreikenden schon ein bisschen ein Theater machen würden mit den schmelzenden Gletschern. Klar, du fandest es schon schade, dass die Gletscher verschwinden würden. Aber so wichtig schienen diese Eismassen dann auch wieder nicht. Heute nervst du dich darüber, dass ihr in eurem Garten im Sommer nur noch drei Stunden Wasser habt pro Tag und deine Tomatensetzlinge immer öfters verdursten, bevor sie auch nur eine Tomate getragen haben. Denn die Gletscher hatten den im Winter gefallenen Niederschlag im Eis gespeichert und über den Sommer das Flachland mit Wasser gespeist. Heute speichern die Gletscher nichts mehr. Sie sind weg. Und die Mauern der Stauseen, die diese Speicherfunktion künstlich ersetzen sollen, sind noch nicht fertig gebaut worden.
5) Du dachtest wohl, du hast jetzt halt schon zum Wandern abgemacht
Und deinen Freund*innen zu erklären, dass du doch lieber an die Klimaproteste gehen würdest, war dir ein bisschen unangenehm. Und Rumlaufen ist in den Bergen halt schon schöner als in der Stadt. Heute musst du deinen Freund*innen erklären, dass sie zwar schon wie verabredet bei dir zum Abendessen vorbeikommen können, aber dass ihr zuerst wieder einmal zusammen den Keller ausschöpfen müsst, bevor ihr an die Weinflaschen kommt. Wieso? Weil das Wasser, das die Gletscher früher über den Sommer verteilt ins Flachland entliessen, nun ungebremst im Frühling runterkommt. Dein Häuschen im Reusstal steht dieses Jahr bereits zum dritten Mal unter Wasser. Und der Schimmelpilz frisst sich durch die Decke.
6) Du dachtest wohl, der Stadtbummel mit deiner Grossmutter sei wichtiger
Du hast dich nämlich schon lange darauf gefreut, mit deiner Oma durch die Gassen zu streifen und in einem Strassencafé Cappuccino zu trinken. Heute triffst du deine Oma nur noch im Altersheim. Nicht weil sie die Innenstadt nicht mehr mögen würde oder nicht mehr so gut zu Fuss wäre. Sondern weil sie Angst hat vor der Hitze und deshalb im klimatisierten Altersheim bleiben will. Dass bereits damals die Anzahl der Hitzetoten zunahm und dass die Klimaseniorinnen sich sogar auf dem rechtlichen Weg dagegen gewehrt hatten, hast du schon irgendwie mitgekriegt. Aber wer konnte schon ahnen, dass es noch so viel heisser wird.
7) Du dachtest wohl, das mit den überfüllten Flüchtlingscamps würde dann schon vorbeigehen
Das ist halt Politik und das geht manchmal ein bisschen länger. Und als damals das überfüllte Camp in Moria, welches für 3’000 Leute gebaut worden ist, aber von 12’000 bewohnt wurde, abgebrannt ist, dachtest du, dass es nun sicher bald vorwärtsgehen würde in der Migrationspolitik. Dass durch die Klimakrise noch weitere hundert Millionen Menschen wegen Hurrikans, Überschwemmungen und Dürren dazu gezwungen werden würden, ihre Heimat zu verlassen, drang damals zwar bis zu Wikipedia, aber nicht bis zu dir vor. Über Trumps Mauer hast du noch gelacht. Die Mauer, die heute Europa von Asien trennt, findest du nicht mehr zum Lachen. Und vor dem Tag, an welchem deine Kinder zum Frontex-Einsatz an der Mauer einberufen werden, fürchtest du dich.
8) Du dachtest wohl, die Wissenschaftler*innen würden dann schon noch etwas erfinden
Etwas, womit das immer knapper werdende Erdöl ersetzt werden kann. Und auch, dass es ja nicht so schlimm sei, wenn das Öl dann einfach irgendwann aufgebraucht ist. Plastik ist ja sowieso weder schön noch ökologisch. Jetzt wartest du seit drei Jahren darauf, ein neues Hüftgelenk zu kriegen. Denn Plastik wurde rationiert. Und du fragst dich, wie man damals auf die Idee gekommen ist, Trinkhalme aus diesem wertvollen Rohstoff herzustellen. Auch mit einer grossen Ladung Schmerzmittel könntest du keine Bergtouren mehr machen. Aber das würdest du heute sowieso nicht mehr – denn niemand weiss, wo wegen des aufgetauten Permafrosts der nächste Hang ins Rutschen kommt.
Heute denkst du, dass du damals gar nicht so viel nachgedacht hast. Es hätte Wichtigeres gegeben als das Feierabendbier, die Tomatenbeete oder den Städtetrip nach Berlin. Ja, sogar als den Stadtbummel mit deiner Oma. Zwar hast du beim Wandern noch den Silvrettagletscher gesehen, bevor er vollends verschwand, aber das bringt deinem vertrockneten Tomatenbeet und den Klimaflüchtlingen an der Mauer zu Europa jetzt auch nichts mehr. Während du einen Bogen um den Schimmelpilz machst und dich mit deiner schmerzenden Hüfte unter das Moskitonetz legst, fragst du dich, wie es wohl gekommen wäre, wenn du damals im September 2020 mit deinen Freund*innen anstatt zum Silvrettagletscher nach Bern an die Klimaprotestwoche Rise up for Change gegangen wärst.