Vielleicht kennst du diese Situation: Deine Freundinnen und Freunde kommen dich besuchen: aus Berlin, Paris, Barcelona. Natürlich freust du dich, sie zu sehen und sie freuen sich darauf, die imposante Schweizer Berglandschaft mit ihren Skipisten und Gletschern kennenzulernen. Doch leider kommen sie alle mit dem Flugzeug. Wenn du dann sagst: „Naja, Fliegen ist im Fall echt nicht so cool und es zerstört auch unsere Skipisten und Gletscher…“, dann geht es los. Schnell wird klar, dass jeder und jede ein anderes Argument parat hat, mit welchem die eigene Fliegerei gerechtfertigt werden soll.
Wir haben euch die 10 häufigsten Rechtfertigungsversuche aufgelistet und erklären, wieso diese als Ausreden ‚nöd so ganz verhebed‘.
1) „So oft fliege ich ja gar nicht.“
Musst du auch nicht, um das Klima auf den Kopf zu stellen. Einmal nach New York und zurück pustet schon mehr als zweimal so viel CO2 in die Atmosphäre, wie dir rein mathematisch für alle deine Aktivitäten zusammen in einem ganzen Jahr zustehen würde. Denn die Atmosphäre kann jedes Jahr ein bisschen CO2 ‚neutralisieren‘. Wenn wir also wollen, dass der CO2-Anteil in der Luft nicht steigt, dürfen alle Menschen zusammen maximal dieses Neutralisationsvolumen in die Atmosphäre entlassen.
Bei einer momentanen Weltbevölkerung von 7.6 Milliarden steht dir mit dieser Rechnung etwa eine Tonne CO2 pro Jahr zur Verfügung. Mit diesem CO2-Budget von einer Tonne musst du aber nicht nur fliegen, sondern auch essen, Zug fahren, Kleider kaufen, das Haus heizen und deinen Laptop betreiben. Wenn du fliegst, ist es beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, innerhalb dieser einen Tonne zu bleiben. Einmal nach New York und zurück sprengt das Budget nämlich schon um mehr als das Doppelte (2.3 Tonnen). Und auch mit einem kürzeren Flug nach Berlin und wieder zurück hast du bereits einen Drittel (0.348 Tonnen) deines CO2-Jahresbudgets auf den Putz gehauen.
2) „Was soll denn der Vorwurf? Du fliegst ja selbst auch.“
Vielleicht haben deine Freundinnen und Freunde recht und auch du kannst den Preisen von Easyjet und Co. nicht immer widerstehen. Aber muss man denn selbst perfekt sein, um kritisieren zu dürfen? Falls ja, wird es schwierig, denn das ist niemand. Auf einer emotionalen Ebene ist es verständlich, dass die Fluggewohnheiten der Person, die dich kritisiert, einen Einfluss haben. Aber wenn wir aus einer weniger emotionalen Perspektive darüber nachdenken, dann bleibt ein Argument wahr, egal von wem es ausgesprochen wird. Auch wenn ich jeden Tag von Basel nach London und zurück jetten würde, die Aussage „Fliegen ist richtig schlecht für deine CO2-Bilanz“ bleibt genauso wahr.
3) „Aber das Fliegen macht doch eh nur 2 % der globalen Klimagase aus.“
Je nachdem, was für eine Berechnungsmethode man verwendet, stimmen diese 2 % sogar. Aber traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht oder zumindest relativiert hast. In der Schweiz stammen nämlich ganze 18 % der Klimagase aus dem Flugverkehr. Wie kommt dieser enorme Unterschied zustande? Weltweit sassen erst 5 % der Menschen jemals in einem Flugzeug. Das kann man sich zwar angesichts seiner dauerjettenden Freunde und Freundinnen nicht ganz vorstellen, ist aber so. Die 95 % der Weltbevölkerung, die nicht fliegen, ziehen die schweizerischen 18 % auf die globalen 2 % runter.
Fliegen ist also nicht nur unökologisch, sondern auch krass asozial. Es sind gerade mal 5 % der Mensch, die mit ihrer Fliegerei immense Mengen an Klimagasen verursachen. Die dadurch ansteigenden Meeresspiegel, die dahinschmelzenden Gletscher oder die instabil werdenden Berghänge kriegen aber auch – oder vor allem – all diejenigen ab, die noch nie in einem Flugi sassen. Die 15-jährige Klimaaktivistin Greta Thunberg meinte dazu unlängst: „It is the suffering of the many which pay for the luxuries of the few.“
4) „Aber es ist doch schon wichtig, dass man beim Reisen auch andere Kulturen kennenlernt!“
Das Kulturargument kommt vor allem dann, wenn es die Heerscharen von Backpacker-Touristinnen und ‑Touristen zu rechtfertigen gilt, die vor, nach oder mitten im Studium den Fluggesellschaften eine goldene Nase bescheren. Klar, das Sammeln von interkulturellem Wissen ist wichtig. Dafür muss man aber nicht zwingend in den Flieger steigen. Dafür empfiehlt das Lamm ein Engagement hier, hier oder hier.
5) „Aber das Flugzeug fliegt doch so oder so!“
Kurzfristig mag das stimmen. Langfristig ist es falsch. Mit jedem Flug, den du kaufst, setzt du ein Zeichen. Du signalisierst den Fluggesellschaften: „Ich bin da! Und ich kaufe eure Tickets!“ Und deshalb werden sie weiterhin richtig viele Flugis um den Globus schicken. Buchst du den Flug jedoch nicht und tun es dir immer mehr Menschen nach, dann wird das längerfristig dazu führen, dass die Fluggesellschaften weniger Flüge anbieten.
6) „Aber der Zug ist halt einfach zu teuer.“
Falsch. Richtig wäre: Das Flugzeug ist zu billig. Alles hat nun mal seinen Preis. Beim Flugverkehr scheint diese Binsenwahrheit jedoch nicht mehr zu gelten. Die Preise sind so tief gefallen, dass die Anfahrt zum Flughafen teurer ist als der Flug selbst. Verantwortlich dafür sind strukturelle Gründe, wie die SRF-Sendung „Kassensturz“ unlängst aufgezeigt hat.
Erstens zahlt die Flugindustrie seit dem Ende des zweiten Weltkriegs keine Steuern auf ihre Treibstoffe. Zweitens sind die Flugtickets mehrwertsteuerbefreit. Und drittens verursacht das ausgestossene Kohlendioxid immense Schäden, die aber nicht von den Käuferinnen und Käufern der Flugtickets beglichen werden. Denn die Fluggäste kommen weder für die in Holland zusätzlich benötigten Dämme gegen klimawandelbedingte Fluten auf, noch bezahlen sie die Reisekosten für die 140 Millionen Klimaflüchtlinge, die die Weltbank bis 2050 prognostiziert hat. Die Petition NachhaltigAir fordert die Abschaffung dieser Bevorteilungen.
Wer es deshalb vielleicht doch wieder einmal mit dem Zug probieren möchte, der sollte sich einmal das Nightjet-Angebot der ÖBB anschauen. Von Zürich nach Berlin blättert man hier zwischen 30 und 50 Euro hin. Bezahlbar, oder?
7) „Aber für die Bus- oder Zugfahrt habe ich keine Zeit.“
Jetzt mal ehrlich: Wie gerne würdest du dir wieder einmal mehrere Stunden Zeit nehmen, um in einem Buch zu blättern, Musik zu hören oder einfach nur deinen Gedanken nachzuhängen? Eine längere Fahrt wäre perfekt dafür. Das eigentliche Problem ist nicht, dass dir die Zugfahrt zu lange dauert, sondern dass du zu wenig Zeit dafür hast. Anstatt ins Flugi zu springen, müsstest du dich also fragen, wie du es hinkriegst, dass du mehr Zeit hast. Vielleicht lässt sich hier mit einer besseren Planung noch etwas rausholen. Oder du hast sogar die Möglichkeit, in deinem Beruf auf Teilzeit zu reduzieren. Oder du setzt dich politisch für höhere Mindestlöhne, die Reduktion der Wochenarbeitszeit oder die Erhöhung der Ferienzeit ein. Das wären Massnahmen, die dein Problem wirklich lösen würden. Nicht der Kauf eines Flugtickets.
8) „Aber der Bus, der Zug und das Auto brauchen ja auch voll viel CO2.“
Das stimmt. Aber das ist kein Argument, um sich ein Flugticket zu kaufen. Das ist dann wohl eher ein Argument, um allgemein weniger unterwegs zu sein. Denn vielleicht ist es mit einem Verzicht auf die Fliegerei halt noch nicht getan. Wenn du rausfinden willst, wie viele Zug‑, Bus‑, Autofahrten oder Flugreisen in deinem CO2-Budget von einer Tonne jährlich drinliegen, kann dir die Website Ecopassenger behilflich sein. Sie listet dir den CO2-Ausstoss und weitere Umwelteinflüsse der verschiedenen Reiseoptionen für eine selbstgewählte Strecke auf. Aber nicht vergessen: Ein Teil deiner Tonne geht auch fürs Essen und Co. drauf. Wenn du Fleisch isst, sogar ein ziemlich grosser Teil. Womit wir beim nächsten vermeintlichen Gegenargument wären.
9) „Aber Fleisch essen ist doch mindestens genauso schlimm.“
Obwohl es einer ganz anderen Konsumsparte entspringt, kommt das Fleischargument in Diskussionen um das Fliegen sehr zuverlässig. Und die Aussage ist auch nicht falsch. Fleisch essen ist richtig schlecht für die, welche sich zukünftig mit dem erhitzten Klima herumschlagen müssen. Um ein Kilo Rindfleisch herzustellen, werden 15.4 Kilo CO2 in die Atmosphäre entlassen.
Laut dem Branchenverband Proviande ass jede Schweizerin und jeder Schweizer im Jahr 2017 im Schnitt elf Kilogramm Rindfleisch. Der Rindfleischverzehr verursachte also einen CO2-Ausstoss von fast 170 Kilo CO2 pro Person. Gerade etwa soviel wie ein Flug nach Berlin. Fleisch essen ist also etwa gleich schlecht für das Klima wie fliegen. Aber nur weil etwas anderes auch relevant ist, heisst das nicht, dass man die Fliegerei nicht kritisieren sollte. Sehr wahrscheinlich musst du eh beides sein lassen, wenn du dein CO2-Budget einhalten willst.
10) „Aber ich lebe ja sonst schon richtig nachhaltig…“
Das ist schön. Leider wirst du es aber nicht hinkriegen, klimaverträglich zu leben, wenn du fliegst. Das ist nämlich beinahe unmöglich. Hier kannst du es nachrechnen.
Es kann durchaus legitime Gründe geben zu fliegen. Zum Beispiel bei einem medizinischen Notfall oder um weit entfernte Verwandte oder Freunde ab und zu besuchen zu können. Die meisten Anlässe jedoch, zu denen wir momentan in den Flieger steigen – und das oft mehrmals pro Jahr –, entsprechen nicht diesen Ausnahmefällen. Schlussendlich müssen wir uns wohl einfach öfters fragen, ob wir aus Gründen der Gemütlichkeit oder des Lifestyles wirklich unsere schönen Skipisten und Gletscher opfern wollen. Und die Zukunft von Millionen von Menschen obendrauf.
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