Update 1. Juni:
In der ursprünglichen Version dieses Artikels ist dem Lamm ein Fehler unterlaufen. Die Berechnung der benötigten Flüge, um die Schweizer Luftfracht zu exportieren, stimmte so nicht. Dafür bitten wir um Entschuldigung. Das Problem: Das Lamm ging von einer durchschnittlichen Frachtkapazität von 25 Tonnen bei Passagierflugzeugen aus. Auch, weil die Swiss auf Anfrage nur die Frachtkapazität ihrer grössten Flugzeuge genannt hatte. Wohl, um sich möglichst gross darzustellen. Tatsächlich ist die durchschnittliche Kapazität kleiner als 25 Tonnen. In dieser Version wurde dieser Fehler behoben. Alles andere, was geschrieben wurde, stimmt nach wie vor.
Vor wenigen Wochen hat das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) gesagt, dass indirekt rund 190’000 Arbeitsplätze an der Flugbranche hängen würden. Tatsächlich schafft die Schweizer Flugbranche jedoch lediglich 44’000 direkte und 23’000 indirekte Arbeitsplätze. Um auf die kommunizierten 190’000 Arbeitsplätze zu kommen, rechnete das UVEK noch Jobs in ganz anderen Branchen dazu (das Lamm berichtete). Darauf angesprochen meinte das UVEK, man wolle in Zukunft klarer sein bei der Kommunikation der Zahlen. Doch anscheinend waren das leere Worte.
Die Kommunikation ist erneut irreführend
An der Pressekonferenz vom 29. April nannte Sommaruga als Begründung für die Unterstützung der Flugbranche nicht mehr die zu rettenden Arbeitsplätze, sondern die Bedeutung der Luftfahrt für den Schweizer Import und Export: „Die Luftfahrt gehört zu den kritischen Infrastrukturen der Schweiz. Sie trägt dazu bei, die internationale Anbindung sicherzustellen. Die Schweiz ist darauf angewiesen. Mehr als ein Drittel unserer Exporte verlassen per Flugzeug das Land. […] Das heisst, daran hängen dann auch viele Firmen, Lieferketten und Arbeitsplätze.“
Diese Zahl findet man auch im Bericht „Luftverkehr und Nachhaltigkeit, Update 2015“ vom Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL). Doch bei genauem Hinsehen zeigt sich: Es ist alles ein bisschen komplizierter. Nur gemessen am Wert verliessen 37.5% aller Exporte[1] per Luftfracht die Schweiz, heisst es im Bericht. Gemessen am Volumen betrug der Anteil an per Luftfracht exportierten Gütern 2014 gerade einmal 4% des Schweizer Gesamtexports, wie auch die aktuellsten Zahlen der eidgenössischen Zollverwaltung belegen. In den Flugzeugen werden also nicht besonders viele, sondern vor allem besonders teure Güter exportiert[2].
Metalle, chemische Erzeugnisse, Maschinen sowie ‚Möbel, Schmuck, Musikinstrumente, Sportgeräte‘ machen dabei mit 56, 48, 37 und 13 Milliarden Franken mit grossem Abstand die wertvollsten Posten der Flugexporte aus. Doch es ist keiner dieser Posten, der die meisten Tonnen auf die Waage bringt, sondern eine Güterkategorie, die auf der Wertseite nicht einmal auf ein Prozent kommt: ‚Kokereierzeugnisse und Mineralölerzeugnisse‘. Dazu unten mehr. Schon hier lässt sich aber festhalten: Wenn es um die Rettung der Airlines geht, kommuniziert der Bundesrat einmal mehr tendenziös.
Was wird da genau rumgeflogen
Nach den Arbeitsplätzen hat das UVEK nun also den Warentransport als Hauptargument für die Unterstützung der Flugbranche ins Rennen geschickt. 823’883 Tonnen Waren wurden laut der eidgenössischen Zollverwaltung 2019 per Flugzeug exportiert. Das ist nur ein Bruchteil des gesamten Schweizer Exportvolumens. Aber es geht noch weiter: Der mit Abstand grösste Teil der knapp 824’000 Exporttonnen entfällt laut der eidgenössischen Zollverwaltung auf die bereits genannte Kategorie ‚Kokereierzeugnisse und Mineralölerzeugnisse‘.
Auf Anfrage erklärt die Zollverwaltung Folgendes: „Die Warengruppe ‚Kokerei- und Mineralölerzeugnisse‘ enthält unter anderen auch die Untergruppe ‚Flüssige Mineralölerzeugnisse‘. Im Verkehrszweig ‚Luftverkehr‘ ist in dieser Gruppe ebenfalls der Treibstoff der Flugzeuge enthalten.“ Geht man noch tiefer in die Statistik, stellt man fest, dass lediglich 78 Tonnen der flüssigen Mineralölerzeugnisse nicht Treibstoff sind, also etwa 0.01%.
Von den knapp 824’000 Tonnen Exportwaren entfallen also 712’447 Tonnen – rund 86% – auf das Kerosin zum Rumfliegen der Waren und Passagier*innen. Nur 111’358 Tonnen sind wirklich transportierte Ware. Diese stemmen zwar 99.97% des Werts der Luftfracht, machen aber nur 14% der Luftfrachtmasse aus. Bezogen auf die gesamte Exportmasse der Schweiz sind die 111’358 Tonnen lediglich 0.6%.
Bedenklich ist aber nicht nur, dass diese Zahl so viel kleiner ist als vom Bundesrat suggeriert, sondern auch, dass es kaum möglich ist, ihre tatsächliche Grösse mit vollständiger Sicherheit festzusetzen (siehe Infobox). Nicht nur, weil sich in den Zahlen der eidgenössischen Zollverwaltung noch das ganze Flugkerosin versteckt und das Bundesamt für Statistik einen anderen Wert kommuniziert, sondern auch, weil sich die Swiss weigert, darüber Auskunft zu geben. Das sei ein Unternehmensentscheid. Aber ist das akzeptabel, wenn die verschwiegene Zahl als Teil eines der Hauptargumente zur Rechtfertigung eines staatlichen Milliardenkredits an die Flugbranche dient?
Auf der anderen Seite des Geldhahns nimmt das UVEK derweil ebenfalls keine Stellung zu dieser Recherche und den Vorwürfen. Die Mediensprecherin verweist bloss auf den luftfahrtpolitischen Bericht und die Zahlen der eidgenössischen Zollverwaltung. Den Anteil der Luftfracht am Gesamtwert der Schweizer Exporte als Argument für die Kredite ins Spiel zu bringen, ohne darauf aufmerksam zu machen, dass die Luftfracht auf der Mengenseite nur einen kleinen Bruchteil ausmacht, ist sehr irreführend. Vor allem, wenn am grössten Teil der Schweizer Flugexporttonnen weder hiesige Firmen noch Lieferketten oder Arbeitsplätze hängen, sondern lediglich eines: Treibhausgase.
Es bleiben Fragen offen, die geklärt werden müssen
Wie wichtig ist die Luftfracht wirklich für die Schweizer Wirtschaft? Die in der bundesrätlichen Botschaft kommunizierten 70% der Schweizer Unternehmen, für welche die Schweizer Luftfahrt anscheinend eine wichtige Voraussetzung für ihr Geschäft ist, scheint erneut ziemlich hoch gepokert. Es ist schwer vorstellbar, dass sieben von zehn Schweizer Unternehmen von der Luftfracht abhängig sein sollen, wenn doch lediglich ein Prozent der Schweizer Exporte rausgeflogen wird. Und es stellen sich weitere Fragen: Was wird da eigentlich genau rumgeflogen und wohin? Wie viele Tonnen könnten auf den Schienen, mit LKWs oder gar über den Schiffstransport abgewickelt werden? Wie bei der Anzahl Arbeitsplätze und der Wertschöpfung fehlt es auch bei der Luftfracht an belastbaren Zahlen. Die Bundesämter wollen diese offensichtlich nicht liefern, was in der medialen Berichterstattung zu wagemutigen Spekulationen oder der blauäugigen Wiedergabe von irreführenden Zahlen geführt hat, so auch beim Lamm (Link alter Artikel). Was es also braucht, ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas.
Und zwar schnell. Denn bei der anstehenden Revision des CO2-Gesetzes und der Besprechung einer Flugticketabgabe werden sonst wieder dieselben schwammigen Daten als Grundlage der Diskussion zum Einsatz kommen. Eine Diskussion, die nach der jetzigen Rettung der Branche noch schwieriger zu führen sein wird. Wieso? Griffige Massnahmen zur Einschränkung der Branche könnten zur Folge haben, dass diese ihre Kredite möglicherweise nicht mehr zurückzahlen können wird. Spätestens dann werden die Mitte-rechts Parteien merken, dass die Kreditvergabe an die Flugbranche durchaus zusammen mit dem Thema Klimawandel hätte betrachtet werden sollen.
[1] Laut den neuesten Zahlen der eidgenössischen Zollverwaltung machten die Flugexporte im 2019 sogar rund 50% des Wertes aus.
[2] Bei den Importen sieht es ähnlich aus. Laut dem UVEK wird ein Sechstel aller Importe über die Luft abgewickelt. Doch auch diese Zahl bezieht sich auf den Wert der Waren. Mengenmässig sind es lediglich 0.2%. Der mengenmässig scheinbar höhere Prozentsatz von 4.1% bei den Exporten kommt zustande, weil das getankte Kerosin nur bei den Exporten in der Statistik auftaucht. Das Gewicht der tatsächlich importierten Waren (79’644 Tonnen) ist aber in derselben Grössenordnung, wie dasjenige der tatsächlich exportierten Waren (die 111’358 Tonnen).
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