Das Lamm: Wann kann ich mich an das Telefon gegen Gewalt wenden?
TGG: Du kannst mit jeder Gewalterfahrung zu uns kommen. Auch wenn du denkst, es sei gar nicht so schlimm. Natürlich kann man uns auch in Notfällen erreichen, ein Notfall ist aber keine Voraussetzung für ein Telefonat. Du kannst einfach so anrufen oder wenn dir etwas passiert ist und du es erst zwei Wochen später realisierst. Du kannst uns anrufen, wenn du bereits mitten im Gerichtsprozess steckst oder wenn du über dich und deine Erfahrungen sprechen willst.
Wie seid ihr auf die Idee zum Telefon gegen Gewalt gekommen?
Die Initiative ging vom Verein RoSara aus, der mehrsprachig Frauen mit Gewalterfahrung berät. Zu Beginn von Corona hatte RoSara aufgrund der Zunahme von häuslicher Gewalt eine Telefon-Hotline ins Leben gerufen. Es zeigte sich bald, dass es einen hohen Bedarf gibt – und so suchte man den Austausch mit anderen aktivistischen Gruppen. Das war 2020. Mitte bis Ende Jahr konkretisierten sich die Pläne und im Frühjahr 2021 ging das Telefon gegen Gewalt an die Arbeit.
TGG: Telefon für gewaltbetroffene Frauen – solidarisch, anonym, gratis
Ins Leben gerufen: 14. Juni 2021
Von wem? FLINT Menschen (Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre und trans
Personen)
Für wen? Gewaltbetroffene Frauen. Bieten eine erste Anlaufstelle. Beraten,
informieren und vermitteln an passende Beratungsstellen weiter.
Erreichbarkeit: Von Freitag 18.00 Uhr bis Montag 08.00 Uhr
Telefonnummer: 076 516 26 76
E‑Mail: info@telefon-gegen-gewalt.ch
Sprachen: Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Bosnisch, Italienisch, Kurdisch, Portugiesisch, Rumänisch, Türkisch, Arabisch, Persisch
Seid ihr also ein Tochterverein von RoSara?
Das Projekt TGG ist ein eigenständiges Projekt. Es hat sich unabhängig von RoSara entwickelt, ist jedoch in die Vereinsstruktur eingebettet.
Wie finanziert ihr euch?
Wir haben Fixkosten wie beispielsweise die Telefonrechnung. Diese werden durch Spendengelder abgedeckt. Die Spenden laufen über das Vereinskonto. Löhne oder ähnliche Kosten entfallen, da es sich um aktivistische Arbeit handelt. Wir machen unsere Arbeit nicht für Geld, sondern aus der Überzeugung heraus, dass es Menschen braucht, die sich mit von Gewalt Betroffenen solidarisch zeigen und die hinschauen und als Zeug:innen fungieren.
Warum ist euer Telefon ausgerechnet Freitag bis Montag erreichbar?
Einerseits aufgrund unserer Ressourcen. Wir sind alle hauptberuflich noch anderweitig tätig. Der Arbeit beim TGG gehen wir in unserer Freizeit nach, als unbezahltes politisches Engagement. Andererseits aufgrund der Öffnungszeiten offizieller Beratungsstellen. Die haben über das Wochenende meistens geschlossen. Es gibt an diesen Tagen also einen Mangel an Anlaufstellen.
Seht ihr euch selbst als Beratungsstelle?
Nein. Für uns ist extrem wichtig: Wir sind keine Beratungsstelle und machen keine Beratungen. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen gibt es bei uns auch keine ausgebildeten Fachpersonen. Wir bilden eine solidarische Struktur, eine erste Anlaufstelle, in der es primär darum geht, zuzuhören, unterstützend zu wirken und die Gewalterfahrung anzuerkennen.
Wenn es nicht der berufliche Hintergrund ist, was qualifiziert euch denn für diese anspruchsvolle Arbeit?
Im Kern sind es Überzeugung und Haltung, die uns qualifizieren. Wir finden, die Unterstützung von gewaltbetroffenen Personen darf nicht nur von Fachpersonen getragen werden, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und soll gesamtgesellschaftlich mitgetragen werden.
Von wie vielen Aktivist:innen sprechen wir bei TGG?
Wir sind eine überschaubare Gruppe von etwa 10 bis 12 Personen.
Und wie koordiniert ihr eure Einsätze?
Es gibt einen Schichtplan, in den man sich eintragen kann. Normalerweise wird eine Schicht jeweils von zwei Personen abgedeckt. Diese tragen dann die Hauptverantwortung. Bei Notfällen oder anderweitigen Herausforderungen steht noch eine Backup-Person zur Verfügung. Im Allgemeinen können wir immer auf das ganze Kollektiv zurückgreifen, sei es um Rücksprache zu halten, sich über Vorgefallenes auszutauschen oder schlichtweg um Unterstützung einzufordern.
Wie sieht eure Unterstützung am Telefon konkret aus?
Einer unserer zentralen Grundsätze lautet: Wir treffen keine Entscheidungen für die Person am Telefon. Wir agieren lediglich als Zeug*innen, die die Tat anerkennen, als unterstützende Personen, die zuhören. Darüber hinaus können wir Möglichkeiten für das weitere Vorgehen aufzeigen. Alle Entscheidungen fällt die anrufende Person aber selbst. Sie trägt allein die Verantwortung. Sie entscheidet, wie sie vorgehen will, ob sie überhaupt etwas unternehmen will und, wenn ja, an welche Beratungsstelle sie sich wenden will. Wir reden nicht drein. Wir verurteilen nicht. Genauso wenig stellen wir ihre Erfahrung, ihr Erlebtes in Frage oder bewerten es. Wir trauen der Person zu, dass sie am besten weiss, was gut für sie ist.
Was hilft euch bei den Telefonaten?
Wir haben als Hilfestellung Leitfäden erstellt, die eine gewisse Struktur anbieten. Und dann sind da noch unsere Grundsätze. Wir sind solidarisch, anonym und stehen allen Personen zur Seite, unabhängig von der jeweiligen Gewalterfahrung, dem finanziellen oder sprachlichen Hintergrund.
Was würdet ihr als das wesentliche Problem im Umgang mit Gewalterfahrungen bezeichnen?
Das Problem bei Gewalterfahrungen ist: Du stehst oft alleine da. Gewalterfahrungen isolieren. Dagegen kämpfen wir an. Wir erkennen Gewalt auch als ein strukturelles Problem an, welchem wir kollektiv entgegentreten müssen.
Gibt es Personen, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihres sozialen Status‘ häufiger Gewalt erleben?
Gewalt findet überall statt! Alle Personen können Gewalterfahrungen machen. Aber natürlich gibt es Menschengruppen, die aufgrund der vorherrschenden patriarchalen Strukturen eher Gewalt ausgesetzt sind. Dies oft auch in Zusammenhang mit behördlich ausgeübter Gewalt. Ein Beispiel: Wenn deine Aufenthaltsberechtigung an ein*e Ehepartner*in gekoppelt ist, bleibt als einzige Möglichkeit zur Migration oft die Heirat. Das sehen wir bereits als eine erste Form von behördlicher Gewalt. Und so gibt es sehr viele Ungleichheitsstrukturen in unserer Gesellschaft, von denen gewisse Personen eher betroffen sind und die es beim weiteren Vorgehen zu berücksichtigen gilt.
Wie eurem Flyer und eurer Homepage zu entnehmen ist, richtet sich das Angebot primär an Frauen. Steht das nicht im Widerspruch zur Aussage, Gewalt kann allen widerfahren?
Nein. Aus unserer politischen Haltung und unserer Motivation heraus stehen wir nicht nur Frauen als Plattform zur Verfügung. Wir sind offen für alle FLINTA Personen und hatten auch schon ein Telefonat, bei dem uns ein Mann kontaktierte. Wir lehnen grundsätzlich niemanden ab.
Warum habt ihr euch als Medium das Telefon ausgesucht?
Aus unserer Sicht ist es am einfachsten zugänglich. Zudem lässt sich die Anonymität wahren. Wir sind natürlich primär übers Telefon erreichbar, aber wir haben beispielsweise auch schon Personen bei Terminvereinbarungen oder beim Gang zur Behördenstelle begleitet.
Wie blickt ihr hinsichtlich der aktivistischen Arbeit in die Zukunft?
Wir sind noch relativ jung und arbeiten gerade daran, uns weiter zu vernetzen und unsere Telefonnummer zu etablieren. Momentan verteilen Freiwillige fleissig in der ganzen Stadt Zürich Sticker und Flyer. In Bezug aufs Vernetzen sind wir damit beschäftigt, eine Liste sensibilisierter Fachpersonen zu erstellen, die ihre Dienste uns oder den Betroffenen pro bono zur Verfügung stellen. Zum Beispiel Gynäkolog*innen, Jurist*innen oder Übersetzer*innen.
Wann seid ihr mit eurer Arbeit am Ziel?
Wir sind der Auffassung, dass unsere Arbeit nicht mit dem Erreichen bestimmter Ziele getan ist. Selbst wenn es in ferner Zukunft eine schweizweite Hotline geben sollte, heisst das nicht, dass alle Leute dieses Angebot auch nutzen werden oder nichts anderes daneben existieren kann. Es wird wohl weiterhin Hürden und Hemmnisse geben, sich an offizielle Stellen zu wenden. Ein breites Angebot zur Unterstützung von Menschen mit Gewalterfahrungen wird darum immer wichtig bleiben.
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