Frau Isler, hat das Bundesgericht Mann und Frau endlich gleichgestellt?
Simona Isler: Nein, im Gegenteil.
Das sehen viele Kommentator*innen aber anders. Sie sprechen bei den fünf Bundesgerichtsentscheiden (siehe Infobox „Die Bundesgerichtsentscheide“) von einer „Revolution des Eherechts“ und vom „Ende der traditionellen Geschlechterrollen“…
Ich weiss nicht, wie man zu dieser Einschätzung gelangen kann. Das Bundesgericht hat in seinen Entscheiden ignoriert, dass Männer und Frauen in der Schweiz ökonomisch nicht gleichgestellt sind. Das ergibt sich zum grössten Teil daraus, dass Frauen mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten als Männer und öfter in schlecht bezahlten Berufen arbeiten. Die geschlechterspezifische Einkommenslücke, die sich daraus ergibt, beläuft sich auf rund 100 Milliarden Franken im Jahr.
All das ignoriert das Bundesgericht. Ich weiss nicht, ob die Richter naiv sind oder frauenfeindlich, aber die Entscheide werden die Ungleichheiten weiter verschärfen und zu einer weiteren Umverteilung von Geld und Zeit führen – weg von den Frauen hin zu den Männern.
Das Bundesgericht hat in fünf Grundsatzurteilen seit November 2020 Fragen zum Unterhaltsrecht behandelt und so mehrere Praxisänderungen eingeleitet.
BGE 5A_907/2018: Die Festlegung des Unterhalts zwischen zwei Eltern nach einer Scheidung hängt davon ab, ob eine Ehe „lebensprägend“ war. Bisher galt eine Ehe als lebensprägend, wenn sie mehr als zehn Jahre dauerte oder Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind.
Neu gilt dieser Automatismus nicht mehr, sondern es muss im Einzelfall berücksichtigt werden, ob die ökonomische Selbstständigkeit für die Betreuung der Kinder aufgegeben wurde und ob es der betroffenen Person deshalb nach der Scheidung nicht mehr möglich ist, an die frühere berufliche Stellung anzuknüpfen oder einer ähnlichen Erwerbstätig- keit nachzugehen.
BGE 5A_104/2018: Bisher galt: Personen, die älter als 45 Jahre alt waren und vor allem unbezahlte Care-Arbeit geleistet haben, mussten nach der Scheidung keine neue Arbeitsstelle suchen und hatten Anspruch auf Unterhaltszahlungen. Auch diesen Automatismus hat das Bundesgericht abgeschafft.
BGE 5A_907/2018: Wenn eine Person nach der Scheidung nicht für ihre Ei- genversorgung aufkommen kann, besteht ein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt. Dieser Unterhalt muss angemessen sein und ist deshalb gemäss Bundesgericht insbesondere zeitlich zu limitieren.
Kurzum: Es besteht kein Anspruch auf lebenslängliche finanzielle Gleichstellung nach der Ehe.
BGE 5A_311/2019, BGE 5A_891/2018, BGE 5A_800/2019: Mit diesen drei Entscheiden hat das Bundesgericht die verschiedenen Berechnungsmethoden der Höhe des Unterhalts, die in den Kantonen zur Anwendung kommen, vereinheitlicht.
Wie genau führt eine Änderung im Unterhaltsrecht zu einer Umverteilung?
Die Unterhaltszahlungen nach einer Scheidung gehören zu den wenigen Mechanismen in der Schweiz, die versuchen, die unbezahlte Care-Arbeit finanziell zu berücksichtigen. Ein anderer solcher Mechanismus ist die Betreuungsgutschrift in der AHV, eine Errungenschaft der Frauenbewegung, welche die unbezahlte Care-Arbeit auch in der Sozialversicherung abbildet.
In einem Paarhaushalt mit zwei Kindern leisten Mütter durchschnittlich 23 Stunden pro Woche mehr Betreuungsarbeit als Väter, was theoretisch einem Lohn von 4249 Franken entsprechen würde. Es ist nur fair, dass die Mutter nach der Scheidung Geld zurückerhält, weil sie in dieser Zeit mit ihrer Arbeit ihrem Ehepartner eine Erwerbskarriere ermöglicht hat.
Jetzt schwächt aber das Bundesgericht im Unterhaltsrecht einen Mechanismus, der diese Arbeit wertschätzt, und somit auch das Prinzip, dass unbezahlte Care-Arbeit berechnet und berücksichtigt werden soll.
In der Schweizer Statistik werden Personen in Frauen und Männer aufgeteilt – non-binäre, inter und agender Personen werden also nicht als solche aufgeführt, sondern fälschlicherweise in die binäre Struktur eingeteilt. Im Fall dieses Artikels gilt das sowohl für die Statistik über die Aufteilung von Betreuungsarbeit zwischen den Elternteilen sowie für die gesprochenen Unterhaltsforderungen.
Trans Frauen und Männer fallen in die „richtige“ Kategorie, sofern sie ihren Geschlechtseintrag angepasst haben.
Was nicht vergessen werden darf: Auch non-binäre, agender und inter Personen sowie trans Männer gebären Kinder. Wir schreiben in diesem Text einfachheitshalber über „Mütter“ und „Väter“.
Aber dem Unterhaltsrecht liegt doch die patriarchale Vorstellung der Ehe als „Vorsorgeinstitution“ zugrunde. Das schafft Abhängigkeiten, meistens von Frauen gegenüber Männern. Ist es nicht gut, dass das Bundesgericht hier vorwärtsmacht?
Natürlich kann man die Ehe als Vorsorgeinstitution kritisieren. Die Idee dahinter ist ja, dass die beiden Ehepartner unterschiedliche Arbeiten leisten, aber die ökonomischen Lasten und Risiken gemeinsam tragen. Das kann zu Abhängigkeiten zwischen den beiden Ehepartnern führen, etwa wenn sich eine Frau nicht scheiden lassen kann, weil sie auf das Einkommen ihres Ehepartners angewiesen ist.
Wenn man jetzt aber einen Ausgleichsmechanismus im Namen der Gleichstellung abbaut und mehr Eigenverantwortung von Frauen verlangt, aber gleichzeitig keine andere Form des Ausgleichs für geleistete unbezahlte Arbeit bietet, schiebt man die ganzen Kosten zu den Frauen. Das ist das Gegenteil von Gleichstellung.
Diese Entwicklung konnten wir bereits in der Vergangenheit beobachten: Seit den 1990er-Jahren nehmen die gesprochenen Unterhaltszahlungen ab, ohne dass die Einkommen der geschiedenen Frauen im gleichen Masse gestiegen sind – sie haben heute ein tieferes Haushaltseinkommen als in den 1990er-Jahren. Anstatt diese bestehenden Ungleichheiten anzugleichen, spitzt das Bundesgericht diese zu.
Diese Ungleichheiten auszugleichen und einen Ersatz für die wegfallenden Unterhaltszahlungen zu finden, wäre dann die Aufgabe der Politik. Ist das Bundesgerichtsurteil vielleicht ein Weckruf für die Politik, mit der Gleichstellung endlich vorwärtszumachen?
Da bin ich pessimistisch. Warum sollen genau diese Urteile jetzt die Politik dazu motivieren, endlich solidarisch mit Müttern zu sein? In der Schweiz befinden wir uns mit der Finanzierung der Betreuungsarbeit international auf einem sehr tiefen Niveau und seit Jahren fehlt der politische Wille, daran etwas zu ändern.
Irgendwie scheint es zur Schweizer DNA zu gehören, dass Kinderbetreuung Privatsache und nicht eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Und solange sich das nicht ändert und wir nicht bereit sind, Milliarden zu investieren, sehe ich wenig Anlass für Optimismus.
Nehmen wir aber an, der Wille wäre da. Was muss sich politisch ändern?
Erstens müssen wir analog zu den Betreuungsgutschriften weitere Mechanismen einführen, die dazu führen, dass unbezahlte Care-Arbeit in den Sozialversicherungen berücksichtigt wird, Stichwort Rentenlücke. Diese existiert dank den Betreuungsgutschriften zwar in der AHV kaum noch, dafür aber in der Pensionskasse.
Und weil die AHV nicht existenzsichernd ist, müssen wir auch bei der Pensionskasse dafür sorgen, dass geleistete Betreuungsarbeit rentenbildend ist. Es gibt zwar den Vorsorgeausgleich in der Pensionskasse, bei einer Scheidung werden also die Rentenguthaben hälftig geteilt. Aber wenn die Scheidung noch während des Berufslebens stattfindet, reicht das nicht aus.
Zweitens brauchen wir eine bessere Finanzierung von ausserfamiliären Betreuungsangeboten wie Tagesschulen und Kitas, die für alle bezahlbar sind und gute Arbeitsbedingungen für die Betreuer*innen garantieren.
Und dann braucht es eine Elternzeit, mit der die Gesellschaft solidarisch die Betreuung der Kleinkinder finanziert. Aber selbst in einer idealen Welt mit all diesen Verbesserungen wären die Urteile des Bundesgerichts nicht gerecht, weil es unbezahlte Betreuungsarbeit nicht als Leistung anerkennt.
Im Kanton Zürich entscheidet die Stimmbevölkerung am 15. Mai über eine Elternzeit von je 18 Wochen für Mutter und Vater. Die EKdM lehnt ein solches paritätisches Modell ab. Warum?
Fast alles ist besser als der Status quo und die Initiative bringt insgesamt mehr bezahlte Wochen, das ist natürlich zu begrüssen. Wir von der EKdM finden aber problematisch, dass das Zürcher Modell den Mutterschaftsurlaub in die 18 Wochen miteinrechnet, was dazu führt, dass Mütter weniger von der Elternzeit profitieren als die Väter.
Aus unserer Sicht müsste die Elternzeit zusätzlich zur Mutterschaftsversicherung eingeführt werden, weil Letztere vor allem die gesundheitlichen Aspekte berücksichtigt. Mütter sind schwanger, gebären und stillen die Kinder – sie sind mehr als Eltern. Eine paritätische Elternzeit macht die spezifische Erfahrung des Mutterwerdens unsichtbar, weil sie diese mit dem Vaterwerden gleichsetzt.
Aber würde das Modell nicht zumindest dazu führen, dass Väter mehr Betreuungsarbeit zu Hause übernehmen?
Die Erfahrungen der letzten 50 Jahre lassen mich daran zweifeln. Diese Umverteilung der Betreuungsarbeit zwischen den Geschlechtern ist ein Ziel der feministischen Bewegung seit den 1970er-Jahren, doch bis heute ist das kaum passiert.
Was hingegen passiert ist, ist eine Umverteilung von Frauen zu Frauen – von unbezahlter Haus- und Betreuungsarbeit zu schlecht bezahlten Putzkräften oder Kitamitarbeiter*innen.
Wie müsste dann die Elternzeit aus Ihrer Sicht ausgestaltet sein?
Wie bereits gesagt, müsste die Elternzeit zusätzlich zum Mutterschaftsurlaub beziehbar sein. Sie müsste mindestens ein Jahr dauern und auch nicht erwerbstätige Eltern sollten ein Recht auf Elternzeit haben. Weiter sollten die Wochen flexibel unter den Eltern aufteilbar und auch ein Bezug in Teilzeit möglich sein. Die Politik muss anerkennen, dass es sich bei der Frage, wer die Betreuungsarbeit übernimmt, auch um eine Klassenfrage handelt: Paare organisieren sich so, wie es für sie ökonomisch Sinn macht.
Wenn sich eine Frau entscheidet, Betreuungsarbeit zu leisten und nebenbei Teilzeit zu arbeiten, macht sie das nicht, weil sie noch nichts von der Emanzipation gehört hat, sondern weil das für sie und für die Familie die sinnvollste Lösung ist, auch ökonomisch.
Studien zeigen, dass Parität vor allem der Wunsch von gut ausgebildeten und gutverdienenden Frauen ist – und für sie soll sie auch unbedingt möglich sein. Frauen im Niedriglohnsektor wie im Verkauf oder in der Gastronomie leben bereits heute häufig paritär – beide Elternteile müssen Vollzeit arbeiten, um über die Runden zu kommen.
Für sie ist das aber kein Ideal, sondern eine Zumutung. Sie wünschen sich mehr Zeit für die Kinder und weniger Arbeit insgesamt. Deswegen muss die unbezahlte Betreuungsarbeit ins Zentrum gestellt und endlich auch gesellschaftlich wertgeschätzt und bezahlt werden.
Parität kann dann eine Konsequenz aus der Elternzeit, muss aber nicht deren Ziel sein.
Dieses Interview ist zuerst bei der P.S.-Zeitung erschienen. Die P.S.-Zeitung gehört wie Das Lamm zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 8 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 676 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 280 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 136 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?