Hört auf mit eurem prole­ta­ri­schen Cosplay!

Für wohl­ha­bende Menschen ist Politik ein Hobby, bis sie sich ihren Karrieren zuwenden. Doch für wen Politik ein Spiel ist, hat in ihr nichts zu suchen. Eine Polemik. 
Hauptsache, die Markenjacke sieht cool aus. (Bild: Kira Kynd/Midjourney)

Es gibt ein Buch, dessen Sprach­ge­walt und Dring­lich­keit mich beim Lesen zutiefst erschrocken hat. In „Müll­mann auf Scha­fott“ vom alge­risch-fran­zö­si­schen Schrift­steller Abdel Hafed Benotman geht es um Faraht, genannt Fafa, der in einer armen alge­ri­schen Familie in Paris aufwächst und auf die schiefe Bahn gerät.

Am Ende des Buches, Vorsicht: Spoiler, landet Fafa in einem Pariser Jugend­ge­fängnis – und spürt, als er seine Zelle betritt, ein unbän­diges Gefühl von Frei­heit. Das erste Mal in seinem Leben hat er einen eigenen Raum nur für sich. In der Passage heisst es:

Im Gefängnis fühlt sich Fafa so frei wie noch nie. Er macht den Fehler, die Gefäng­nis­rea­lität mit seiner Erfah­rung als miss­han­deltes Kind zu verglei­chen. Er glaubt, dass er fertig ist mit dem Schmerz, dem Leid und endlich Frieden finden kann. Dass niemand, noch nicht einmal er selbst, ihm etwas anhaben kann. Er kennt die Gefahr noch nicht, das äussere Gefängnis mit der inneren Frei­heit zu vermi­schen. Diese Ehe bringt Hybrid­wesen hervor, und weil das Gefängnis das Leben noch im härte­sten Keim hasst, gebärt es nichts als Monster.

Diese Zeilen am Ende der Geschichte um Fafa haben mich weinen lassen. So, dachte ich, kann nur jemand schreiben, der weiss, wovon er spricht. Eine solche Wahr­heit lässt sich nicht ausdenken. Es ist unmög­lich, derar­tige Lite­ratur zu produ­zieren, ohne diese Gefühle selbst gespürt, ohne diese Gedanken selbst gedacht zu haben.

Ich recher­chierte Benot­mans Geschichte und erfuhr, dass er 2015 mit 54 Jahren an Krebs gestorben war. Davor verbrachte er wegen Raub­über­fällen insge­samt 17 Jahre seines Lebens im Gefängnis. Aber nicht nur das, er enga­gierte sich gegen Rassismus und war Heraus­geber einer Gefängnis-kriti­schen Zeitung namens L’Envolée (dt. der Flug).

Benotman war nicht nur weite Teile seines Lebens mili­tant, er ist auch ein poli­tisch enga­gierter Künstler gewesen, der sein Leben in den Dienst des gesell­schaft­li­chen Kampfes gestellt hat.

Etwas derart Drasti­sches erlebt zu haben und es dann noch auf eine so eindring­liche Weise zu verar­beiten, macht Benotman zu einer seltenen Spezies. Für den normalen Künstler oder poli­tisch inter­es­sierten Menschen sind die Kosten eines solch extremen Lebens zu hoch.

Die Ästhetik der Militanz

Heute wächst auf der einen Seite der Wunsch nach poli­ti­schem Ausdruck, etwa in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst- und Kultur­welt. Auf der anderen Seite fällt den meisten Leuten Enga­ge­ment schwer. Das Ergebnis: Man versteht sein Leben als ein poli­ti­sches – aber macht daraus nichts.

Der Histo­riker Anton Jäger schlägt für das Phänomen des mit Bedeu­tung und poli­ti­schem Bewusst­sein aufge­la­denen Alltags den Begriff der „Hyper­po­litik“ vor. Im gleich­na­migen Buch schreibt Jäger, dass die Atomi­sie­rung und Beschleu­ni­gung Hand in Hand gehen: „Die Menschen sind im neuen Jahr­hun­dert einsamer, auch aufge­regter; atomi­sierter, aber auch vernetzter; wütender, aber auch verwirrter.“

Wie es Benot­mans Lebensweg zeigt: Mili­tanz verdammt einen zu einem Leben am äusser­sten Rand der Gesellschaft. 

Hyper­po­litik nach Jäger habe die Wirkung einer Neutro­nen­bombe. „Eben noch demon­strierten Tausende Menschen auf einem Platz – schon sind sie wieder verschwunden, doch die Probleme und Macht­ver­hält­nisse sind immer noch da bzw. unver­än­dert intakt.“

Mit „Hyper­po­litik“ ist Jäger eine tref­fende Zeit­dia­gnose gelungen. Schaut man sich an deutsch­spra­chigen Univer­si­täten und im progres­siven kultu­rellen Milieu um, ist die Politik überall – und zugleich nirgendwo. Wie viele Studie­rende, in der Black-Block Ästhetik gekleidet, die Univer­si­täten bevöl­kern, deren Klei­dung sugge­riert: Hier meint es jemand absolut ernst. Wie viele Frontkämpfer*innen auf Insta­gram, aber wie wenige, die wirk­lich lang­fri­stig orga­ni­siert sind.

Es ist das Gegen­teil von dem, wofür Benotman steht. Die Ästhetik der Mili­tanz zu benutzen anstatt mili­tant zu sein. Denn wie es Benot­mans Lebensweg zeigt: Mili­tanz verdammt einen zu einem Leben am äusser­sten Rand der Gesell­schaft. Die modernen Grossstädter*innen unter 35 wollen die Bedeu­tung eines kompro­miss­losen Lebens, aber der Preis eines kompro­miss­losen Leben ist ihnen zu hoch.

Was da wartet: Gefängnis, Schulden, ein verfrühter Tod, das wollen sie nicht – und das ist verständ­lich. Für die meisten gibt es die Möglich­keit frei zu entscheiden, welcher Lebensweg genommen wird, viel­leicht anders als bei Benotman.

Auf die Gefahr, Leser*innen über einen Kampf zu scheren, machen wir den Text eine Nummer persön­li­cher. Wer sich nach kriti­scher Selbst­über­prü­fung nicht gemeint fühlt, hört jetzt weg.

Ihr wollt nicht die Verlet­zungen, die körper­liche Arbeit einem zufügt, ihr wollt die Ästhetik der Hand­wer­ker­hose und des Kara­bi­ners an der Hose, an dem ihr eure Schlüssel befe­stigt, weil sie euch etwas Boden­stän­diges geben. Ihr wollt die Adidas­trai­nings­hose, die gerade nach dem biss­chen sexy Preka­riat riecht, zu dem ihr immer genug Abstand halten könnt. Ihr geht am Wochen­ende aus einem frei­heit­li­chen Verständnis in die Second-Hand-Läden – nicht weil ihr darauf ange­wiesen seid. Die, die darauf ange­wiesen sind, die können sich euret­wegen die Klamotten dort nicht mehr leisten.

Ihr zitiert lieber, als dass ihr tatsäch­lich etwas darstellt. Wenn ihr in eurer Kunst von „Kompli­zen­schaft“ sprecht, von „bildet Banden“, von „Konspi­ra­tion“ dann meint ihr nicht Kompli­zen­schaft, Banden und Konspi­ra­tion, ihr meint Treffen mit befreun­deten Künstler- und Sexualpartner*innen. Denn wer tatsäch­lich Banden bildet, der spricht nicht darüber, der lungert mit der Bande. Wer konspi­rativ agieren muss, weil seine Akti­ons­form ihm das diktiert, der trötet es nicht in die Welt. Wer Kompli­zen­schaft sucht, der findet sie bei denje­nigen, die handeln – und darüber schweigen.

Es ist okay, dass ihr seid, was ihr seid: Gross­ge­wor­dene Kinder aus dem Bürgertum, die versu­chen, ihr Leben mit Bedeu­tung aufzuladen. 

Das alles ist eure Sache nicht und das ist okay. Wir brau­chen keine Hundert­tau­senden mili­tanten Revolutionär*innen, als die ihr euch ausgebt. Denn ihr wollt nicht Gaspi­stolen aufbohren und mit ihnen losziehen, um Geld für „Revo“ zu erbeuten, ihr wollt Leute, die hören, wie ihr „Revo“ sagt. Wie ihr es sagt, nicht wie ihr es macht. Weil dieje­nigen, die es machen, im Unter­grund sind, in der von Benotman so eindring­lich beschrie­benen Einzel­zelle, im Asyl. 

Es ist okay, dass ihr seid, was ihr seid: Gross­ge­wor­dene Kinder aus dem Bürgertum, die versu­chen, ihr Leben mit Bedeu­tung aufzu­laden. Dass viele von euch in den näch­sten zehn Jahren Erben werden. Dass ihr Hausbesitzer*innen werdet und nicht Hausbesetzer*innen. Dass ihr für eure Kinder in „grüne“ Fonds anlegt, dass ihr Lasten­räder kauft und E‑Autos und dafür keinen Kredit aufnehmen müsst.

Politik ist kein Hobby

Das hier ist kein „Wie checke ich meine Privilegien“-Text, das ist ein „Macht euch wahr“-Text.  Und wenn dieses Wahr­ma­chen ausser­halb poli­ti­scher Arbeit oder poli­ti­scher Kunst liegt, dann macht euch besser früher wahr als später. Eine sozial enga­gierte Lite­ratur braucht nicht noch weitere Tausende Autor*innen, die ihr Schreiben mit poli­ti­scher Sprache aufladen, dann aber nicht liefern. Poli­ti­sche Gruppen brau­chen nicht noch mehr Menschen, die sugge­rieren, auf der Seite der Beherrschten zu stehen und Worte der Beherrschten benutzen, um sich dann, wenn es eng wird, verbe­amten zu lassen oder in den bürger­li­chen Unibe­trieb zu retten.

Für wen Politik ein Spiel ist, hat in ihr nichts zu suchen. Politik ist die Entschei­dung über Leben und Tod. Wer darf an den EU-Aussen­grenzen rein und wer muss im Schlauch­boot ersaufen? Welches Milieu lässt auf dem Bau sein Leben, wenn es von Baggern zerdrückt, oder vom Bauge­rüst gepu­stet wird? Bei wem ist die psychi­sche Erkran­kung vorbe­stimmt und bei wem ist sie Ausdruck eines verschwen­de­ri­schen Lebens­stils? Hinter diesen Fragen steckt Politik und mit Politik schmückt man sich nicht.

Meine Tante, die jahr­zehn­te­lang mili­tante Politik gemacht hat, erzählt heute noch von dem Moment, in dem sie verstanden hat, dass Politik für die wohl­ha­benden Frauen aus ihrer Gruppe ein Hobby gewesen ist, bevor sich eine nach der Anderen für ihre Karrieren entschieden hat. Für sie war diese Erfah­rung ein Verrat. Heraus­zu­finden, dass Menschen sagen können: Haus­be­set­zung ja, aber bitte nicht in der wohl­ha­benden Strasse meiner Eltern – das ist für sie eine Frech­heit. Und ich kann sie verstehen.

Hört auf mit eurem prole­ta­ri­schen Cosplay, zieht euch die tatsäch­li­chen Klamotten eures Milieus an, in das ihr euch zurück­zieht, sobald der Gegen­wind ein biss­chen stärker weht.

Also, macht euch locker. Schreibt Yuppie­li­te­ratur. Lebt euren Hedo­nismus. Teilt Peti­tionen. Und schämt euch dafür nicht, Scham ist nur von Unten eine sozial rele­vante Kate­gorie. Der Scham des Bürger­tums ist – ähnlich wie das Spre­chen über Privi­le­gien – Teil eines Ablass­han­dels, der da lautet: Ich schäme mich, dafür behalte ich meine soziale Posi­tion, die mir Dinge erlaubt, die dir nicht zustehen. Ich checke meine Privi­le­gien und versuche sie zu teilen, aber nur unter meinen Bedin­gungen und meist nicht dann, wenn es darauf ankommt.

Oder macht alles ganz anders. Bei Gott, es gibt einen grossen Anteil in mir, der nicht mehr Teil konstruk­tiver Gespräche sein will. Und dieser Teil, der will diese verdammten Banden endlich sehen, der will die ange­kün­digte, aber nicht gelie­ferte Mili­tanz, der will die Gewalt. Aber dieser Teil in mir steht jeden Tag wie ein Kind an der Bushal­te­stelle und wird nicht abgeholt.

Es gibt übri­gens noch einen Mittelweg, einen Weg zwischen den radi­kalen Benot­mans und dem Weg des So-tun-als-ob. Er lautet: Hört auf mit eurem prole­ta­ri­schen Cosplay, zieht euch die tatsäch­li­chen Klamotten eures Milieus an, in das ihr euch zurück­zieht, sobald der Gegen­wind ein biss­chen stärker weht.

Sucht euch ein (meinet­wegen poli­ti­sches) Projekt und arbeitet in dem, was ihr macht, ernst­haft und strin­gent an einer besseren Welt. Nicht bis ihr eine*n Partner*in gefunden habt, oder euch mit dreissig zu alt fühlt dafür, sondern als veran­kerter Teil der eigenen Iden­tität. Ich würde dann meiner­seits die Polemik einstellen. Haben wir einen Deal?


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