Holo­caust­über­le­bende: Eine Risi­ko­gruppe für sich

Die Corona-Pandemie trifft Europa in einem Gedenk­jahr. 75 Jahre liegt das Kriegs­ende zurück. Veran­stal­tungen, die an die Shoa erin­nern, fallen wegen des Ansteckungs­ri­sikos aus. Aber das Virus bedroht mehr als nur ein paar Vorträge: Es ist eine existen­zi­elle Bedro­hung für die letzten Holocaustüberlebenden. 
Der Arm von Nina Weil
Nina Weil hat Auschwitz überlebt. Jetzt muss sie in ihrer Wohnung bleiben - wegen COVID-19 (Foto: zvg).

Sein bester Freund aus Kinder­gar­ten­zeiten sei soeben an COVID-19 verstorben. Der Mann erzählt, wie die beiden Freunde einander durch die Schrecken des Zweiten Welt­kriegs geholfen hatten, wie sie den Kontakt später über zwei Konti­nente hinweg aufrecht­erhalten konnten, wie sie die alljähr­li­chen Skife­rien zusammen verbrachten und wie schmerz­haft sich dieser Verlust jetzt anfühlt.

Er nimmt sich viel Zeit, um alles zu erzählen, und Anita Winter hört zu. Es ist nur einer von vielen Anrufen von Holo­caust­über­le­benden, die sie und ihr Team von der Stif­tung Gama­raal in diesen Tagen entge­gen­nehmen. „Wir nennen das Besuche per Telefon“, erklärt Winter am Telefon. „Die meisten möchten einfach mit jemandem reden – über ihren Alltag, über ihre Ängste und über ihre Sorgen.“ Besu­chen kann die hoch­be­tagten Personen niemand mehr.

Die Stif­tung Gama­raal unter­stützt seit 2014 Holo­caust­über­le­bende in der Schweiz. Sie orga­ni­siert Schul­be­suche, führt Ausstel­lungen durch (teils auch umstrit­tene) und leistet finan­zi­elle Hilfe an Über­le­bende. Denn: Laut Schät­zungen der Jewish Claims Confe­rence, welche Forde­rung zur Wieder­gut­ma­chung für Holo­caust­über­le­bende geltend macht, lebt etwa die Hälfte aller Holo­caust­über­le­benden in Armut. Jetzt, während der Corona-Pandemie, führt die Gaama­raal-Stif­tung zusätz­lich eine Hotline und orga­ni­siert mit Dutzenden Frei­wil­ligen in der ganzen Schweiz die Einkäufe für die Über­le­benden. „Wir erleben gerade eine unglaub­liche Generationensolidarität.“

Viele Über­le­bende hätten schon weit schlim­mere Zeiten über­lebt, in Armut, oftmals ohne warme Kleider oder Essen. „Der Durch­hal­te­wille dieser Gene­ra­tion ist einfach bewun­derns­wert“, sagt Anita Winter. Als Tochter einer Deut­schen Holo­caust­über­le­benden und eines Zeit­zeugen der Berliner Pogrome 1938 weiss sie, wovon sie spricht. Ihre Mutter ist Anfang Jahr verstorben, ihr Vater 2019.

Laut offi­zi­eller Stati­stik leben rund 450 Holo­caust­über­le­bende in der Schweiz. Es sind vor allem Deut­sche, Ungar*innen, Slowak*innen, Tschech*innen. Von den 391 Schweizer*innen, die in einem Konzen­tra­ti­ons­lager inter­niert waren, hatten mehr als die Hälfte die Folter nicht über­lebt. Doch die Dunkel­ziffer ist laut Winter gross. Über­le­bende zu errei­chen, sei nicht einfach: Viele wollen sich nicht als Holo­caust­über­le­bende sichtbar machen. „Das hat für sie schon einmal das Todes­ur­teil bedeutet, weil sie dann auf einer Liste gelandet sind.“

Heute gehören die Holo­caust-Über­le­benden wieder zur Risi­ko­gruppe. COVID-19 ist nicht nur bedroh­lich für die Einzel­per­sonen, die sich jetzt in ihren Wohnungen verschanzen müssen. Auch für die Erin­ne­rungs­kultur, die erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Aufar­bei­tung der Shoa, ist das Virus einschneidend.

So waren für dieses Jahr, 75 Jahre nach Kriegs­ende, überall in Europa Gedenk­feiern, Vorträge und Bildungs­ver­an­stal­tungen geplant. „Wir mussten wegen der Corona-Pandemie viele Schul­be­suche von Über­le­benden und Veran­stal­tungen absagen, etwa unsere Ausstel­lung in Schaff­hausen“, sagt Anita Winter. Den Besuch des ehema­ligen Konzen­tra­ti­ons­la­gers Bergen-Belsen mit Über­le­benden musste Winter auch verschieben, vorerst auf den 14. Juni. „Den Betrof­fenen setzt der Entscheid sehr zu, sie wollten sich ein letztes Mal treffen.“

Die Gedenkstätte für das Konzentrationslager Buchenwald in Weimar
Die Gedenk­stätte des KZ Buchen­wald kann wegen COVID-19 nicht besucht werden (Foto: Wikicommons).

Auch bei den Gedenk­stätten des Konzen­tra­ti­ons­la­gers Buchen­wald und Mittelbau-Donau in Weimar fallen Gedenk­ver­an­stal­tungen aus. Der Stif­tungs­di­rektor sagt dazu im Inter­view: „Uns war klar, dass dieser Jahrestag den Abschied der Über­le­benden markiert.“ Es wären noch­mals 42 Über­le­bende gekommen, die meisten über 90 Jahre alt. Jetzt fallen alle Veran­stal­tungen wegen der Corona-Pandemie aus. „Das schmerzt, insbe­son­dere in einer Zeit, in der rechtes Gedan­kengut erneut an Popu­la­rität gewinnt.“ Dass das nicht nur leere Worte sind, zeigen die verschie­denen anti­se­mi­ti­schen Verschwö­rungs­theo­rien zum Coro­na­virus, die gerade durch die sozialen Medien geistern.

Erin­ne­rung an die Typhus-Epidemie 1943

Nina Weil, 88 Jahre alt, konnte Anfang Jahr das KZ Ausch­witz zum Jahrestag der Befreiung gerade noch besu­chen. Zusammen mit Bundes­prä­si­dentin Simo­netta Somma­ruga und weiteren Über­le­benden beging sie im Januar das Konzen­tra­ti­ons­lager. Wohl zum letzten Mal.

Bilder von diesem Besuch, die hunderte hoch­be­tagte Menschen mit inein­ander verschränkten Armen zeigen, scheinen wie aus der Zeit gefallen. Nina Weil bleibt jetzt zu Hause – „ausser, wenn ich niemanden auf der Strasse sehe, dann laufen wir manchmal kurz ums Haus“, erzählt die gebür­tige Tsche­chin am Telefon. Anson­sten bleiben sie und ihr Ehemann in der Wohnung, bei schönem Wetter könne man sie aber auf ihrem kleinen Balkon sitzen sehen.

Von ihrer Lebens­ge­schichte, ihrer Kind­heit in Prag, der Depor­ta­tion ins Ghetto There­si­en­stadt, von der Aussor­tie­rung durch Josef Mengele in Ausch­witz und den Todes­mär­schen: Davon kann sie im Moment nur per Telefon erzählen. An öffent­liche Vorträge und an Besuche in Primar­schulen und an Fach­hoch­schulen ist wegen der Ansteckungs­ge­fahr nicht zu denken.

Dabei hat Weil viel zu erzählen – auch zur Corona-Pandemie. „Die Situa­tion erin­nert mich an die Flecken­ty­phus-Epidemie im Ghetto von There­si­en­stadt 1943“, sagt Weil. Damals lebte sie in einem Kinder­heim; ihr Mutter war in einer der unzäh­ligen Kasernen einquar­tiert. „Wir schliefen auf drei­stöckigen Holz­prit­schen, immer fünf Leute auf einer Ebene.“ Überall habe es nur so von Wanzen gewim­melt, welche die Kinder im Schlaf wund bissen. „So brei­tete sich der Typhus rasant aus.“ Typhus führt zu krampf­haften Bauch­schmerzen, Fieber und Husten, und ist heute, dank Impfungen, in der Schweiz fast voll­ständig ausgerottet.

Eine Zeichnung von Etagenbetten im Ghetto Theresienstadt
„Wir schliefen auf drei­stöckigen Holz­prit­schen, immer 5 Leute auf einer Ebene“. Gemälde von Fran­tišek Mořic Nágl, 1942 (CC by Wikicommons).

Die Bewohner*innen des Ghettos There­si­en­stadt hatten aber keinen Zugang zu Impfungen, und die acht­jäh­rige Nina Weil musste ins einzige Spital im Ghetto gebracht werden. Im September 1942 waren dort 58’000 Menschen inter­niert, auf einer Fläche, die vor der Besat­zung gerade einmal 7’000 Menschen bewohnt hatten. Wie viele Menschen der Typhus-Epidemie in There­si­en­stadt erlagen, ist schwer abzu­schätzen, aber eine Zahl ist bekannt: In den letzten Kriegs­tagen und ersten Frie­dens­wo­chen starben über 1’500 ehema­lige Inter­nierte aus There­si­en­stadt an Typhus und anderen Infektionskrankheiten.

Die Situa­tion sei drama­tisch gewesen, erin­nert sich Weil. „Meine Mutter meldete sich frei­willig als Kran­ken­schwe­ster und spen­dete mir Blut.“ Inner­halb von vier Wochen konnte sie das Spital verlassen. Kurze Zeit später wurde sie mit ihrer Mutter ins Konzen­tra­ti­ons­lager Ausch­witz abtransportiert.

„Es braucht noch viel Erinnerungsarbeit”

Heute hat sie nur noch mit wenigen anderen Holo­caust­über­le­benden Kontakt, etwa mit ihrem Cousin in Manche­ster. „Wir schreiben uns zweimal im Jahr. Er kann kein Deutsch und ich kein Englisch, deswegen müssen wir unsere Briefe jeweils über­setzten lassen“. Anson­sten aber seien viele Über­le­bende bereits gestorben. „Wissen sie, mit 88 bin ich eine der jüng­sten Über­le­benden. Nur wenige Kinder haben Ausch­witz lebend verlassen“.

Nina Weil ist über­zeugt, dass es noch viel Arbeit braucht, damit auch bei den kommenden Gene­ra­tionen das Bewusst­sein für die Verbre­chen des Zweiten Welt­kriegs fort­be­steht. „Für viele junge Menschen ist Ausch­witz zeit­lich etwa so weit entfernt, wie für mich die Erobe­rungs­kriege von Napo­leon“, sagt Weil. Das Virus verdränge jetzt die Erin­ne­rung an Ausch­witz, den Holo­caust. „Niemand möchte die alten Geschichte hören, wenn jeden Tag so viel Neues passiert.“

Ob sie nach der Corona-Pandemie wieder an Schulen ihre Lebens­ge­schichte erzählen wird? „Wir werden sehen, ich gehe davon aus, dass wir bis Ende Jahr mit Corona zu kämpfen haben“, meint sie nach­denk­lich. Gesund­heit sei jetzt das Aller­wich­tigste für sie und ihren 96-jährigen Ehemann. „Alles Weitere schauen wir dann, wenn das Virus vorbei ist.“


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