Ich will nicht damit rechnen müssen!

Wenn man mir zu nahe kommt, wehre ich mich. Eine Freundin gratu­lierte mir dazu stell­ver­tre­tend für alle andere Frauen. Aber wie viel Wider­stand ist ange­messen in einer unan­ge­mes­senen Situation? 
Symbolbild (Foto: Jason Kuffer)

Er setzt sich direkt mir gegen­über ans Fenster im Vierer­ab­teil. Alt, unter­setzt, einsam. Es sind gerade einmal sieben Menschen im glei­chen Wagen, es gäbe also genug andere Plätze. Auch am Fenster. Obwohl aus dem Fenster zu schauen im Dunkeln eh nicht so hot ist. Gleich file­tiert er mich, frisst er mich auf, denke ich. Wie furchtbar schwei­ze­risch dieser Gedanke doch ist!

Seine Kinder haben ihm sicher sein erstes Smart­phone geschenkt und er ist heillos über­for­dert, wie er das schicke Gerät auf der Höhe seiner Augen hält, die Arme im rechten Winkel zum Körper. Der arme Mann.

Ich erhalte eine SMS, ob ich zum Opening des 25hours-Hotel komme, da steppe der Bär und es sei ja quasi auf meinem Heimweg. Dann kommt ein unscharfes Selfie eines rührend besof­fenen Freundes. Ich sage ab, schalte mein Handy in den Flugmodus.

Als ich wieder aufschaue, hält der Mann mir gegen­über sein Telefon immer noch hoch, dann quer, dabei beugt er sich zu mir nach vorne und lehnt sich wieder zurück. Er grinst ganz ekel­haft. Oha, er will mich offenbar nicht file­tieren, er hat mich gefilmt! Du armer, verzwei­felter, unter­setzter, notgeiler Arsch, denke ich, stehe auf, flüchte in den vorderen Wagen und setze mich zu einem Mann mit sanftem Blick ins Abteil.

00:05, Bahnhof Altstetten. Ich steige aus und schaue kurz zurück. Er kommt aus der Türe hinter mir. Wo sind die auf Krawall gebür­steten Jugend­li­chen, wenn man sie braucht?

„Ich kenne Sie“, ruft er mir zu. Späte­stens jetzt wird es unge­müt­lich. Ein Fan? Ein Spinner? Die Tren­nung ist im Kultur­be­trieb immer etwas unscharf.

Ich bleibe stehen, er schliesst auf, bis er dicht vor mir steht. Stolz zeigt er mir sein verwackeltes Video. Jetzt müsste ich gehen, aber ich kann nicht. Das Blut schiesst mir in den Kopf. Meine Hände zucken. Er packt mich am linken Oberarm, hält mich mit der Stur­heit eines Hundes, der sich in einem Ball fest­beisst und nicht loslässt, bis er diesen zerfetzt hat. Ich balle die Faust, bis sie ganz weiss ist, hole aus und schlage ihn in den Bauch. Er schwankt, krümmt sich. Wenn er auf die Gleise fallen würde, wäre es mir ganz angenehm.

Meine Hand sei verstaucht, meint der Apotheker. Der erste, dem ich am näch­sten Tag vom Vorfall erzähle. Er bringt Verbände. Rote, grüne und blaue. Toll! Wunderbar! Ich lache hyste­risch. Dann muss ich mir gar kein Opfer-Schild mehr um den Hals hängen! Er hat noch einen schwarzen. Der passe gut zu meinem roten Nagel­lack. Der Apotheker verbindet mir die Hand. Da schnürt sich mein Hals zu, bis ich keine Luft mehr bekomme. Ich japse und weine für zwei Minuten heftig. Conten­ance, Zukker! (Der Nagel­lack heisst übri­gens „Unrep­en­tantly Red“). Der Apotheker legt den Kopf mitleidig zur Seite.

Abends bin ich zum Essen beim Japaner verab­redet. Ich will keine dunkle Stim­mung verbreiten. Aber essen Sie mal mit Stäb­chen, wenn die Hand einge­bunden ist! Unter dem Tisch wickle ich meine Hand aus dem Verband. Zu spät. Meine Freundin mir gegen­über fragt, was passiert sei. Fast lüge ich: Sehnen­schei­den­ent­zün­dung vom Schreiben! Nein, jetzt muss ich erzählen und die Spirale durch­bre­chen. Ich trage keine Schuld! Dieses Wegigno­rieren schlägt sonst früher oder später zurück, und dann werde ich manisch oder depressiv.

Nüch­tern fasse ich zusammen wie in einem Proto­koll, die Freunde und Freun­dinnen am Tisch schau­dert es. Ich höre mir beim Reden von aussen zu, als hätte das alles nichts mit mir zu tun. Die Freundin gratu­liert mir! Man möchte hoffen, dass dieses Schwein sowas nie wieder mache mit anderen Frauen. Den zwei Männer am Tisch fällt das Essen zwischen den Stäb­chen auf den Teller. Ich trinke viel gegen die Leere und das wattige Ohnmachts­ge­fühl und rede über anderes. Was kann man dazu noch sagen? Ich fühle mich einsam in der Runde, die Einsam­keit in Gesell­schaft ist eines der häss­lich­sten Gefühle über­haupt. Ich bin abge­trennt und langsam wächst sie, die Wut, die Verzweif­lung, dass ich es hinnehmen muss, was geschah, was bleibt mir anderes übrig.

Auf dem Weg nach Hause fühle ich mich, als würde ich eine offene eiternde Wunde durch die Gegend tragen. Die Menschen wech­seln die Stras­sen­seite, genauer hinsehen will man dann doch nicht. Gleich­zeitig fühlt es sich ledrig an, weil es mir nicht zum ersten Mal passiert ist, dass man sich über mich hinweg­setzte. Da ist mir weiss Gott schon Furcht­ba­reres wider­fahren. Was den gest­rigen Abend in einer absurden Dimen­sion rela­ti­viert. Aber zum ersten Mal habe ich mich gewehrt. So leicht ging mir der Schlag von der Hand.

Es wird einen Moment dauern, bis ich wieder zurecht­komme. Bis dahin werde ich zum Boxtrai­ning gehen, mein Essen zwei Mal salzen, oder vier oder sechs Mal — jeden­falls muss es eine gerade Zahl sein. Und ich werde Listen schreiben auf denen auch Duschen und Schlafen steht. Haupt­sache, ich kann es von der Liste streichen.

Während ich diese Kolumne schreibe, kommt es mir vor, als sei dieser Abend eine Ewig­keit her, als wäre ich eine andere geworden. Eine, die wieder in der vollen S‑Bahn fahren kann, ohne Schweiss­aus­brüche zu bekommen, eine die stark ist, eine, die hinsieht und anklagt, weil wir es nicht zulassen dürfen, dass sich das Unrecht einschleicht, dass man als Frau damit rechnen muss. Damit darf man nicht rechnen.

Nur wenn ich nicht damit rechne, erschrecke ich mich. Nur dann kann ich mich wehren.

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