Es klopft an der Fensterscheibe. Ein Mann steckt den Kopf in Amelies Wohnung: Wie es komme, dass sie hier wohne? Und ob sie wirklich nur 100 Euro Miete zahle, will er wissen. Amelie sitzt in einer Ecke ihres Hauses, hält ein grosses Weizenbier in der Hand und gibt geduldig Antwort.
Dabei musste Amelie heute bereits viele Fragen beantworten. Zurzeit steht ihr Tiny House, ein Minihäuschen auf Rädern, nämlich mitten im Berliner Stadtteil Kreuzberg neben dem Kaffee A.horn. Jeden Donnerstag von 16 bis 19 Uhr empfängt Amelie Neugierige, die ihr Minihaus besichtigen wollen. Und das wollen viele. Denn das Haus hat auf 6,4 Quadratmetern einen kleinen Wohnbereich mit Küche, einen Arbeitsplatz, ein Schlafzimmer und ein kleines Bad mit Toilette. Der durchschnittliche Berliner braucht für dieselbe Ausstattung 40 Quadratmeter. Würden alle Berlinerinnen und Berliner so wenig Raum brauchen wie Amelie, könnten in der Stadt sechsmal mehr Leute unterkommen. Damit wäre nicht nur das Problem mit der Wohnungsnot gelöst, es könnte auch der Verbauung von wertvollem Kulturland und Naturraum Einhalt geboten werden.
An diesem Donnerstagabend ist das Häuschen durchgehend rappelvoll. In ein paar Tagen komme sogar das ZDF vorbei, erzählt mir Amelie. Die wollen eine kleine Homestory drehen. Bei ihrer bescheidenen Wohnfläche könne das aber wohl keine allzu lange Geschichte werden, sagt sie grinsend und ergänzt, dass sogar das Wissenschaftsmagazin Galileo über das Leben im Minihäuschen berichten wolle. Kaum hat sie das gesagt, klingelt ihr Telefon. Olga vom russischen Fernsehen ist dran. Auch sie bittet um eine Audienz im fahrbaren Minihäuschen.
Woher kommt dieses immense Interesse an einem Leben auf kleinstem Raum? Klar, nur schon der astronomisch tiefe Mietpreis ist eine kleine Attraktion, gerade in Berlin, einer von Wohnungsnot geplagten Stadt mit stetig steigenden Mietpreisen. Aber Amelie wohnt nicht nur hier, weil sie Geld sparen möchte. Sie fühlt sich auch sichtlich wohl in ihrem Häuschen. „Ich geniesse, dass alles, was ich brauche, auf kleinstem Raum beisammen ist. Wenn ich etwas will, muss ich oftmals nur den Arm ausstrecken und schon habe ich es“, sagt Amelie, lacht und greift nach ihrem Weizenbier.
Auch mir gefällt es in dem nach frischem Holz duftenden Minihaus. Ein bisschen fühlt man sich wie ein Kind, dem nun endlich der Traum von der eigenen kleinen Baumhütte erfüllt worden ist. Eine Hütte, die mit fast jedem Auto verschoben werden kann.
Doch ein Problem gibt es mit dem Minihaus: Stellplätze gebe es leider nicht wie Sand am Meer. Vor allem in den grossen Städten könne man sein Häuschen nicht einfach überall hinparkieren, erklärt mir Amelie. Aber schlussendlich liesse sich immer irgendetwas finden.
Ich frage mich, ob das einfache Leben in einem Tiny House kombiniert mit der Gewissheit, dass man jederzeit weiterziehen könnte, etwas mit der offensichtlichen Tiefenentspanntheit von Amelie zu tun hat. Zudem muss sie sich wohl nie Sorgen um das Geld für die nächste Miete machen. Die 100 Euro bringt man ja allemal irgendwie zusammen.
Das Tiny House wird mit Holz geheizt. Das schont unsere Erdölvorkommen. Da das Häuschen aber nur aus Aussenwänden besteht, wird es wohl mehr Energie verbrauchen als eine Wohnung von gleicher Grösse, die in ein Mehrfamilienhaus integriert ist. Und da man die fahrbaren Häuschen nicht aufeinanderstapeln kann, ist verdichtetes Bauen wohl eher schwierig. Aber auch dafür wird Amelie zusammen mit anderen Tiny-House-Begeisterten wohl noch eine Lösung finden.
Denn dieses eine Tiny House vor dem Kaffee A.horn ist nur der Anfang eines grösseren Projekts. Es ist ein erstes Wohnexperiment in einer fahrbaren Musterwohnung. Ab März soll dann auf dem Gelände des Bauhaus-Archivs in Berlin eine kleine Tiny-House-Siedlung entstehen. Zwanzig Häuschen sollen dort gebaut und ein Jahr lang bewohnt werden, um das Leben auf engstem Raum zusammen zu erproben. Doch dem Designer der Musterwohnung, Van Bo Le-Mentzel ist auch das noch nicht genug. Er will die Miniwohnungen in einem richtigen Haus um einen gemeinsam genutzten, sogenannten Co-Beeing-Space anordnen und damit den von der Wohnungsnot geplagten Städtern eine ganz neue und vor allem bezahlbare Wohnform anbieten.
Auch Amelie wird den Schritt von der Mieterin zur Hauseigentümerin machen und sich zusammen mit ihrem Freund auf dem Bauhaus-Campus ein eigenes Tiny House bauen. Dabei will sie immer die jeweils sinnvollste Variante wählen – handwerklich, aber auch ökologisch gesehen. Als Dusche möchte sie zum Beispiel einen Showerloop einbauen. Bei einem Showerloop wird das Wasser mehrmals rezykliert. Damit lässt sich der Wasserverbrauch um 90% und der Energieverbrauch um 70–90% reduzieren. Insgesamt werde sie das Tiny House zwischen 10’000 und 15’000 Euro kosten. Aber danach habe sie ein eigenes Heim, erklärt Amelie, und die Vorfreude darauf ist ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Wenn sie Gas gebe, werde sie das Haus in etwa zwei Wochen gebaut haben, erklärt sie den abendlichen Gästen.
Ob sie keine Angst habe, so alleine in einem kleinen Häuschen mitten auf der Strasse in Kreuzberg, will eine Besucherin als nächstes von ihr wissen. Man könnte doch etwas stehlen. Oder gar den ganzen Anhänger abschleppen, während sie schläft. Dieser Gedanke entlockt Amelie bloss ein herzhaftes Lachen. Dann greift sie zu ihrem Glas, lehnt sich zurück und gönnt sich einen weiteren Schluck von ihrem Weizenbier.
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