Ihre Wohnung ist so gross wie meine Küche — ans Umziehen denkt Amelie trotzdem nicht

In einigen Teilen von Berlin sind in den letzten Jahren die Mieten um 50% gestiegen. Amelie wohnt trotzdem für nur 100 Euro im Monat. Und das mitten in Kreuzberg. 
Der Spielmaster ist schon einmal begeistert: Claude Garcia präsentiert seine Idee (Foto: CC by D. Nef)

Es klopft an der Fenster­scheibe. Ein Mann steckt den Kopf in Amelies Wohnung: Wie es komme, dass sie hier wohne? Und ob sie wirk­lich nur 100 Euro Miete zahle, will er wissen. Amelie sitzt in einer Ecke ihres Hauses, hält ein grosses Weizen­bier in der Hand und gibt geduldig Antwort.

Tiny House von aussen
Das Tiny House steht noch bis Mitte März 2017 am Carl-Herz-Ufer 9 in Berlin, Kreuz­berg und kann dort besich­tigt werden. Designt wurde es von dem Archi­tekten Van Bo Le-Mentzel.

Dabei musste Amelie heute bereits viele Fragen beant­worten. Zurzeit steht ihr Tiny House, ein Mini­häus­chen auf Rädern, nämlich mitten im Berliner Stadt­teil Kreuz­berg neben dem Kaffee A.horn. Jeden Donnerstag von 16 bis 19 Uhr empfängt Amelie Neugie­rige, die ihr Mini­haus besich­tigen wollen. Und das wollen viele. Denn das Haus hat auf 6,4 Quadrat­me­tern einen kleinen Wohn­be­reich mit Küche, einen Arbeits­platz, ein Schlaf­zimmer und ein kleines Bad mit Toilette. Der durch­schnitt­liche Berliner braucht für dieselbe Ausstat­tung 40 Quadrat­meter. Würden alle Berli­ne­rinnen und Berliner so wenig Raum brau­chen wie Amelie, könnten in der Stadt sechsmal mehr Leute unter­kommen. Damit wäre nicht nur das Problem mit der Wohnungsnot gelöst, es könnte auch der Verbauung von wert­vollem Kultur­land und Natur­raum Einhalt geboten werden.

An diesem Donners­tag­abend ist das Häus­chen durch­ge­hend rappel­voll. In ein paar Tagen komme sogar das ZDF vorbei, erzählt mir Amelie. Die wollen eine kleine Home­story drehen. Bei ihrer beschei­denen Wohn­fläche könne das aber wohl keine allzu lange Geschichte werden, sagt sie grin­send und ergänzt, dass sogar das Wissen­schafts­ma­gazin Galileo über das Leben im Mini­häus­chen berichten wolle. Kaum hat sie das gesagt, klin­gelt ihr Telefon. Olga vom russi­schen Fern­sehen ist dran. Auch sie bittet um eine Audienz im fahr­baren Minihäuschen.

Besucher im Tiny House
Auch in ein kleines Häus­chen passen ein paar Besucherinnen.

Woher kommt dieses immense Inter­esse an einem Leben auf klein­stem Raum? Klar, nur schon der astro­no­misch tiefe Miet­preis ist eine kleine Attrak­tion, gerade in Berlin, einer von Wohnungsnot geplagten Stadt mit stetig stei­genden Miet­preisen. Aber Amelie wohnt nicht nur hier, weil sie Geld sparen möchte. Sie fühlt sich auch sicht­lich wohl in ihrem Häus­chen. „Ich geniesse, dass alles, was ich brauche, auf klein­stem Raum beisammen ist. Wenn ich etwas will, muss ich oftmals nur den Arm ausstrecken und schon habe ich es“,  sagt Amelie, lacht und greift nach ihrem Weizenbier.

Auch mir gefällt es in dem nach frischem Holz duftenden Mini­haus. Ein biss­chen fühlt man sich wie ein Kind, dem nun endlich der Traum von der eigenen kleinen Baum­hütte erfüllt worden ist. Eine Hütte, die mit fast jedem Auto verschoben werden kann.

Küche Bad und Gang
Koch­ni­sche, Gang mit Ofen und Klei­der­ab­lage, sowie das Badezimmer

Doch ein Problem gibt es mit dem Mini­haus: Stell­plätze gebe es leider nicht wie Sand am Meer. Vor allem in den grossen Städten könne man sein Häus­chen nicht einfach überall hinpar­kieren, erklärt mir Amelie. Aber schluss­end­lich liesse sich immer irgend­etwas finden.

Ich frage mich, ob das einfache Leben in einem Tiny House kombi­niert mit der Gewiss­heit, dass man jeder­zeit weiter­ziehen könnte, etwas mit der offen­sicht­li­chen Tiefen­ent­spannt­heit von Amelie zu tun hat. Zudem muss sie sich wohl nie Sorgen um das Geld für die nächste Miete machen. Die 100 Euro bringt man ja allemal irgendwie zusammen.

Schlafzimmer und Arbeitsplatz
Im Ober­ge­schoss ist der Schlaf­be­reich und das Arbeits­zimmer. Durch eine Ausspa­rung im Boden kann man die Füsse stecken um am Schreib­tisch zu arbeiten.

Das Tiny House wird mit Holz geheizt. Das schont unsere Erdöl­vor­kommen. Da das Häus­chen aber nur aus Aussen­wänden besteht, wird es wohl mehr Energie verbrau­chen als eine Wohnung von glei­cher Grösse, die in ein Mehr­fa­mi­li­en­haus inte­griert ist. Und da man die fahr­baren Häus­chen nicht aufein­an­der­sta­peln kann, ist verdich­tetes Bauen wohl eher schwierig. Aber auch dafür wird Amelie zusammen mit anderen Tiny-House-Begei­sterten wohl noch eine Lösung finden.

Denn dieses eine Tiny House vor dem Kaffee A.horn ist nur der Anfang eines grös­seren Projekts. Es ist ein erstes Wohn­ex­pe­ri­ment in einer fahr­baren Muster­woh­nung. Ab März soll dann auf dem Gelände des Bauhaus-Archivs in Berlin eine kleine Tiny-House-Sied­lung entstehen. Zwanzig Häus­chen sollen dort gebaut und ein Jahr lang bewohnt werden, um das Leben auf engstem Raum zusammen zu erproben. Doch dem Desi­gner der Muster­woh­nung, Van Bo Le-Mentzel ist auch das noch nicht genug. Er will die Mini­woh­nungen in einem rich­tigen Haus um einen gemeinsam genutzten, soge­nannten Co-Beeing-Space anordnen und damit den von der Wohnungsnot geplagten Städ­tern eine ganz neue und vor allem bezahl­bare Wohn­form anbieten.

Wohnbereich
Im Wohn­be­reich kann man gemüt­lich zusam­men­sitzen. Die Leiter führt auf den Schlafboden.

Auch Amelie wird den Schritt von der Mieterin zur Haus­ei­gen­tü­merin machen und sich zusammen mit ihrem Freund auf dem Bauhaus-Campus ein eigenes Tiny House bauen. Dabei will sie immer die jeweils sinn­vollste Vari­ante wählen – hand­werk­lich, aber auch ökolo­gisch gesehen. Als Dusche möchte sie zum Beispiel einen Show­er­loop einbauen. Bei einem Show­er­loop wird das Wasser mehr­mals rezy­kliert. Damit lässt sich der Wasser­ver­brauch um 90% und der Ener­gie­ver­brauch um 70–90% redu­zieren. Insge­samt werde sie das Tiny House zwischen 10’000 und 15’000 Euro kosten. Aber danach habe sie ein eigenes Heim, erklärt Amelie, und die Vorfreude darauf ist ihr deut­lich ins Gesicht geschrieben. Wenn sie Gas gebe, werde sie das Haus in etwa zwei Wochen gebaut haben, erklärt sie den abend­li­chen Gästen.

Ob sie keine Angst habe, so alleine in einem kleinen Häus­chen mitten auf der Strasse in Kreuz­berg, will eine Besu­cherin als näch­stes von ihr wissen. Man könnte doch etwas stehlen. Oder gar den ganzen Anhänger abschleppen, während sie schläft. Dieser Gedanke entlockt Amelie bloss ein herz­haftes Lachen. Dann greift sie zu ihrem Glas, lehnt sich zurück und gönnt sich einen weiteren Schluck von ihrem Weizenbier.


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