das Lamm: Edwin Ramirez, das Kulturfestival „Wildwuchs“ hat ein neues Leitungsteam. Innerhalb des Teams wie auch in der Auswahlkommission ist keine Person mit Behinderung dabei. In einem offenen Brief kritisieren nun verschiedene Künstler:innen diesen Entscheid. Darunter auch Sie. Weshalb?
Edwin Ramirez: „Wildwuchs“ gilt seit seiner Entstehung vor 20 Jahren als eines der „inklusivsten“ Festivals der Schweiz. Das zeigte sich im Programm, aber auch darin, dass es sich verhältnismässig viel mit Barrierefreiheit auseinandersetzt.
Bei der kürzlichen Wahl des neuen Leitungsteams wurde die Chance verpasst, das erste Festival der Schweiz zu werden, in dem Menschen mit Behinderungen auch in Leitungspositionen vertreten sind. Ausserdem hat „Wildwuchs“ in der Ausschreibung für die neue Leitung explizit ein „diverses und inklusives“ Team gesucht. Leider wurde keine einzige Person mit Behinderung gewählt, obwohl es entsprechende Bewerber:innen gab.
Edwin Ramirez ist ein Performance-Künstler und Comedian und hat Criptonite mitgegründet – ein queer-crippes Theaterprojekt, das sich durch Performances mit verschiedenen Aspekten zum Thema Behinderung auseinandersetzt.
Was wollen Sie mit dem offenen Brief erreichen?
Obwohl gemäss Studien des Bundesamtes für Statistik ca. 20% der Bevölkerung behindert oder chronisch krank sind, sind Menschen mit Behinderungen extrem untervertreten und marginalisiert in der Schweizer Kulturlandschaft. Gerade Festivals, die sich Inklusion auf die Fahne schreiben, tragen eine gewisse Verantwortung.
Unser Anliegen ist es nicht, das neu gewählte Leitungsteam zum Rücktritt zu bewegen. Vielmehr geht es uns um die Frage, wie es so weit kommen konnte. Ein Grund könnte sein, dass schon die Auswahljury für die neue Leitung zu wenig divers war. Wir sind daher der Meinung, dass auch die Jurys diverser werden müssen. Dabei reicht es nicht, eine einzige marginalisierte Person dabei zu haben.
Welchen Unterschied macht es, ob eine Person mit oder ohne Behinderung in der Leitung ist?
Ein Leitspruch der Behindertenbewegung ist „Nothing About Us Without Us“ – die Gesellschaft soll nicht über uns entscheiden, ohne uns miteinzubeziehen. Nicht-Behinderte gehen mit Situationen oft anders um, als es Menschen mit Behinderung machen würden. Viele Nicht-Behinderte wollen besonders nicht anecken oder verstehen die Dringlichkeit gewisser Anliegen nicht. Eine betroffene Person hingegen merkt jeden Tag, wie viele Strukturen und Barrieren es noch gibt.
Warum ist die Unterrepräsentation für Menschen mit Behinderung ein besonders grosses Problem?
Das ist historisch bedingt: Die Behindertenbewegung wurde lange Zeit von Angehörigen geleitet, ohne dass Betroffene gefragt wurden, geschweige denn selber mitentscheiden durften. Bis heute funktionieren viele Organisationen auf diese Weise. Das ist bei anderen Diskriminierungsformen viel weniger stark der Fall.
Inwiefern?
Die queere Szene zum Beispiel ist da schon weiter: Bei queeren Veranstaltungen und Organisationen sind meistens auch queere Leute im Vorstand und der Leitung. Beim Thema Behinderungen ist das noch anders: In den allermeisten Fällen sind Menschen ohne Behinderung in Führungspositionen. Das hat damit zu tun, dass Menschen mit Behinderung grösstenteils immer noch als hilfsbedürftig und unmündig angesehen werden. Eine Führungsposition wird ihnen nicht zugetraut und Barrieren werden nicht konsequent genug abgebaut.
Wie hat „Wildwuchs“ auf Ihren Brief reagiert?
Wildwuchs reagierte auf unseren Brief mit der Erklärung, dass das Festival das Thema Inklusion nicht mehr länger in sein Zentrum stellen möchte. Das ist unter anderem problematisch, weil „Wildwuchs“ von verschiedenen Behindertenorganisationen finanziell unterstützt wird, so zum Beispiel pro infirmis, Stiftung Denk an mich oder cerebral. Ausserdem hat das Festival bis jetzt nicht öffentlich kommuniziert, dass es einen Schwerpunktwechsel plant.
So oder so wäre es schade, wenn „Wildwuchs“ Behinderung nicht mehr ins Zentrum seines Programms stellen würde, weil das Festival sehr wichtig für die Community ist. Es wäre etwas anderes gewesen, hätte sich „Wildwuchs“ dafür eingesetzt, dass sein neues Leitungsteam hinsichtlich inklusiver Themen geschult würde. Davon war aber leider nie die Rede. Daher sind nun viele Aktivist:innen und Künstler:innen wütend und frustriert. Gerade weil das Festival einen etablierten Namen in der Szene hat und der Name für etwas steht.
Ausserdem tönt ihre Entscheidung wie eine Ausrede. Immerhin liesse sich der Fokus Inklusion auch mit anderen Marginalisierungen verbinden. Es gibt genug people of color oder queere Menschen mit Behinderung. Der Gedanke, den Fokus zu erweitern, ist eigentlich cool. Leider wirkt es aber so, als seien andere Marginalisierungen gerade einfach mehr en vogue als Disability. Das trägt dazu bei, dass Menschen mit Behinderung weiterhin kleingehalten und unterrepräsentiert bleiben.
Warum sind Menschen mit Behinderung in der Kulturszene unterrepräsentiert?
Die Gesellschaft rät gerade behinderten Personen stark davon ab, ein Teil des Kulturbetriebs zu werden. Als ich meine Schulausbildung abgeschlossen habe, wurde mir gesagt, ich solle in ein Büro oder in eine Werkstatt. Andere Optionen wurden mir gar nicht präsentiert. So geht es vielen. Das trägt dazu bei, dass Kulturinstitutionen unzugänglich bleiben. Die allermeisten der Kulturschaffenden mit Behinderung, die ich kenne, müssen sich alles selber aneignen und viel Energie dafür aufwenden, überhaupt teilhaben zu können. Das sind alles Symptome des selben Problems. Der Wurm ist von Anfang an drin, es ist ein Teufelskreis.
Wie stark spielt Leistungsdruck auch in der Kulturbranche eine Rolle?
Es ist überall das gleiche: Im Kapitalismus muss man funktionieren. Auch in der Kulturszene gibt es viele harte Vorgaben: Arbeitsweisen und Deadlines, die beachtet werden müssen, unausgesprochene Regeln. Dann gibt es natürlich noch die Erwartungen von Geldgeber:innen. Die Kulturszene leidet ebenso unter dem Zwang der Produktion, wie alle anderen Bereiche der Gesellschaft. Und auch hier leiden die Menschen darunter und können ihr Potential nicht ausschöpfen.
Wie würde tatsächliche strukturelle Veränderung und wirkliche Inklusion aussehen?
Institutionen könnten Menschen mit Behinderung zum Beispiel direkt anwerben. Wichtig wäre auch, dass Institutionen sich ihrer eigener Barrieren bewusster werden, damit alle die Möglichkeit haben, die Bewerbungsprozesse zu durchlaufen.
Konkret würde das zum Beispiel bedeuten, dass sich Institutionen darum bemühen, schon im Bewerbungsprozess Barrieren abzubauen. Etwa durch die Anbietung von Gehörlosenübersetzung oder durch Co-Leitungen, in denen sich Menschen mit Behinderung die fehlende Erfahrung aneignen können. Essenziell wäre, dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderung keinen Extra Aufwand betreiben müssen, um arbeiten zu können. In der Praxis sind sie aber meist auf sich allein gestellt. Falls das nötige Wissen für diese Unterstützung fehlt, können Personen mit Behinderung zur Expertise herbeigezogen werden. Dafür müssten sie natürlich bezahlt werden.
Strukturen müssen überall aufgebrochen werden: Vor, auf und hinter der Bühne, in der Leitung aber auch in allen anderen Positionen. Nur so können Behinderungen und alle andere Marginalisierungen die Sichtbarkeit erhalten, die sie verdienen. Und nur so können wirklich alle Menschen teilhaben.
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