Inklu­sion in der Kultur­branche: „Nothing About Us Without Us“

Das inklu­sive „Wildwuchs“-Festival in Basel hat keine Person mit Behin­de­rung ins Leitungs­team aufge­nommen. Im Gespräch mit das Lamm erläu­tert Mitun­ter­zeichner Edwin Ramirez, warum es in der Schweizer Kultur­szene an Inklu­sion mangelt. 
Chris Heer, Nina Mühlemann, Edwin Ramirez und Alessandro Sciattarella (von links unten im Uhrzeigersinn) bei der Performance "Slow Animals" von Criptonite im Dezember 2020 an der Gessnerallee (Foto: zVg)

das Lamm: Edwin Ramirez, das Kultur­fe­stival „Wild­wuchs“ hat ein neues Leitungs­team. Inner­halb des Teams wie auch in der Auswahl­kom­mis­sion ist keine Person mit Behin­de­rung dabei. In einem offenen Brief kriti­sieren nun verschie­dene Künstler:innen diesen Entscheid. Darunter auch Sie. Weshalb?

Edwin Ramirez: „Wild­wuchs“ gilt seit seiner Entste­hung vor 20 Jahren als eines der „inklu­siv­sten“ Festi­vals der Schweiz. Das zeigte sich im Programm, aber auch darin, dass es sich verhält­nis­mässig viel mit Barrie­re­frei­heit auseinandersetzt.

Bei der kürz­li­chen Wahl des neuen Leitungs­teams wurde die Chance verpasst, das erste Festival der Schweiz zu werden, in dem Menschen mit Behin­de­rungen auch in Leitungs­po­si­tionen vertreten sind. Ausserdem hat „Wild­wuchs“ in der Ausschrei­bung für die neue Leitung explizit ein „diverses und inklu­sives“ Team gesucht. Leider wurde keine einzige Person mit Behin­de­rung gewählt, obwohl es entspre­chende Bewerber:innen gab.

Edwin Ramirez ist ein Perfor­mance-Künstler und Come­dian und hat Crip­to­nite mitge­gründet – ein queer-crippes Thea­ter­pro­jekt, das sich durch Perfor­mances mit verschie­denen Aspekten zum Thema Behin­de­rung auseinandersetzt.

Was wollen Sie mit dem offenen Brief erreichen?

Obwohl gemäss Studien des Bundes­amtes für Stati­stik ca. 20% der Bevöl­ke­rung behin­dert oder chro­nisch krank sind, sind Menschen mit Behin­de­rungen extrem unter­ver­treten und margi­na­li­siert in der Schweizer Kultur­land­schaft. Gerade Festi­vals, die sich Inklu­sion auf die Fahne schreiben, tragen eine gewisse Verantwortung.

Unser Anliegen ist es nicht, das neu gewählte Leitungs­team zum Rück­tritt zu bewegen. Viel­mehr geht es uns um die Frage, wie es so weit kommen konnte. Ein Grund könnte sein, dass schon die Auswahl­jury für die neue Leitung zu wenig divers war. Wir sind daher der Meinung, dass auch die Jurys diverser werden müssen. Dabei reicht es nicht, eine einzige margi­na­li­sierte Person dabei zu haben.

Welchen Unter­schied macht es, ob eine Person mit oder ohne Behin­de­rung in der Leitung ist?

Ein Leit­spruch der Behin­der­ten­be­we­gung ist „Nothing About Us Without Us“ – die Gesell­schaft soll nicht über uns entscheiden, ohne uns mitein­zu­be­ziehen. Nicht-Behin­derte gehen mit Situa­tionen oft anders um, als es Menschen mit Behin­de­rung machen würden. Viele Nicht-Behin­derte wollen beson­ders nicht anecken oder verstehen die Dring­lich­keit gewisser Anliegen nicht. Eine betrof­fene Person hingegen merkt jeden Tag, wie viele Struk­turen und Barrieren es noch gibt.

Warum ist die Unter­re­prä­sen­ta­tion für Menschen mit Behin­de­rung ein beson­ders grosses Problem?

Das ist histo­risch bedingt: Die Behin­der­ten­be­we­gung wurde lange Zeit von Ange­hö­rigen geleitet, ohne dass Betrof­fene gefragt wurden, geschweige denn selber mitent­scheiden durften. Bis heute funk­tio­nieren viele Orga­ni­sa­tionen auf diese Weise. Das ist bei anderen Diskri­mi­nie­rungs­formen viel weniger stark der Fall.

Inwie­fern?

Die queere Szene zum Beispiel ist da schon weiter: Bei queeren Veran­stal­tungen und Orga­ni­sa­tionen sind meistens auch queere Leute im Vorstand und der Leitung. Beim Thema Behin­de­rungen ist das noch anders: In den aller­mei­sten Fällen sind Menschen ohne Behin­de­rung in Führungs­po­si­tionen. Das hat damit zu tun, dass Menschen mit Behin­de­rung gröss­ten­teils immer noch als hilfs­be­dürftig und unmündig ange­sehen werden. Eine Führungs­po­si­tion wird ihnen nicht zuge­traut und Barrieren werden nicht konse­quent genug abgebaut.

Wie hat „Wild­wuchs“ auf Ihren Brief reagiert?

Wild­wuchs reagierte auf unseren Brief mit der Erklä­rung, dass das Festival das Thema Inklu­sion nicht mehr länger in sein Zentrum stellen möchte. Das ist unter anderem proble­ma­tisch, weil „Wild­wuchs“ von verschie­denen Behin­der­ten­or­ga­ni­sa­tionen finan­ziell unter­stützt wird, so zum Beispiel pro infirmis, Stif­tung Denk an mich oder cere­bral. Ausserdem hat das Festival bis jetzt nicht öffent­lich kommu­ni­ziert, dass es einen Schwer­punkt­wechsel plant.

So oder so wäre es schade, wenn „Wild­wuchs“ Behin­de­rung nicht mehr ins Zentrum seines Programms stellen würde, weil das Festival sehr wichtig für die Commu­nity ist. Es wäre etwas anderes gewesen, hätte sich „Wild­wuchs“ dafür einge­setzt, dass sein neues Leitungs­team hinsicht­lich inklu­siver Themen geschult würde. Davon war aber leider nie die Rede. Daher sind nun viele Aktivist:innen und Künstler:innen wütend und frustriert. Gerade weil das Festival einen etablierten Namen in der Szene hat und der Name für etwas steht.

Ausserdem tönt ihre Entschei­dung wie eine Ausrede. Immerhin liesse sich der Fokus Inklu­sion auch mit anderen Margi­na­li­sie­rungen verbinden. Es gibt genug people of color oder queere Menschen mit Behin­de­rung. Der Gedanke, den Fokus zu erwei­tern, ist eigent­lich cool. Leider wirkt es aber so, als seien andere Margi­na­li­sie­rungen gerade einfach mehr en vogue als Disa­bi­lity. Das trägt dazu bei, dass Menschen mit Behin­de­rung weiterhin klein­ge­halten und unter­re­prä­sen­tiert bleiben.

Warum sind Menschen mit Behin­de­rung in der Kultur­szene unterrepräsentiert?

Die Gesell­schaft rät gerade behin­derten Personen stark davon ab, ein Teil des Kultur­be­triebs zu werden. Als ich meine Schul­aus­bil­dung abge­schlossen habe, wurde mir gesagt, ich solle in ein Büro oder in eine Werk­statt. Andere Optionen wurden mir gar nicht präsen­tiert. So geht es vielen. Das trägt dazu bei, dass Kultur­in­sti­tu­tionen unzu­gäng­lich bleiben. Die aller­mei­sten der Kultur­schaf­fenden mit Behin­de­rung, die ich kenne, müssen sich alles selber aneignen und viel Energie dafür aufwenden, über­haupt teil­haben zu können. Das sind alles Symptome des selben Problems. Der Wurm ist von Anfang an drin, es ist ein Teufelskreis.

Wie stark spielt Leistungs­druck auch in der Kultur­branche eine Rolle?

Es ist überall das gleiche: Im Kapi­ta­lismus muss man funk­tio­nieren. Auch in der Kultur­szene gibt es viele harte Vorgaben: Arbeits­weisen und Dead­lines, die beachtet werden müssen, unaus­ge­spro­chene Regeln. Dann gibt es natür­lich noch die Erwar­tungen von Geldgeber:innen. Die Kultur­szene leidet ebenso unter dem Zwang der Produk­tion, wie alle anderen Bereiche der Gesell­schaft. Und auch hier leiden die Menschen darunter und können ihr Poten­tial nicht ausschöpfen.

Wie würde tatsäch­liche struk­tu­relle Verän­de­rung und wirk­liche Inklu­sion aussehen?

Insti­tu­tionen könnten Menschen mit Behin­de­rung zum Beispiel direkt anwerben. Wichtig wäre auch, dass Insti­tu­tionen sich ihrer eigener Barrieren bewusster werden, damit alle die Möglich­keit haben, die Bewer­bungs­pro­zesse zu durchlaufen. 

Konkret würde das zum Beispiel bedeuten, dass sich Insti­tu­tionen darum bemühen, schon im Bewer­bungs­pro­zess Barrieren abzu­bauen. Etwa durch die Anbie­tung von Gehör­lo­sen­über­set­zung oder durch Co-Leitungen, in denen sich Menschen mit Behin­de­rung die fehlende Erfah­rung aneignen können. Essen­ziell wäre, dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behin­de­rung keinen Extra Aufwand betreiben müssen, um arbeiten zu können. In der Praxis sind sie aber meist auf sich allein gestellt. Falls das nötige Wissen für diese Unter­stüt­zung fehlt, können Personen mit Behin­de­rung zur Exper­tise herbei­ge­zogen werden. Dafür müssten sie natür­lich bezahlt werden.

Struk­turen müssen überall aufge­bro­chen werden: Vor, auf und hinter der Bühne, in der Leitung aber auch in allen anderen Posi­tionen. Nur so können Behin­de­rungen und alle andere Margi­na­li­sie­rungen die Sicht­bar­keit erhalten, die sie verdienen. Und nur so können wirk­lich alle Menschen teilhaben.


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