Inter­na­tio­naler femi­ni­sti­scher Kampftag: Reizgas für die Demonstrierenden

Anläss­lich des 8. März 2021, des inter­na­tio­nalen femi­ni­sti­schen Kampf­tages, demon­strierten über tausend Frauen, non-binäre, trans und inter Personen in der Zürcher Innen­stadt. Trotz massiver Poli­zei­ge­walt liessen sich die Aktivist:innen nicht vertreiben. 
Polizeieinsatz am internationalen feministischen Kampftag in Zürich (Bild: zvg)

Wer am Samstag Nach­mittag in der Zürcher Innen­stadt unter­wegs war, konnte die Vorboten der dies­jäh­rigen Poli­zei­e­ska­pade zum 8. März bereits erahnen: Vom Frau­mün­ster über den Hecht­platz bis hin zum Sihl­quai standen Polizist:innen in Voll­montur an jeder Ecke bereit. Dutzende Kasten­wagen drehten ihre Runden durch die Stadt. Sirenen heulten.

Im Vorfeld des dies­jäh­rigen femi­ni­sti­schen Kampf­tages orga­ni­sierte das Bündnis „8. März Unite“ einen femi­ni­sti­schen Parcours mit anschlies­sender Demo, um gegen Patri­ar­chat und Kapi­ta­lismus zu prote­stieren. „Wir sind uns bewusst, dass wir uns mitten in einer Pandemie befinden und die Situa­tion weiterhin heikel ist“, schrieb das Komitee im Vorfeld auf seiner Webseite. Deshalb gehörte ein ausge­klü­geltes Schutz­kon­zept „selbst­ver­ständ­lich zum Wider­stand“ der Feminist:innen dazu: Demon­striert werden sollte in Klein­gruppen, mit Masken, Desin­fek­ti­ons­mittel und genü­gend Abstand.

Auch die Stationen des Parcours wurden dezen­tral orga­ni­siert, um grös­sere Menschen­an­samm­lungen zu vermeiden. Die Zürcher Polizei liess sich davon jedoch nicht über­zeugen und löste den Parcours nach rund 30 Minuten auf. „Sie infor­mierten uns, dass alle neun Stationen, die über die gesamte Stadt verteilt waren, als eine einzige Veran­stal­tung gelte – und deshalb nur 15 Personen daran teil nehmen dürften“, erzählt Cato*, vom Radio Lora. Zusammen mit anderen Journalist:innen berich­tete Cato live vom Helve­ti­a­platz über die statt­fin­denden Aktionen.

Ihrer jour­na­li­sti­schen Arbeit konnten sie jedoch nicht unge­stört nach­gehen: „Die Polizei verbot uns zu filmen“ und das, obwohl sie ihre Pres­se­aus­weise vorge­zeigt hätten, erzählt Cato. „Poli­zei­kon­trollen sind wich­tiger als jour­na­li­sti­sche Arbeit“, habe es geheissen. Gegen­über das Lamm meinte die Stadt­po­lizei Zürich, dass „ein gene­relles Verbot zum Filmen nicht zulässig“ sei, sie anhand mangelnder Details zum Vorfall aller­dings nichts weiter sagen könnten.

Shoppen: Ja. Prote­stieren: Nein.

Die fehlende Einhal­tung der Pande­mie­mass­nahmen sei nur ein vorge­scho­benes Argu­ment der Polizei, um den femi­ni­sti­schen Protest zu verhin­dern, meint Berfîn*, eine femi­ni­sti­sche Akti­vi­stin, die an diesem Tag eben­falls in Zürich unter­wegs war. Zum glei­chen Zeit­punkt als Feminist:innen krimi­na­li­siert wurden, hätten hunderte Personen an der Bahn­hofs­strasse unge­hin­dert ihre Einkäufe erle­digt. Am Hecht­platz filmte die Polizei sogar irrtüm­li­cher­weise eine Menschen­an­samm­lung, die sie für poten­zi­elle Aktivist:innen hielt. „Es stellte sich heraus, dass die Ansamm­lung ledig­lich die Schlange vor einem Laden war“, erzählt Berfîn, die die Situa­tion miter­lebte. Daraufhin wanderte die Polizei wieder ab.

Auf Twitter teilte die Stadt­po­lizei einem verdutzten User mit, dass Warte­schlangen nicht verboten seien, „Veran­stal­tungen aber schon“. Dabei gehe es um „das Einhalten von bestehenden Regeln“.

Für Berfîn spricht noch ein weiteres Argu­ment dafür, dass es bei der Repres­sion kaum um konse­quenten Pande­mie­schutz ginge: Während der femi­ni­sti­sche Protest in Zürich mit allen Mitteln zu verhin­dern versucht wurde, marschierten tausende Corona-Leugner:innen unge­hin­dert durch Chur, erzählt die Akti­vi­stin. „Dass viele der Teil­neh­menden aus offen­sicht­li­chen Gründen nicht einmal Masken trugen, schien dabei kein Problem darge­stellt zu haben“, fügt die Akti­vi­stin an. Die Demon­stra­tion in Chur sei im Gege­satz zu derje­nigen in Zürich zwar bewil­ligt worden, hinsicht­lich der Virus­ver­brei­tung sei das aller­dings hinfällig.

Während die Polizei in Chur die Demon­strie­renden schützte, bela­gerten in Zürich an die hundert Beamt:innen den Helve­ti­a­platz und erteilten Verweise. „Ein Poli­zist auf einem Motorrad rich­tete seine Kamera auf mich und rief mir zu, ich sollte lächeln – das sehe besser aus“, erzählt Cato. Nicht nur sexi­sti­sche Sprüche, auch rassi­sti­sche Kontrollen seien durch­ge­führt worden: Die Polizei habe mit Vorliebe Aktivist:innen der kurdi­schen Bewe­gung kontrol­liert, meint Berfîn.

Aktivist:innen wehrten sich

Trotz der reich­hal­tigen Einschüch­te­rungs­ver­suche der Polizei versam­melten sich gegen 15.30 Uhr erneut mehrere hundert Personen auf dem Helve­ti­a­platz zur geplanten Demon­stra­tion. Es dauerte nicht lange bis der erste Wasser­werfer auffuhr und Polizist:innen aus näch­ster Nähe Reizgas gegen die an der Front Demon­strie­renden einsetzten. Im Internet kursieren mehrere Videos, die die massive Poli­zei­ge­walt doku­men­tieren: Auf einem der Videos sind Beamte zu sehen, wie sie eine Person mit dem Knie am Genick auf den Boden fixieren – auf einem anderen schlägt ein Poli­zist wieder­holt auf den Kopf einer bereits am Boden liegenden Person ein.

Trigger-Warnung: Expli­zite Poli­zei­ge­walt im Video

Während dieses brutalen Vorge­hens wehrte sich die Akti­vi­stin, laut der Medi­en­mit­tei­lung der Stadt­po­lizei Zürich, indem sie einen Poli­zi­sten biss. Dieser auf den Videos nicht zu erken­nende Vorfall wurde schliess­lich auch Haupt­be­stand­teil des medialen Narra­tivs, das die statt­ge­fun­dene Poli­zei­ge­walt gänz­lich verharmloste.

Die Stadt­po­lizei Zürich gesteht auf Anfrage von das Lamm ein, dass „aufgrund der Bilder eine vertiefte Abklä­rung zwei­fellos notwendig“ sei. Ausserdem müsse nebst der „straf­recht­li­chen Frage“, welche die Staats­an­walt­schaft verant­wortet, geklärt werden, ob „zusätz­lich Perso­nal­recht­liche Mass­nahmen“ ange­zeigt wären.

Viel Gewalt, noch mehr Solidarität

„Ich hatte kaum jemals so viel Angst in meinem Leben“, sagt Cato über die Konfron­ta­tion mit der Polizei am Samstag. Cato beob­ach­tete die gewal­tä­tigen Szenen und hielt mit einer Hand das Handy hoch um die Gewalt zu doku­men­tieren, die andere Hand umklam­merte den Pres­se­aus­weis. Cato kam mit einem Schrecken und Reiz­hu­sten verhält­nis­mässig glimpf­lich davon. Die Poli­zei­ge­walt an sich sei nicht über­ra­schend – das Ausmass aller­dings schon.

Trotz allem sei es ein erfolg­rei­cher Tag gewesen, da sind sich Cato und Berfîn einig. „Ich habe die Bewe­gung an diesem Tag als sehr stark erlebt“, meint die Berfîn. Die Situa­tion müsse für viele Personen sehr trau­ma­ti­sie­rend gewesen sein, trotzdem hätten sie grosse Soli­da­rität unter­ein­ander bewiesen. Berfîn ist sich sicher: „Die Menschen haben den grossen femi­ni­sti­schen Streik von 2019 nicht vergessen und sind bereit, ihre Kämpfe weiter zu führen.“

*Namen von der Redak­tion geändert.

 


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 21 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1352 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel

Revolte statt Rosen

Der 8. März wird vielerorts als „Hommage an das weibliche Geschlecht“ verstanden. Dabei wird die politische Dimension des Tages komplett ignoriert. Eine Chronologie von über hundert Jahren proletarischem, feministischem Kampf.