Wer am Samstag Nachmittag in der Zürcher Innenstadt unterwegs war, konnte die Vorboten der diesjährigen Polizeieskapade zum 8. März bereits erahnen: Vom Fraumünster über den Hechtplatz bis hin zum Sihlquai standen Polizist:innen in Vollmontur an jeder Ecke bereit. Dutzende Kastenwagen drehten ihre Runden durch die Stadt. Sirenen heulten.
Im Vorfeld des diesjährigen feministischen Kampftages organisierte das Bündnis „8. März Unite“ einen feministischen Parcours mit anschliessender Demo, um gegen Patriarchat und Kapitalismus zu protestieren. „Wir sind uns bewusst, dass wir uns mitten in einer Pandemie befinden und die Situation weiterhin heikel ist“, schrieb das Komitee im Vorfeld auf seiner Webseite. Deshalb gehörte ein ausgeklügeltes Schutzkonzept „selbstverständlich zum Widerstand“ der Feminist:innen dazu: Demonstriert werden sollte in Kleingruppen, mit Masken, Desinfektionsmittel und genügend Abstand.
Auch die Stationen des Parcours wurden dezentral organisiert, um grössere Menschenansammlungen zu vermeiden. Die Zürcher Polizei liess sich davon jedoch nicht überzeugen und löste den Parcours nach rund 30 Minuten auf. „Sie informierten uns, dass alle neun Stationen, die über die gesamte Stadt verteilt waren, als eine einzige Veranstaltung gelte – und deshalb nur 15 Personen daran teil nehmen dürften“, erzählt Cato*, vom Radio Lora. Zusammen mit anderen Journalist:innen berichtete Cato live vom Helvetiaplatz über die stattfindenden Aktionen.
Ihrer journalistischen Arbeit konnten sie jedoch nicht ungestört nachgehen: „Die Polizei verbot uns zu filmen“ und das, obwohl sie ihre Presseausweise vorgezeigt hätten, erzählt Cato. „Polizeikontrollen sind wichtiger als journalistische Arbeit“, habe es geheissen. Gegenüber das Lamm meinte die Stadtpolizei Zürich, dass „ein generelles Verbot zum Filmen nicht zulässig“ sei, sie anhand mangelnder Details zum Vorfall allerdings nichts weiter sagen könnten.
Shoppen: Ja. Protestieren: Nein.
Die fehlende Einhaltung der Pandemiemassnahmen sei nur ein vorgeschobenes Argument der Polizei, um den feministischen Protest zu verhindern, meint Berfîn*, eine feministische Aktivistin, die an diesem Tag ebenfalls in Zürich unterwegs war. Zum gleichen Zeitpunkt als Feminist:innen kriminalisiert wurden, hätten hunderte Personen an der Bahnhofsstrasse ungehindert ihre Einkäufe erledigt. Am Hechtplatz filmte die Polizei sogar irrtümlicherweise eine Menschenansammlung, die sie für potenzielle Aktivist:innen hielt. „Es stellte sich heraus, dass die Ansammlung lediglich die Schlange vor einem Laden war“, erzählt Berfîn, die die Situation miterlebte. Daraufhin wanderte die Polizei wieder ab.
Auf Twitter teilte die Stadtpolizei einem verdutzten User mit, dass Warteschlangen nicht verboten seien, „Veranstaltungen aber schon“. Dabei gehe es um „das Einhalten von bestehenden Regeln“.
Für Berfîn spricht noch ein weiteres Argument dafür, dass es bei der Repression kaum um konsequenten Pandemieschutz ginge: Während der feministische Protest in Zürich mit allen Mitteln zu verhindern versucht wurde, marschierten tausende Corona-Leugner:innen ungehindert durch Chur, erzählt die Aktivistin. „Dass viele der Teilnehmenden aus offensichtlichen Gründen nicht einmal Masken trugen, schien dabei kein Problem dargestellt zu haben“, fügt die Aktivistin an. Die Demonstration in Chur sei im Gegesatz zu derjenigen in Zürich zwar bewilligt worden, hinsichtlich der Virusverbreitung sei das allerdings hinfällig.
Während die Polizei in Chur die Demonstrierenden schützte, belagerten in Zürich an die hundert Beamt:innen den Helvetiaplatz und erteilten Verweise. „Ein Polizist auf einem Motorrad richtete seine Kamera auf mich und rief mir zu, ich sollte lächeln – das sehe besser aus“, erzählt Cato. Nicht nur sexistische Sprüche, auch rassistische Kontrollen seien durchgeführt worden: Die Polizei habe mit Vorliebe Aktivist:innen der kurdischen Bewegung kontrolliert, meint Berfîn.
Aktivist:innen wehrten sich
Trotz der reichhaltigen Einschüchterungsversuche der Polizei versammelten sich gegen 15.30 Uhr erneut mehrere hundert Personen auf dem Helvetiaplatz zur geplanten Demonstration. Es dauerte nicht lange bis der erste Wasserwerfer auffuhr und Polizist:innen aus nächster Nähe Reizgas gegen die an der Front Demonstrierenden einsetzten. Im Internet kursieren mehrere Videos, die die massive Polizeigewalt dokumentieren: Auf einem der Videos sind Beamte zu sehen, wie sie eine Person mit dem Knie am Genick auf den Boden fixieren – auf einem anderen schlägt ein Polizist wiederholt auf den Kopf einer bereits am Boden liegenden Person ein.
Trigger-Warnung: Explizite Polizeigewalt im Video
Während dieses brutalen Vorgehens wehrte sich die Aktivistin, laut der Medienmitteilung der Stadtpolizei Zürich, indem sie einen Polizisten biss. Dieser auf den Videos nicht zu erkennende Vorfall wurde schliesslich auch Hauptbestandteil des medialen Narrativs, das die stattgefundene Polizeigewalt gänzlich verharmloste.
Die Stadtpolizei Zürich gesteht auf Anfrage von das Lamm ein, dass „aufgrund der Bilder eine vertiefte Abklärung zweifellos notwendig“ sei. Ausserdem müsse nebst der „strafrechtlichen Frage“, welche die Staatsanwaltschaft verantwortet, geklärt werden, ob „zusätzlich Personalrechtliche Massnahmen“ angezeigt wären.
Viel Gewalt, noch mehr Solidarität
„Ich hatte kaum jemals so viel Angst in meinem Leben“, sagt Cato über die Konfrontation mit der Polizei am Samstag. Cato beobachtete die gewaltätigen Szenen und hielt mit einer Hand das Handy hoch um die Gewalt zu dokumentieren, die andere Hand umklammerte den Presseausweis. Cato kam mit einem Schrecken und Reizhusten verhältnismässig glimpflich davon. Die Polizeigewalt an sich sei nicht überraschend – das Ausmass allerdings schon.
Trotz allem sei es ein erfolgreicher Tag gewesen, da sind sich Cato und Berfîn einig. „Ich habe die Bewegung an diesem Tag als sehr stark erlebt“, meint die Berfîn. Die Situation müsse für viele Personen sehr traumatisierend gewesen sein, trotzdem hätten sie grosse Solidarität untereinander bewiesen. Berfîn ist sich sicher: „Die Menschen haben den grossen feministischen Streik von 2019 nicht vergessen und sind bereit, ihre Kämpfe weiter zu führen.“
*Namen von der Redaktion geändert.
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