Kapi­ta­lismus schadet der Gesundheit

Wer in der Unter­klasse lebt, ist öfter krank, stirbt früher und geht seltener zum Arzt. Über ein Gesund­heits­sy­stem, das Armut nicht behan­delt, sondern reproduziert. 
Wer in der Unterklasse lebt, muss auch mal den Notfalltransport selbst bezahlen. (Bild: Mat Napo / Unsplash)

Vor etwas mehr als drei Jahren bekam ich kurz hinter­ein­ander Hoden­krebs und eine Herz­mus­kel­ent­zün­dung. Beides hatte nichts mit der Armut zu tun, in der ich aufge­wachsen war und die mich die längste Zeit meines Erwach­se­nen­le­bens verfolgte. Und dennoch haben beide Erkran­kungen mir gezeigt, wie ungleich unsere Gesund­heits­sy­steme sind.

Die Kosten beliefen sich auf ein paar Dutzend Euros, aber sie summierten sich. Kran­ken­haus­tage sowie Fahrten mit dem Kran­ken­wagen musste ich anteilig bezahlen. Zudem leistete ich insge­samt 700 Euro Zuzah­lungen, um mir die Möglich­keit offen­zu­halten, auch nach der Krebs­ope­ra­tion noch Kinder bekommen zu können.

In der Schweiz ist die Lage noch beschis­sener, hier werden für die Fahrt mit dem Kran­ken­wagen – je nach Versi­che­rungs­mo­dell – nur 500 Franken übernommen.

Die 700 Euro hätten in Deutsch­land eigent­lich bereits seit 2019 von der Kran­ken­kasse über­nommen werden müssen, doch es griff ein Trick der Herr­schenden: Weil sich die zustän­digen Kommis­sionen noch ein paar Jahre um den schon verab­schie­deten, aber offenbar immer wieder korrek­tur­be­dürf­tigen Geset­zes­text stritten, wurde die Über­nahme meiner Kosten abge­lehnt – trotz Gesetz, das eigent­lich das Gegen­teil besagte. Hätte ich die 700 Euro damals nicht gehabt, könnte ich jetzt viel­leicht keine Kinder mehr bekommen.

„David gegen Goliath“ ist hier Programm. Olivier David 
gegen die Goli­aths dieser Welt. Anstatt nach unten wird nach oben getreten. Es geht um die Lage und den Facet­ten­reichtum der unteren Klasse. Die Kolumne dient als Ort, um Aspekte der Armut, Preka­rität und Gegen­kultur zu reflek­tieren, zu bespre­chen, einzu­ordnen. „David gegen Goliath“ ist der Versuch eines Schrei­bens mit Klas­sen­stand­punkt, damit aus der Klasse an sich eine Klasse für sich wird. Die Kolumne erscheint eben­falls als Newsletter.

In der Schweiz ist die Lage noch beschis­sener, hier werden für die Fahrt mit dem Kran­ken­wagen – je nach Versi­che­rungs­mo­dell – nur 500 Franken über­nommen. Menschen, die in der Grund­ver­si­che­rung sind und einen Unfall haben, müssen den Kran­ken­wagen sogar oft komplett selbst zahlen.

Arme Menschen leben weniger lang

Selbst wenn die Versi­che­rung Kosten über­nimmt, müssen Patient*innen sie oft erst einmal auslegen können, wie ich eben­falls am eigenen Leib erfahren musste. Erst neulich wurden mir im Mund Kronen einge­setzt. Die Kran­ken­kasse bewil­ligte Leistungen in Höhe von etwa 500 Euro. Meine Zuzah­lungen beliefen sich auf mehr als 1’800 Euro.

Weil ich finan­ziell seit rund zwei Jahren etwas ober­halb der Armuts­grenze lebe, habe ich, nachdem im vergan­genen Jahr ein Teil meines Backen­zahnes abge­bro­chen war, eine Zahn­zu­satz­ver­si­che­rung abge­schlossen. Sie wird – hoffent­lich – den Löwen­an­teil meiner Zuzah­lungen über­nehmen. Das aber auch erst, nachdem ich mir 1’800 Euro privat geliehen habe und ein kompli­ziertes Verfahren durch­laufen habe, um mein Geld wiederzubekommen.

Ich verfüge immerhin über die Mittel und Wege, mir private Versi­che­rungen zu leisten, die mich, meinen Körper und meine Psyche zumin­dest grund­sätz­lich absi­chern. Und dennoch zeigt schon dieser Einblick, dass etwas grund­sätz­lich faul ist an der Art, wie unsere Gesell­schaften mit Krank­heit umgehen.

In Deutsch­land erreicht jeder dritte armuts­be­trof­fene Mann seinen Renten­ein­tritt nicht.

Wenn ich (unter anderem in dieser Kolumne) über Armut als Unter­drückung schreibe, dann gehört auch die viel gerin­gere Lebens­er­war­tung von Menschen aus der Unter­klasse zu den Mecha­nismen der Unter­drückung und der Beherrschung.

In Deutsch­land erreicht jeder dritte armuts­be­trof­fene Mann seinen Renten­ein­tritt nicht. Parallel dazu disku­tieren Politiker*innen über einen Renten­ein­tritt mit 67 Jahren. Verschwiegen wird von diesen Leuten, dass ihre Politik die Leute umbringt, die mit ihrer Hände Arbeit den Wohl­stand derje­nigen erwirt­schaften, die ihre Rente noch erleben werden.

Der Grund, warum diese Fakten nicht zu Aufständen gegen die Knecht­schaft der Armut führen, liegt unter anderem im sozialen Rückzug. Menschen aus der Unter­klasse machen die Erfah­rung, dass ihre Stimme nicht zählt und sie keinen Einfluss auf die Welt nehmen können – die Welt aber Einfluss auf sie nimmt. Dieser Rückzug folgt der Armuts­er­fah­rung in vielen Fällen auf den Fuss. Er ist eine direkte Auswir­kung von Armut und Ungleich­heit. Dieser Rückzug ist ein ganz konkreter: Er äussert sich auch darin, dass Gesund­heits­lei­stungen und finan­zi­elle Unter­stüt­zung von Betrof­fenen nicht abge­rufen werden.

Aber wer ruft eigent­lich Gesund­heits­lei­stungen ab? Spoiler: Es sind natür­lich die Besser­ver­die­nenden. So gehen zum Beispiel allein­er­zie­hende Mütter, eine der Perso­nen­gruppen mit der höch­sten Armuts­ge­fähr­dung, seltener zu Vorsor­ge­un­ter­su­chungen (22 Prozent) als Mütter in Part­ner­schaften (29 Prozent).

Beson­ders beschissen läuft es für Menschen ohne recht­li­chen Aufent­halts­status. Da die Ämter und Behörden eine Melde­pflicht haben, fragen Geflüch­tete ohne recht­li­chen Aufent­halts­status nicht oder nur in grösster Notlage Gesund­heits­lei­stungen ab.

Ungleiche Behand­lung: Die 3‑Klassen-Medizin

In den meisten west­li­chen Ländern können wir nicht einfach von einer Klas­sen­me­dizin spre­chen, so wie es unter sich als kritisch verste­henden Menschen üblich ist, denn das würde Unge­rech­tig­keiten verschleiern. Wir müssen präziser von einer 3‑Klassen-Medizin ausgehen, in der es neben Privat­ver­si­cherten und gesetz­lich Versi­cherten auch jene gibt, die entweder kein Geld für die Zuzah­lungen haben oder Gesund­heits­lei­stungen wegen anderer Hürden nicht abfragen können.

Menschen aus der Unter­klasse müssen also aus ihrem eigenen Porte­mon­naie Zuzah­lungen für lebens­not­wen­dige Gesund­heits­lei­stungen aufbringen, die weit über das hinaus­gehen, was sie sich leisten können. Welches Signal sendet dieser Umstand an die Menschen aus der Unter­klasse? Etwa: Du bist ein wich­tiger Teil der Gesell­schaft? Oder: Wir respek­tieren dich?

In Deutsch­land ist Krank­heit bereits der dritt­häu­figste Grund für Überschuldung. 

Eins ist sicher, wer jemals die Erfah­rung von Armut in Kombi­na­tion mit Krank­heit gemacht hat, der weiss, dass die Würde des Menschen nur formal geschützt wird. In Deutsch­land ist Krank­heit bereits der dritt­häu­figste Grund für Über­schul­dung. Mit dem Geld, dass ich mir für meine Zahn­be­hand­lung privat leihen muss, bin ich nun ein Mensch aus dieser Stati­stik. Ein Gesund­heits­sy­stem, das wirk­lich für alle offen steht. In dem die Gleich­heit nicht nur vor dem Gesetz fest­ge­schrieben ist, sondern auch wirk­lich gelebt wird, ist meilen­weit entfernt.

Viel­leicht müssen wir sogar noch weiter gehen und sagen: In einer Klas­sen­ge­sell­schaft haben wir von kapi­ta­li­stisch orga­ni­sierten Gesell­schaften und ihren Systemen gar nichts anderes zu erwarten als die Repro­duk­tion körper­li­cher und psychi­scher Krank­heiten. Es braucht eben die Marx’sche Indu­stri­elle Reser­ve­armee, also Erwerbs­lose, die den Lohn der Nied­rig­löhner drücken und auf ihren Einsatz warten.

Kapi­ta­lismus < Demokratie

Was tun ange­sichts dieses Zustands der Welt? Ich verfüge nicht über genü­gend Wissen, um zu formu­lieren, wie ein Gesund­heits­sy­stem bedarfs­ge­recht refor­miert werden kann, diese Analyse müssen andere leisten – und sie tun es bereits.

Was dieser Text jedoch versucht, ist es, jenen die Augen zu öffnen, die glauben, dass wir in einer Welt leben, in der nur ein paar Ungleich­heiten nivel­liert werden müssen bis zur gerechten Gesell­schaft. Es reicht nicht, auf parla­men­ta­ri­schem Weg an Stell­schrauben zu drehen, um das Gesund­heits­sy­stem zu verbes­sern, wenn­gleich ein besserer Zugang zu medi­zi­ni­scher Versor­gung für manche Menschen ein existen­zi­eller, ja lebens­ver­län­gernder Schritt wäre.

Es sind die Arbeits­be­din­gungen im Kapi­ta­lismus, die den Bauar­bei­tern ihre Knie­scheiben zertrüm­mern, die der Pfle­gerin die Band­scheibe zerschiessen.

Es braucht das Verständnis, dass die Menschen am unteren Ende der Gesell­schaft viel wesent­li­cher vom Kapi­ta­lismus unter­jocht werden, als dass sie von unseren einge­führten demo­kra­ti­schen Grund­rechten profi­tieren. Es sind die Arbeits­be­din­gungen im Kapi­ta­lismus, die den Bauar­bei­tern ihre Knie­scheiben zertrüm­mern, die der Pfle­gerin die Band­scheibe zerschiessen.

Der Kampf für eine bessere Gesund­heits­vor­sorge muss notwen­di­ger­weise mit einer funda­men­talen anti­ka­pi­ta­li­sti­schen System­kritik zusam­men­ge­bracht werden, sonst werden die Kämpfe für bessere medi­zi­ni­sche Zugänge für alle auf der Ebene der Symptom­be­kämp­fung stehen bleiben.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 21 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1352 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!


Ähnliche Artikel