Keinen Klima­zoll für die Schweiz. Das ist mutig und mutlos zugleich.

Der Bundesrat will den von der EU beschlos­senen Klima­zoll nicht einführen. Er stellt sich damit zwar gegen die Inter­essen einiger weniger Schweizer Gross­kon­zerne. In der Gesamt­schau der inter­na­tio­nalen Klima­po­litik ist das dennoch eine mutlose Positionierung. 
Anders als die EU wird die Schweiz vorerst keine Importsteuer auf Klimagase einführen (Illustration: Luca Mondgenast).
Anders als die EU wird die Schweiz vorerst keine Importsteuer auf Klimagase einführen (Illustration: Luca Mondgenast).

Die EU setze damit „Mass­stäbe für die Umset­zung von Klima­po­litik welt­weit“, sagte der deut­sche Wirt­schafts- und Klima­mi­ni­ster Robert Habeck Ende letzten Jahres, als sich die EU darauf einigte, die Beprei­sung von Treib­haus­gasen zu verschärfen. Ein zentrales Element dieser Verschär­fung: die Einfüh­rung eines Klimazolls.

Dieser soll die inner­eu­ro­päi­sche Schwer­indu­strie vor dem soge­nannten Carbon Leakage schützen. Von Carbon Leakage spricht man, wenn CO2 „auswan­dert“ – also nicht durch Klima­schutz­mass­nahmen redu­ziert wird, sondern einfach woan­ders auf der Welt anfällt. Ein Beispiel dafür wäre eine euro­päi­sche Stahl­fa­brik, die ihre Produk­tion in die Türkei verlegt, weil man dort nichts für die CO2-Emis­sionen bezahlen muss. Von Carbon Leakage spricht man aber auch dann, wenn sich die globale Nach­frage auf dem Markt zugun­sten des türki­schen Stahls verschiebt, weil die Produk­tion dort mangels CO2-Preis billiger ist.

Mit einem Klima­zoll gegen Carbon Leakage…

Wer sehr emis­si­ons­in­ten­sive Güter wie Stahl, Alu oder Zement in die EU einführen will, soll deshalb ab 2026 drauf­zahlen. Der Aufschlag, den das türki­sche Stahl­werk für den Import des Stahls in die EU beglei­chen muss, soll dabei gleich hoch sein wie die CO2-Kosten, die bei einer Stahl-Produk­tion auf EU-Boden ange­fallen wären – um bei obigem Beispiel zu bleiben.

Dadurch will die EU für alle Konzerne, die im EU-Raum ihre Ware anbieten, gleiche Wett­be­werbs­be­din­gungen schaffen – egal wo diese produ­zieren. Mit einem solchen Klima­zoll kommt es in der Theorie nicht mehr darauf an, wo der Stahl herge­stellt wird, da die Klima­ko­sten beim Import dann sowieso bezahlt werden müssen. Darum, so die Idee der EU, würde der Konzern oder die Nach­frage gar nicht erst auswan­dern und das Carbon Leakage wäre verhindert.

Schweizer Gross­kon­zerne hofften der Bundesrat würde den Klima­zoll im Gleich­schritt mit der EU hoch­ziehen, um die inlän­di­sche Produk­tion zu schützen

Der Bundesrat will bei diesen EU-Plänen jedoch nicht mitma­chen. Dies gab er Mitte Juni per Medi­en­mit­tei­lung bekannt. Damit stellt er sich gegen die Inter­essen von ein paar wenigen Schweizer Gross­kon­zernen, die sich erhofft haben auch der Bundesrat würde einen solchen Klima­schutz­zoll im Gleich­schritt mit der EU hoch­ziehen, um die inlän­di­sche Produk­tion vor der ausser­eu­ro­päi­schen Konkur­renz zu schützen, die nach wie vor gröss­ten­teils ohne CO2-Preis produ­zieren kann.

…anstatt mit Gratisemissionsberechtigungen

Dabei ist der Klima­zoll nicht die erste Mass­nahme, die verhin­dern soll, dass Emis­sionen oder ganze Produk­ti­ons­an­lagen ins Ausland abwan­dern. Viel­mehr möchte die EU mit dem neuen Klima­zoll die soge­nannten Gratis­zu­tei­lungen, die aktu­elle Präven­ti­ons­mass­nahme gegen Carbon Leakage, ablösen.

Die grössten Klima­ver­schmutzer dürfen ihre Klima­gase Stand heute sowohl in der EU als auch in der Schweiz im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem (EHS) abrechnen. Damit müssen sie der jewei­ligen Landes­re­gie­rung für jede Tonne Klima­gase ein Emis­si­ons­recht, genannt Zerti­fikat, abgeben. Diese Zerti­fi­kate werden gehan­delt und kosten momentan rund 80 Franken. Nur: Für die aller­mei­sten dieser Zerti­fi­kate müssen die EHS-Firmen gar nichts bezahlen. Denn, und das klingt nun ein wenig absurd, sie bekommen den Gross­teil dieser Emis­si­ons­rechte von der jewei­ligen Regie­rung geschenkt. In der Schweiz werden diese Gratis­rechte vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) an die EHS-Firmen verteilt. Auf diesem Weg erhalten sie rund 90 bis 95 Prozent der Emis­si­ons­be­rech­ti­gungen gratis.

Firmen, die ihre Klima­ko­sten unter dem Emis­si­ons­han­dels­sy­stem abrechnen dürfen, bezahlen keine CO2-Abgabe. Statt­dessen müssen sie für jede ausge­stos­sene Tonne CO2 ein entspre­chendes Zerti­fikat erwerben. Diese Zerti­fi­kate sind nichts anderes als Emis­si­ons­rechte. Dabei gibt es nur eine bestimmte Menge an Zerti­fi­katen und diese Menge, der soge­nannte Cap, wird schritt­weise gesenkt. Diese Verknap­pung soll den Preis der Zerti­fi­kate erhöhen. Seit dem 1. Januar 2020 ist das Schweizer EHS mit dem euro­päi­schen EHS verknüpft.

Die Firmen können die Zerti­fi­kate auf zwei Arten beziehen: Entweder sie erwerben sie käuf­lich oder sie bekommen sie geschenkt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) verteilt jedes Jahr eine grosse Menge an Gratis­zer­ti­fi­katen an die Schweizer EHS-Firmen, um Carbon Leakage zu verhin­dern. In der Handel­s­pe­riode von 2013 bis 2020 mussten alle Schweizer EHS-Firmen zusammen 39 Millionen Zerti­fi­kate abgeben. Vom BAFU wurden 38 Millionen Zerti­fi­kate gratis verteilt.

Wichtig: Die Zerti­fi­kate im Emis­si­ons­han­dels­sy­stem sind nicht an Projekte gekop­pelt, die der Atmo­sphäre Klima­gase entziehen, wie man das zum Beispiel von Kompen­sa­tionen für Flug­reisen kennt. Bei diesen frei­wil­ligen Kompen­sa­ti­ons­zah­lungen spricht man zwar oft auch von “Zerti­fi­katen”, diese haben aber nichts mit dem EHS zu tun.

Wer darf beim EHS mitmachen?

Grund­sätz­lich sind im EHS die Firmen aus den Bran­chen mit den höch­sten Treib­haus­gas­emis­sionen vertrete, die gleich­zeitig auch in einem inter­na­tio­nalen Wett­be­werb stehen. Momentan sind das rund 100 Firmen aus der Metall‑, Zement‑, Chemie‑, Papier- oder Holz­in­du­strie. Kurzum: Im EHS versam­meln sich die Gross­kon­zerne aus der Ener­gie­pro­duk­tion und der Schwerindustrie.

Der über­wie­gende Teil der Schweizer Firmen darf aber nicht am EHS teil­nehmen. Diese zahlen statt­dessen für jede Tonne Klima­gase eine CO2-Abgabe von 120.– Franken.

Wie wird bestimmt, wer wie viele Gratis­zer­ti­fi­kate erhält?

Die Anzahl Gratis­zer­ti­fi­kate, die eine Firma vom BAFU erhält, ist von zwei Faktoren abhängig. Einer­seits erhalten Firmen, die bereits eine gute CO2-Bilanz haben, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate als solche, die schlecht dastehen. Was man dabei aber nicht vergessen darf: Auch Firmen, die in diesem Ranking zu den besten zählen, emit­tieren immer noch Unmengen an Klimagasen.

Ander­seits erhalten Firmen, die für ihre Produkte den soge­nannten Carbon-Leakage-Status bean­spru­chen, mehr Gratis­zer­ti­fi­kate als solche ohne. Von Carbon-Leakage spricht man dann, wenn die Klima­gas­emis­sionen wegen hoher Abgaben, Steuern oder anderen Klima­schutz­mass­nahmen in ein anderes Land verla­gert werden, in dem es billiger ist, CO2 zu emittieren. 

Im Schweizer EHS haben prak­tisch alle privat­wirt­schaft­li­chen Indu­strie­kon­zerne zumin­dest teil­weise den Carbon-Leakage-Status. Viele Schweizer EHS-Firmen erhalten deshalb gar mehr Zerti­fi­kate, als sie für ihre eigenen Emis­sionen brau­chen und konnten eine beträcht­liche Menge EHS-Zerti­fi­kate beisei­te­legen. Diese Reser­ve­bil­dung schwächt die Wirkung des EHS-Konzepts ab. Über­schüs­sigen Emis­si­ons­rechte konnen weiter­ver­kauft werden.

Recher­chen von das Lamm zeigen: Der Bund erliess den grössten Umwelt­ver­schmut­zern von 2013 bis 2020 rund drei Milli­arden Franken an CO2-Abgaben. Der Wert der Emis­si­ons­rechte, die die Konzerne beisei­te­legen konnten, beläuft sich auf schät­zungs­weise 361 Millionen Franken. Wie viel Geld die einzelnen Gross­kon­zerne durch ihre Teil­nahme am EHS einsparen könnten, errech­nete das Lamm in der Serie „Eine Flat­rate auf Monster­emis­sionen“.

Die Begrün­dung für diesen Zerti­fi­kats­segen: Mit der Zutei­lung von Gratis­e­mis­si­ons­rechten will der Bund den CO2-Kosten­druck auf die Schwer­indu­strie tief halten und damit verhin­dern, dass es zu Carbon Leakage kommt. Während also ein Klima­zoll dadurch Wett­be­werbs­gleich­heit errei­chen möchte, dass alle gleich viel bezahlen müssen, soll mit den Gratis­e­mis­si­ons­rechten Carbon Leakage dadurch verhin­dert werden, dass alle gleich wenig bezahlen.

Die Katze beisst sich also in den eigenen Schwanz. Eigent­lich wollte man mit dem EHS durch die Beprei­sung der Emis­sionen einen Kosten­druck erzeugen, der Unter­nehmen dazu veran­lassen sollte, schnell in die Dekar­bo­ni­sie­rung zu inve­stieren. Weil das Ganze aber tatsäch­lich funk­tio­niert hätte, fingen die Staaten an, die Emis­si­ons­rechte zu verschenken. So konnten sie verhin­dern, dass die Emis­sionen oder Konzerne samt den Steu­er­ein­nahmen und Arbeits­plätze ins Ausland abwan­dern, wo deren Dekar­bo­ni­sie­rung nicht mehr kontrol­lieren werden könnte. Die Folge: Den ursprüng­lich erhofften CO2-Kosten­druck gibt es bis heute nicht.

Gratis­ver­schmut­zung in 10 Jahren zu Ende

Die Absur­dität dieses Systems blieb nicht unbe­merkt: Deshalb will die EU die Gratis­e­mis­si­ons­rechte nun runter­fahren und durch Zölle ersetzen. Michael Bloss, klima­po­li­ti­scher Spre­cher der deut­schen Grünen und Verhand­lungs­führer für die grüne Partei im EU-Parla­ment, schreibt dazu auf seiner Webseite: „Die kosten­lose Verschmut­zungs­party hat ein Ende [...]. Bis 2030 werden die kosten­losen Emis­si­ons­zer­ti­fi­kate fast halbiert und bis 2034 komplett gestrichen.“

Während die EU die Gratis­e­mis­si­ons­rechte als Schutz gegen Carbon Leakage langsam runter­fährt, wird sie den Klima­zoll oder – wie er auch genannt wird – den CO2-Grenz­aus­gleich zeit­gleich hoch­fahren. Dies geschieht bedacht langsam: 2026 fallen den Konzernen erst 2.5 Prozent der Gratis­rechte weg, 2027 werden es 5 Prozent sein. Erst 2034 schafft die EU die Gratis­ver­schmut­zungs­rechte voll­ständig ab.

7 Konzerne, 12 Produk­ti­ons­stand­orte, 6 Prozent aller Emissionen

Zurück in die Schweiz: Während die Gratis­e­mis­si­ons­rechte auch hier­zu­lande im Gleich­schritt mit der EU redu­ziert werden sollen, will man jedoch auf die Einfüh­rung eines Klima­zolls als neue Präven­ti­ons­mass­nahme gegen Carbon Leakage verzichten.

Dagegen wehren sich nun dieje­nigen Konzerne, bei denen in Zukunft weniger Gratis­e­mis­si­ons­rechte landen sollen. Viele sind das nicht. In der Schweiz sind es ledig­lich sieben Konzerne mit zwölf Produk­ti­ons­stand­orten, die sowohl im EHS sind als auch vom Klima­zoll betroffen wären. Aus der Zement­branche sind das Holcim, die Jura-Cement-Fabriken und Ciments Vigier. Aus der Stahl­ver­ar­bei­tung Steeltec und Stahl Gerla­fingen. Und aus der Alumi­ni­um­branche Constel­lium Valais und Novelis.

Die sieben betrof­fenen Konzerne verur­sa­chen sechs Prozent der Schweizer Inlandemissionen.

Diese sieben Konzerne verur­sa­chen gemeinsam statt­liche sechs Prozent der gesamten Inlands­emis­sionen der Schweiz. Das hält sie jedoch nicht davon ab, – vermeint­lich im Namen des Klima­schutzes vom Bund – mehr Enga­ge­ment für einen CO2-Grenz­aus­gleich zu fordern.

„Statt Konse­quenz beim Klima­schutz erwartet die betrof­fenen Indu­strien nun Unge­wiss­heit und ungleiche Wett­be­werbs­be­din­gungen mit dem Ausland – zu Lasten der Umwelt“, schreibt zum Beispiel cemsu­isse, der Inter­es­sen­ver­band der Schwei­ze­ri­schen Zement­in­du­strie, in seiner Medi­en­mit­tei­lung. Die zentrale Forde­rung der Zement­branche sind gleiche Wett­be­werbs­be­din­gungen: „Es geht nicht an, klima­po­li­ti­sche Verschär­fungen via Anpas­sungen im EHS vorzu­nehmen, ohne gleich­zeitig entste­hende Wett­be­werbs­ver­zer­rungen für Schweizer Unter­nehmen zu korri­gieren.“ Schweizer Unter­nehmen würden gleich lange Spiesse mit ihrer Konkur­renz im Ausland benö­tigen, schreibt cemsu­isse weiter.

Was der Dach­ver­band dabei nicht erwähnt: Es ist gerade die Zement­branche, die zusammen mit weiteren Bran­chen der Schwer­indu­strie im Moment einen weitaus besseren Deal hat hinsicht­lich ihrer CO2-Kosten als die aller­mei­sten „normalen“ Schweizer Unternehmen.

Firmen, die im EHS abrechnen dürfen, sind von der CO2-Abgabe auf fossile Brenn­stoffe befreit.

Denn im EHS erhalten sie nicht nur die aller­mei­sten Emis­si­ons­be­rech­ti­gungen umsonst, sondern sie sind auch von den 120 Franken CO2-Abgabe befreit, die „normale“ Firmen und auch alle Privat­per­sonen pro Klima­gastonne aus fossilen Brenn­stoffen in der Schweiz bezahlen müssen.

Das Lamm hat in einer kürz­lich erschie­nenen Inve­sti­gativ-Recherche über das Emis­si­ons­han­dels­sy­stem berechnet, was das genau heisst. Obwohl es sich bei Holcim, Stahl Gerla­fingen und Co. unum­stritten um die klima­schäd­lich­sten Firmen der Schweiz handelt, wurde ihnen in den letzten Jahr­zehnten nicht nur die CO2-Abgabe erlassen (1. Spalte), sie erhielten im Namen der Carbon-Leakage-Präven­tion auch Unmengen an Gratis­e­mis­si­ons­rechten geschenkt. Die CO2-Kosten via EHS fielen für sie dementspre­chend klein aus (2. Spalte).

Viele Firmen erhielten gar mehr Gratis­e­mis­si­ons­rechte, als sie für ihre eigenen Emis­sionen selbst brauchten. Die über­schüs­sigen Berech­ti­gungen können sie verkaufen (3. Spalte). 

Eine Möglich­keit, von der die Firmen durchaus Gebrauch machen. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch im EU-Ausland, wie eine fran­zö­sisch-spani­sche Recherche kürz­lich publik machte. „Wie aus einer Umwelt­mass­nahme ein milli­ar­den­schweres Fiasko wurde“, titelt el Diario, ein spani­sches Online­me­dium. „Wie umwelt­ver­schmut­zende Unter­nehmen kosten­lose CO2-Zerti­fi­kate in einen Milli­ar­den­markt verwan­delt haben“, liest man bei der Tages­zei­tung Le Monde.

Die Vorwürfe von cemsu­isse, dem Verband der Schwei­ze­ri­schen Zement­in­du­strie haben es in sich: „Der Bundesrat setzt mit diesem Entscheid minde­stens implizit darauf, CO2-inten­sive Wirt­schafts­ak­ti­vi­täten aus der Schweiz ins Ausland zu verla­gern, um damit die Klima­bi­lanz der Schweiz […] zu beschönigen.“

Damit hat der Verband nicht per se Unrecht: Bereits heute verur­sacht die Schweiz im Durch­schnitt pro Person sieben von zwölf Emis­si­ons­tonnen im Ausland. Lang­fri­stig könnte es ohne Klima­zoll dazu kommen, dass dieser Anteil noch weiter zunimmt.

Gleich­wohl ist auch hier die Kommu­ni­ka­tion von cemsu­isse nicht ganz ehrlich. In der bereits zitierten Medi­en­mit­tei­lung schreibt der Dach­ver­band, dass sich die Zemen­tim­porte aus Nicht-EU-Ländern in die EU seit 2016 bereits vervier­facht hätten. Damit will der Dach­ver­band die Dring­lich­keit aufzeigen, den heimi­schen Markt vor billi­gerem auslän­di­schem Zement zu schützen.

Nur: Laut den haus­eignen Kenn­zahlen von cemsu­isse haben die Zemen­tim­porte in die Schweiz in den letzten Jahren – anders als in der EU – nicht zu genommen, sondern blieben stabil. Eine akute Carbon Leakage-Gefahr sieht anders aus.

Dass es Carbon Leakage gibt, ist unter Expert*innen unum­stritten. Ebenso dass nicht alle Bran­chen gleich stark davon betroffen sind. Vor allem in einer stark lokal geprägten Indu­strie wie der Zement­her­stel­lung ist unklar, wie hoch das Carbon Leakage-Level ohne Präven­tiv­mass­nahmen tatsäch­lich wäre.

Deswegen und ange­sichts der Tatsache, dass die Schweizer Regie­rung es nun wagt, zumin­dest vorerst die Gratis­e­mis­si­ons­rechte an die Zement‑, Stahl- und Alu-Branche runter zu fahren, ohne gleich­zeitig sofort einen Klima­zoll einzu­führen, stellt sich auch noch eine viel grund­sätz­li­chere Frage: Ist die Schweizer Politik viel­leicht einfach zu nett mit einigen der grössten Klima­gas­schleu­dern der Schweiz?

Milli­arden verschenkt

Hierzu ein Beispiel: Holcim, der grösste Zement­her­steller der Schweiz, hatte dank der Carbon-Leakage-Präven­tion in Form von Gratis­zer­ti­fi­katen von 2013 bis 2020 folgenden Deal: Anstatt wie alle anderen 833 Millionen Franken CO2-Abgabe zu bezahlen, musste der Beton­riese im EHS schät­zungs­weise nur 1.8 Millionen Franken für seine Klima­gase hinlegen. Gleich­zeitig hat Holcim mehr Gratis­e­mis­si­ons­rechte erhalten, als der Konzern für seine eigenen Emis­sionen verbrauchte. Diese über­schüs­sigen Zerti­fi­kate kann Holcim weiter­ver­kaufen. Mit dem aktu­ellen Zerti­fi­kats­preis von rund 80 Franken hat Holcim über­schüs­sige Emis­si­ons­be­rech­ti­gungen im Wert von über 200 Millionen Franken.

Viele Firmen erhielten gar mehr Gratis­e­mis­si­ons­rechte, als sie für ihre eigenen Emis­sionen selbst brauchten.

Ähnlich sehen die Zahlen bei den anderen sechs Konzernen aus, bei denen nun Gratis­e­mis­si­ons­rechte wegfallen werden, ohne dass ein schüt­zender Klima­zoll hoch­ge­zogen wird.

Wer im Glas­haus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Oder anders: Wer gleich lange Spiesse für alle fordert, sollte auch bereit sein, den eigenen Spiess zu kürzen, falls der zu lang sein sollte.

Trotz allem ist das Nein zum Klima­zoll mutlos

Sich nun aber einfach zu denken: “Recht ist es. Sollen die grossen Verschmutzer*innen auch mal bezahlen”, würde der Komple­xität der inter­na­tio­nalen Klima­po­litik nicht gerecht werden. Zudem entspringt das bundes­rät­liche Nein kaum dem Wunsch, ein paar Schweizer Gross­kon­zernen eins auszu­wi­schen. Laut dem erklä­renden Bericht der Landes­re­gie­rung führten drei andere Punkte zu diesem Entscheid:

Erstens: Der nun kommende EU-Klima­zoll ist der erste seiner Art. Die Detail­aus­ge­stal­tung ist noch unklar und somit auch, ob ein Klima­zoll mit den Regeln der Welt­han­dels­or­ga­ni­sa­tion (WTO) vereinbar ist oder nicht. Ein zentraler Punkt wird hierbei sein, was mit den zusätz­li­chen Einnahmen geschieht – ob sie die EU selbst einsackt oder ob sie beispiels­weise über Klima­an­pas­sungs­fi­nan­zie­rung in Länder des globalen Südens fliessen, die schlichtweg nichts zur Klima­krise beigetragen haben. Das sind der Schweizer Landes­re­gie­rungen zu viele Ungewissheiten.

Zwei­tens: Der EU-Klima­zoll wird Voll­zug­ko­sten mit sich bringen. Diese könnten laut Berech­nungen des Bera­tungs­büros Ecoplan jähr­lich zwischen 6 und 17 Millionen Franken betragen. Das ist zwar nicht nichts, aber im Vergleich zum Wert der aktuell jähr­lich verschenkten Gratis­e­mis­si­ons­rechte trotzdem verschwin­dend klein.

Drit­tens: Nicht nur die sieben EHS-Konzerne wären von einem Schweizer Klima­zoll betroffen, sondern auch alle Schweizer Firmen, die ausser­halb der EU Zement, Stahl und Alu einkaufen. Für sie würden sich diese Produkte verteuern, da die Stahl­fa­brik in der Türkei, um wieder beim Eingangs­bei­spiel zu landen, zumin­dest einen Teil des Klima­zolls an die Kund­schaft weiter­rei­chen wird. Das Nein vom Bundesrat zu einem Klima­zoll ist also nicht nur eine Entschei­dung gegen die Inter­essen von ein paar Gross­kon­zernen, sondern auch eine für die Inter­essen der verar­bei­tenden KMUs.

Abwarten und Zuschauen

Der eigent­liche Grund, weshalb der Bund auf die Einfüh­rung des Klima­zolls vorerst verzichtet, ist vermut­lich aber noch viel simpler: Weil er es kann. 

Wegen des ziem­lich unam­bi­tio­nierten Starts des EU-Klima­zolls werden die Auswir­kungen auf die heimi­sche Schwer­indu­strie noch ein wenig auf sich warten lassen. Holcim und Co. werden noch jahre­lang von gross­zügig zuge­teilten Gratis­e­mis­si­ons­rechten profi­tieren. Das verschafft dem Bund Zeit. Zeit, um zu beob­achten, wie das mit diesem Klima­zoll genau gehen wird.

Nur mit einem Klima­zoll kann die EU die grössten Klima­gas­schleu­dern endlich ange­messen zur Kasse bitten.

Das ist letzten Endes eine mutlose Posi­tio­nie­rung. Ein Klima­zoll macht aus Sicht der inter­na­tio­nalen Klima­po­litik Sinn. Denn er wird, wie eingangs vom deut­schen Klima­mi­ni­ster Habeck betont, seine Wirkung über die EU hinaus entfalten. CO2-Kosten, die bereits im Herkunfts­land anfallen, können vom EU-Klima­zoll abge­zogen werden. Das verstärkt für ausser­eu­ro­päi­sche Länder den Anreiz, selbst einen CO2-Preis einzu­führen.

Zudem: Nur mit einem Klima­zoll kann die EU die grössten Klima­gas­schleu­dern endlich ange­messen zur Kasse bitten, ohne Angst vor dem Schreck­ge­spenst Carbon Leakage haben zu müssen.


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