Körper in der Krise

In der Pandemie wie an den Grenzen Europas wird mit Körpern Politik gemacht. Manche Körper werden heilig­ge­spro­chen, andere abge­wertet. Timo Krstin plädiert für eine bewusste Poli­ti­sie­rung und den soli­da­ri­schen Einsatz aller Körper im Kampf um gesell­schaft­liche Freiheit. 
Nicht nur in der Krise können Körper politisch sein. (Foto: Matteo Vistocco / unsplash)

Es ist Winter. An der Grenze zwischen Polen und Belarus werden Menschen, die von ihrem Recht Gebrauch machen wollen, in der EU einen Asyl­an­trag zu stellen, unter freiem Himmel bei kata­stro­phalen Bedin­gungen fest­ge­halten und im Dreck eingepfercht.

Minde­stens sieben Geflüch­tete sind schon gestorben, mit weiteren Toten ist zu rechnen.

Wer aus Verzweif­lung – und wie gross muss diese Verzweif­lung sein? – versucht, sich einen Weg durch die Wälder und über den Stachel­draht zu bahnen, wird mit Tränengas und Knüp­peln zurück­ge­schlagen, darunter Kinder, Schwan­gere, kranke Menschen.

Während Europa im Jahr 2015 noch seine Will­kom­mens­kultur feierte, heisst es heute: Tja, da kann man leider nichts machen. Restlos alle haben sich auf diesen Stand­punkt zurückgezogen.

Im Ergebnis sehen wir auf den wenigen Bildern, die über­haupt noch bei uns ankommen, nicht mehr Menschen mit Rechten. Wir sehen entrech­tete, entwer­tete Körper im Niemandsland.

Para­do­xer­weise liegt der Grund für dieses Verbre­chen ausge­rechnet in einer verbrei­teten Angst davor, dass von der Ankunft einiger weniger Schutz­be­dürf­tiger wieder die ultra­rechte Unmensch­lich­keit von AFD bis SVP profitiert.

Das ist lächerlich.

Diese Unmensch­lich­keit hat längst gewonnen. Aus Angst vor den Rechten sind wir alle in unserem Denken und Handeln so weit nach rechts gerückt, dass Zustände und Taten wie an der Grenze zu Belarus ohne grös­seren Wider­spruch akzep­tiert werden.

Kein Aufschrei, keine Empörung.

Glei­ches gilt für das Argu­ment: Weil Putin und Lukaschenko die Menschen miss­brau­chen, um Europa zu erpressen und zu desta­bi­li­sieren, müsse man hart bleiben. Würden wir die Selbst­ver­ständ­lich­keit gere­gelter Asyl­ver­fahren garan­tieren, stünden die beiden auto­ri­tären Herr­scher ziem­lich doof da. Dann hätten sie aktiv daran mitge­wirkt, dass Europa zeigen kann, wie es besser geht: mit soli­da­ri­scher Zusam­men­ar­beit statt natio­na­li­sti­schem Grenzkampf.

Europa hat sich aus Angst vor dem Tod selbst erschossen.

Von Politiker:innen und Parteien ist also nicht mehr viel zu erwarten. Aber auch auf Seiten der Zivil­ge­sell­schaft sieht es nicht besser aus. Im Vergleich zu 2015 ist das Inter­esse gering. Nur noch wenige NGOs setzen sich mit der brutalen Frei­heits­be­rau­bung, die den Menschen an der Grenze wider­fährt, wirk­lich ausein­ander. Eine soli­da­ri­sche Bewe­gung aus der Gesell­schaft heraus gibt es nicht.

Und das, obwohl durchaus argu­men­tiert werden kann, dass an der polnisch/belarussischen Grenze auch unser aller Frei­heit infrage steht. Wenn wir uns an diese Art staat­li­cher Repres­sion noch weiter gewöhnen, dann ist in der näch­sten Krise wirk­lich alles denkbar.

Trotzdem: Kaum eine Diskus­sion zur Frage, ob der Staat darf, was dort an der Grenze passiert, ob die Knüppel und das Tränengas nicht auch Anzei­chen neuer staat­li­cher Allmachts­fan­ta­sien sind, die sich irgend­wann gegen alle richten werden. Da macht es keinen Unter­schied, dass sich das aktu­elle Drama in Polen abspielt. Die Bilder tragen auch in der Schweiz zur Gewöh­nung an staat­liche Über­griffe bei.

Nein, bei uns wird statt­dessen ausführ­lich ein anderes Frei­heits­pro­blem disku­tiert: Darf die Gesell­schaft von mir verlangen, dass ich mich zu meinem eigenen und zum Wohl anderer impfen lasse? Die Gegner:innen denken: Nein – und argu­men­tieren selbst mit Frei­heit und Angst vor Gewöh­nung an staat­liche Macht.

Die Paral­lelen müssen einmal benannt werden. Sie helfen, einen Begriff von Frei­heit zu schärfen, den wir Linke um jeden Preis vertei­digen sollten. Viele Impfgegner:innen vertreten tatsäch­lich eine Frei­heits­vor­stel­lung, wie sie im Umgang mit Geflüch­teten auch von den Rechten benutzt wird. Es geht um die Frei­heit der Einzelnen, sich nicht mit den Problemen dieser Welt befassen zu müssen.

Diese Frei­heit des Indi­vi­duums beruht auf der sehr alten Vorstel­lung, dass Souve­rä­nität nur über Abgren­zung von Anderen herge­stellt werden kann. Der Staat, in noch älteren Versionen das Volk, muss seine Grenzen ziehen und vertei­digen, um inner­halb dieser Grenzen souverän und frei zu sein. Entspre­chend gilt die Einzelne nur als frei, wenn sie ganz allein und ohne Rück­sicht­nahme auf andere über ihren Körper entscheidet.

So wie seit 2015 die Staats­grenze wieder als uner­läss­lich für Frei­heit und Souve­rä­nität eines Landes behauptet wird – heute nicht mehr nur durch rechts­kon­ser­va­tive sondern zuneh­mend auch linke Kräfte wie etwa Sahra Wagen­knecht – und die huma­ni­täre Verpflich­tung von Staat und Gesell­schaft als äusserer Zwang abge­lehnt werden, stemmen sich Impfgegner:innen gegen eine Gesell­schaft, die für das Gemein­wohl ihre heiligste Grenze, die Grenze zum Körper, über­schreiten will: Niemand darf mich zur Impfung zwingen, heisst es, denn das ist mein privater Körper über den ausschliess­lich ich ein souve­ränes Frei­heits­recht ausübe.

Um es fest­zu­halten: Impf- und Asylgegner:innen sind nicht iden­tisch. Sie gehören oft sehr unter­schied­li­chen gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Gruppen an. Wenn sie aber für ihre Frei­heit auf die Strasse gehen, sieht man sie in letzter Zeit nicht umsonst oft Hand in Hand. Sie stehen für das gleiche Konzept von Frei­heit ein; und dieses Konzept basiert auf einer Art Privat­ei­gentum am Körper, am Staats- genauso wie am biolo­gi­schen Körper.

Diese Art von Frei­heit muss aus zwei Gründen bekämpft und zurück­ge­drängt werden:

Die auf Abgren­zung setzende indi­vi­du­elle Frei­heit blendet immer die wahren Opfer der Krise aus und konstru­iert ein eigenes Opfer­n­ar­rativ für die privi­le­gierte Ober­schicht. SVP und AFD jammern ständig über die armen Inländer:innen, für die ange­sichts der vielen Geflüch­teten kein Geld und keine Zeit mehr bleiben. Impfgegner:innen finden noch in der Hühner­haut nach der Spritze Anzei­chen für mögliche schwere Neben­wir­kungen, unter denen sie viel­leicht ihr Leben lang zu leiden haben werden. Die Opfer der Krise aber, die wirk­lich leiden und wirk­lich ihrer Frei­heit beraubt wurden, werden in beiden Fällen absicht­lich vergessen.

Gleich­zeitig führt die rein indi­vi­du­elle Frei­heit dazu, dass wir am Ende alle unsere Frei­heit verlieren. An den Aussen­grenzen lernt der Staat, richtig zuzu­schlagen, und wird sich damit zwangs­läufig irgend­wann nach innen wenden. All die rechts­na­tio­nalen Regime in Europa legen davon Zeugnis ab, mag die Schweiz im Moment auch noch recht gut dastehen.

Vergleich­bare Auswir­kungen hat die Impf­geg­ner­schaft. In der Pandemie werden Theater, Schulen und die meisten anderen Orte des öffent­li­chen Lebens viel­leicht bald schon wieder schliessen, auch weil zu viele Menschen ihre Körper­grenze gegen das Gemein­wohl vertei­digt haben. Sie lassen sich nicht impfen und nehmen lieber hin, dass alle ihrer Frei­heit beraubt werden.

Genau hier sollten wir ansetzen und einen linken Begriff von Frei­heit stark machen, der am Ende auch wirk­lich zu freieren Verhält­nissen führt. Gemeint ist die Frei­heit, die sich ein Kollektiv oder eine Gesell­schaft selbst im Ausnah­me­zu­stand erhalten kann, wenn jede Einzelne soli­da­risch ihren Teil beiträgt; auch und gerade unter kleinen Einschrän­kungen der eigenen Frei­heit oder sogar der Inkauf­nahme einer gewissen Selbstverletzung.

Dafür ist es nötig, dass ich meinen Körper nicht nur als Privat­ei­gentum betrachte, sondern auch als Poli­tikum, als Mittel zur Vertei­di­gung der Frei­heit anderer. Ja, ich nehme mit der Impfung ein gewisses Risiko für meinen Körper in Kauf, damit die Gemein­schaft freier leben kann. Für das Problem der Staats­grenzen würde das bedeuten: Der Staats­körper sollte eine Verlet­zung seiner Grenzen akzep­tieren, um Geflüch­teten zu helfen, weil er damit zu einer frei­heit­li­chen, soli­da­ri­schen Gesell­schaft beiträgt – das Gegen­teil führt in die Repression.

Leider sind wir mit Blick auf die Situa­tion am Grenz­streifen zwischen Belarus und Polen über die Möglich­keit einer solchen einfa­chen Lösung lange hinaus. Die euro­päi­schen Staaten haben sich der rechten indi­vi­du­ellen Frei­heit ergeben und vertei­digen ihre Grenzen gegen alles, was sich vermeint­lich von aussen aufdrängt. Auf diesen Staats­körper sollten wir nicht mehr hoffen.

Aber viel­leicht sind wir trotzdem nicht ganz machtlos. Viel­leicht können wir uns auf das Pande­mie­bei­spiel besinnen und uns erin­nern, dass wir neben dem Staats­körper auch noch über einen sehr gut poli­ti­sier­baren biolo­gi­schen Körper verfügen. Der Körper wird in der Pandemie von allen Seiten als Mittel im Streit der poli­ti­schen Inter­essen benutzt. Als letzte Instanz könnte er auch von uns einge­setzt werden, um die Entwer­tung mensch­li­chen Lebens an den Grenzen zu bekämpfen.

Es sind die Körper der Geflüch­teten, die wir so lange entmensch­licht haben, dass sie jetzt kaum mehr zählen. Wir haben sie rassi­stisch und natio­na­li­stisch entleert und entwertet.

Wenn wir im Gegenzug unsere eigenen Körper nicht als Privat­ei­gentum betrachten wollen, dann sollten wir diese Körper jetzt – ähnlich wie bei der Impfung – für die Frei­heit der anderen aufs Spiel setzen. Wir sollten unsere Körper, die einzig aufgrund unserer hyper­pri­vi­le­gierten Lebens­si­tua­tion vor dem Staat einen höheren Wert besitzen, spenden: die Grenzen besetzen.

Ein paar Zehn­tau­send Menschen, die sich mit ihren euro­päi­schen Pässen als höher­wertig auszeichnen, könnten sich anketten, so lange, bis auch der Wert der anderen wieder aner­kannt wird. Das ist eine kleine Selbst­ver­let­zung – eine Grenz­über­schrei­tung am privi­le­gierten Körper –, die wir unbe­dingt auf uns nehmen sollten. Beson­ders wenn wir in Argu­men­ta­tion zum Beispiel mit Impfgegner:innen darauf bestehen, dass der Körper, egal welcher, kein Privat­ei­gentum ist, sondern politisch.

Dass es funk­tio­niert, können alle bestä­tigen, die schon mal in einem inof­fi­zi­ellen Flücht­lings­camp auf dem Balkan oder in Grie­chen­land ausge­holfen haben. Schon ihre blosse körper­liche Anwe­sen­heit als privi­le­gierte Europäer:innen kann die schlimm­sten staat­li­chen Über­griffe gegen Geflüch­tete verhin­dern. Nicht umsonst riegelt Polen seine Grenz­ge­biete gerade gegen Menschen aus der EU genauso rigoros ab wie gegen Geflüch­tete. Man will nicht, dass sich die unter­schied­lich poli­tisch aufge­la­denen Körper gegen­seitig stützen, ergänzen, dass sie sich in ihrer Wertig­keit angleichen.

Mit Occupy gab es schon einmal eine Bewe­gung, die versuchte, den Körper als Instru­ment soli­da­ri­scher Politik ins Spiel zu bringen. Damals durch die Beset­zung öffent­li­cher Räume im Kampf gegen das Kapital. Heute sollten wir zeigen, dass der poli­ti­sierte Körper seine Macht auch gegen den staat­li­chen Repres­si­ons­ap­parat in Stel­lung bringen kann.


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