Das Lamm: Kryptowährungen entstanden nach der Finanzkrise 2008. Mit ihrer Hilfe sollte ein Finanzmarkt geschaffen werden, der abseits von Gross- und Zentralbanken funktioniert: dezentral und unabhängig. Das klingt aus linker Perspektive wie eine vielversprechende Idee. Trotzdem kritisieren Sie Kryptowährungen und Blockchain seit Jahren vehement. Warum?
Jürgen Geuter: Anknüpfungspunkte von links sind tatsächlich da: Ein Finanzsystem, das ohne Hierarchien funktioniert, das hat anarchistisches Potenzial. Aber es geht um die grundlegende Frage: Wie soll Ökonomie funktionieren? Und wenn man diese Frage an den Kryptomarkt stellt, landet man politisch weit rechts. Denn Kryptowährungen basieren auf marktradikalen Ideen: Geld darf nicht gesellschaftlich oder politisch kontrolliert und reguliert werden. Mitspracherecht ist zudem an finanzielle Mittel geknüpft. Das ist letztlich die Abschaffung des Staats und jeder politischen Regulierung. In der Kryptowelt soll es keine politische Mitbestimmung oder gar Menschenrechte geben, sondern nur Märkte.
Kryptowährungen sind digitale Währungen, die nicht von Gross- und Zentralbanken reguliert werden. Sie basieren meistens auf sogenannten Blockchains (siehe nächste Infobox) und werden als digitaler Code in einer persönlichen sogenannten „Wallet“ gespeichert. Bitcoin ist die grösste von vielen Kryptowährungen. Andere wichtige Währungen heissen Ethereum oder Monero. Sie alle basieren auf der Blockchain, funktionieren in den Details aber unterschiedlich. Die Schaffung neuer Coins funktioniert nicht bei jeder Währung gleich. Bei Bitcoin etwa können Nutzer*innen mathematische Aufgaben lösen, um neue Bitcoins zu „schürfen“. Diesen Prozess nennt man „Mining“.
Für viele, die in Kryptowährungen investieren, ist der Vorteil deren Anonymität: Der Handel lässt sich nur schwer auf einzelne Personen zurückführen. Auch deswegen war Bitcoin – insbesondere am Anfang seiner Verbreitung – dafür bekannt, dass er von Drogendealer*innen im Darknet verwendet wird. „Smart Contracts“ sind Programme, die auf der Blockchain liegen und Verträge zwischen zwei Parteien technisch abwickeln können, ohne deren Identität preiszugeben.
Anina Ritscher
Wenn Sie sagen „politisch rechts“, – was genau meinen Sie damit?
Zum einen diesen marktliberalen, antidemokratischen Gedanken, den ich eben beschrieb. Das analysierte etwa David Golumbia in seinem Buch „The Politics of Bitcoin“. Aber man findet in der Kryptoszene auch stark antisemitische Ideologien. Eine Idee ist weit verbreitet: Der Staat wolle viel Geld unter seine Kontrolle bringen, um es durch Inflation zu entwerten. Das sei ein bewusst gesteuerter Prozess irgendwelcher Eliten, die wiederum oft als jüdisch markiert werden. Der Name Rothschild oder die Bilderberger werden in dem Zusammenhang immer wieder genannt – klassische antisemitische Chiffren.
Gleichzeitig gibt es berechtigte, linkspolitisch motivierte Gründe, sich von den Zentralbanken zu lösen. Kryptowährungen können dazu doch sicherlich etwas beitragen?
Kaum. In einer linken Vorstellung funktioniert ein hierarchiefreies System doch so: Man lässt unterschiedliche Standpunkte aufeinanderprallen und diskutiert so lange, bis man den Konflikt auflösen kann. Da geht es um die Debatte, um Argumente. In der Welt der Kryptowährungen läuft das ganz anders: Es regiert, wer am meisten Geld hat. Auf diesem Prinzip basiert die Technologie der Kryptowährungen. Die Herrschaft der Reichen wird aber unsichtbar gemacht, denn der digitale Reichtum ist nicht auf die Identität einer Person zurückzuführen.
Es gibt auch, anders als in einer linken Vorstellung, keine gemeinsame politische Wertvorstellung in der Kryptoszene. Ausser dem Bestreben, gemeinsam reich zu werden und die Welt zu regieren. Daher kommt der in der Szene beliebte Slogan: „We‘re all gonna make it“, oder kurz: WAGMI. Es heisst nicht „we the people“, sondern wir, die wir mit Bitcoin handeln. Diese Menschen streben eine Welt an, in der sie die neue herrschende Klasse sind, weil sie Kryptowährung besitzen und andere nicht.
Jürgen Geuter aka tante arbeitet als Berater, Autor und De-Evangelist an den Schnittstellen von Technologie, Gesellschaft und Politik. Er ist Gründungsmitglied des transdisziplinären Otherwise Network. Er lebt in Berlin und im Internet.
Eine letzte Projektion: Politisch Verfolgte können sich vor dem Zugriff autoritärer Regimes schützen, indem sie ihre Zahlungen per Kryptowährungen abwickeln. Ist da was dran?
Im einzelnen Fall kann es für Dissident*innen nützlich sein, aber das strukturell so zu labeln, finde ich falsch. Vor Kurzem wurde über ukrainische Studierende berichtet, die ihr Geld auf ihrer Flucht nach Deutschland mitnehmen konnten, weil es in Kryptowährungen steckte. Solche Einzelfälle gibt es. Digitale Assets sind leicht zu transferieren. Aber dafür braucht es nicht unbedingt Kryptowährungen, das kann auch anders funktionieren. Es gilt: Um mit den Bitcoins irgendwas anfangen zu können, braucht es jemanden, der sie tauscht. Zudem ist diese Währung enormen Schwankungen ausgesetzt. Der Wert des Guthabens kann sich während der Mittagspause halbieren. Das bietet politisch Verfolgten keine Sicherheit.
Welche weiteren Krypto-Hoffnungen halten Sie für Unfug?
Ein weiteres Narrativ ist „Banking the unbanked“. Damit wird eine Idee beworben: Menschen in Ländern mit niedrigen Einkommen, die kein Bankkonto haben, sollen mit Bitcoin zu mehr Vermögen und finanzieller Sicherheit kommen. Aber jede Transaktion von Bitcoins kostet mehrere US-Dollar. Zudem braucht es dafür verlässliches Internet und ein internetfähiges Gerät. Das sind vergleichsweise hohe Hürden für Menschen an oder unter der Armutsgrenze.
Im Krypto-Umfeld basiert nahezu alles auf sogenannten Blockchains. Blockchains sind dezentrale Datenbanken. Das bedeutet, dass die Datenbank nicht auf einem Server oder Cluster liegt, sondern dass es theoretisch unbeschränkt viele gleichwertige Kopien der Datenbank gibt. Jede*r kann sich seine eigene Kopie besorgen und Teil der verteilten Datenbank werden.
Die Datenbank selbst hat eine ungewöhnliche Struktur. Wo die meisten traditionellen Datenbanken Daten in Tabellen speichern, zu denen man jederzeit Zeilen hinzufügen, ändern und löschen kann, speichern Blockchains Daten in Blöcken, die miteinander verkettet werden und nicht nachträglich zu ändern sind. Man kann sich Blockchains also vorstellen wie eine Perlenkette, an die man immer zusätzliche Perlen anhängen kann, aber niemals welche in der Mitte entfernen oder ändern kann. Diese Eigenschaft wird häufig „append-only“ genannt und soll sicherstellen, dass die Datenbank fälschungssicher ist: Die Änderung eines Blocks würde automatisch allen anderen Teilnehmer*innen im Netzwerk auffallen.
Zur Dezentralität gehört auch, dass die Entscheidung darüber, was in der Datenbank gespeichert wird, nicht von einer vorbestimmten Person, Organisation oder Gruppe getroffen wird. Durch unterschiedliche Verfahren (sogenannte Konsens-Algorithmen) wird unter allen Teilnehmer*innen eine Einigung hergestellt: Bei Bitcoin zum Beispiel muss ein mathematisches Rätsel gelöst werden. Nach Ablauf des Konsensverfahrens wird ein neuer Block angehängt und üblicherweise eine Belohnung an die Person ausgezahlt, die den Block validiert hat.
Blockchains heute werden vor allem als Kassenbücher („Ledger“) verwendet. Die Blöcke enthalten Transaktionen von Kryptowährungen wie Bitcoin oder digitalen Objekten (beides sogenannte „Tokens“) zwischen Konten (sogenannten „Wallets“). Die Wallets sind dabei pseudonym und damit ohne Weiteres keiner natürlichen Person oder Organisation zuzuordnen. Auf diesem Wege ermöglichen Blockchains quasi-anonyme Transfers von digitalen Assets direkt ohne Mittelsmänner.
Unterschiedliche Blockchains haben etwas unterschiedliche Features. Bitcoin erlaubt nur das Verwalten seiner eigenen Währung, die zweitgrösste Blockchain Ethereum allerdings hat dem Konzept noch sogenannte „Smart Contracts“ hinzugefügt. Dies sind Programmcodes, die auf der Blockchain selbst liegen und angesprochen werden können. Smart Contracts können neue Tokens erzeugen, aber auch komplexere andere Geschäftsprozesse aller Besitzer*innen von Tokens abwickeln. Zum Beispiel können Dividendenzahlungen oder auch Abstimmungsprozesse berechnet und abgewickelt werden. Die meisten nach Ethereum entwickelten Blockchains erlauben irgendeine Form von Smart Contract.
Jürgen Geuter
Was passiert, wenn ein Land Bitcoin als Landeswährung einführt? Wie das beispielsweise in El Salvador der Fall ist.
Das ist leichtgetan, aber es ändert nichts. In El Salvador hat Nayib Bukele Bitcoin eingeführt. Aber das ist ein Publicity-Stunt von einem Diktator, der selbst in Bitcoin investiert hat. Bürger*innen konnten sich per App mit ihren offiziellen Daten anmelden und haben dann die 30 Dollar in Bitcoin erhalten, die sie brauchten, um mit dem Handeln anzufangen. Aber die meisten von ihnen haben das Guthaben sofort in Dollar umgetauscht und die App nie wieder angefasst. In der breiten Bevölkerung sind Bitcoins dort überhaupt kein Faktor, weil die Leute der Sache nicht trauen.
Es gibt nun seit Längerem weltweit Bestrebungen, Kryptowährungen zu verbieten oder zumindest zu regulieren. Was halten Sie davon?
Die Frage ist, was genau man verbietet. China etwa hat das Mining, also das „Schürfen“ von Kryptowährungen durch Rechenleistung verboten (siehe Infobox). Mit der Begründung, man könne sonst einige Provinzen nicht mehr mit Strom versorgen, weil das Mining so viel Strom verbraucht. Meine Meinung dazu ist: Das Mining schadet dem Klima so sehr, dass wir es verbieten müssen, wenn wir die Pariser Klimaziele noch erreichen wollen.
Es gibt unterschiedliche Konsensverfahren auf Blockchains. Die beiden grössten (Ethereum und Bitcoin) setzen auf das sogenannte „Proof of Work“. Dabei darf genau die Person den nächsten Block schreiben, die ein aufwendiges mathematisches Problem zuerst gelöst hat (faktisch geht es darum, die passende Zahl zu erraten). Diese Verfahren verbrauchen unglaubliche Mengen Energie. Bitcoin zum Beispiel verbraucht pro Jahr in etwa so viel Strom wie Argentinien, erzeugt dabei so viel CO2wie Kolumbien und so viel kleinen Elektroschrott wie die Niederlande. Jede Bitcoin-Überweisung erzeugt damit im Schnitt in etwa so viel Elektroschrott wie ein Smartphone. Ethereum möchte seit Jahren auf sparsamere Verfahren wechseln, ein erster Anlauf ist für Mitte/Ende September 2022 anvisiert, aber das Unternehmen verschiebt diesen Wechsel immer weiter in die Zukunft.
Doch nicht nur aus ökologischer Sicht ist der Krypto-Space ein Problem: Die Benutzung der Krypto-Wallets ist technisch ziemlich kompliziert. Weil Blockchains keine nachträglichen Änderungen zulassen, können Fehler oder Betrug nicht mehr korrigiert werden. Wenn eine Person einen Phishing-Link anklickt und damit all ihr Krypto-Geld gestohlen wird, kann niemand es zurückholen, obwohl transparent sichtbar ist, an welchen anonymen Account es gegangen ist.
Jürgen Geuter
Was wären denn weitere gute Ansätze, um den Kryptohandel zu regulieren?
Das Ziel einer Regulierung müsste sein, den Handel mit Bitcoin unattraktiver zu machen. Ein Anfang wäre es, dass jede Person, die Krypto in Geld umwandeln will, einen Personausweis hinterlegen muss. Das wird auf EU-Ebene gerade verhandelt. Dann wäre das System zumindest weniger anonym und dadurch weniger beliebt. Man könnte aber auch sagen: Bitcoin wird behandelt wie Aktien. Da gelten auch bestimmte Regeln. Wer Aktien verkauft, muss Interessent*innen etwa klar machen, dass sie ein Risiko eingehen und eine Dokumentation über alle Verkäufe mitliefern. Zudem müssen Wirtschaftsprüfer*innen die Buchhaltung kontrollieren. Oder man könnte den Besitz von Bitcoin besteuern. Etwa so wie CO2-Steuern, denn auch der Bitcoin-Besitz braucht viel Strom, selbst wenn man nicht handelt oder Mining betreibt. Aber alle diese Ideen widersprechen dem vorherrschenden neoliberalen Politikstil, der nicht gestalten will, sondern nur den Markt verwaltet.
Warum investieren eigentlich so viele Leute immer noch in Kryptowährungen, obwohl die Risiken breit diskutiert werden?
Es wird aktuell sehr aggressiv für Kryptowährungen geworben. Werbespots versuchen, die Leute dazu zu bringen, echtes Geld in den Kryptomarkt einzuspeisen. Denn letztlich ist dieses System ein Nullsummenspiel. Es muss jemand Geld reinkippen, damit es jemand anderes rausnehmen kann. Die Leute, die seit Jahren Tokens besitzen, wollen jetzt natürlich echtes Geld dafür haben. Es ist die Suche nach dem nächsten Idioten, der den Mist abkauft. Jede*r in diesem System ist Opfer und Täter*in zugleich.
Weshalb funktioniert die Werbung noch immer?
Nehmen wir das Beispiel USA: Hier haben weisse insgesamt mehr Besitz als Schwarze Menschen. Bei Krypto ist es andersrum. Das hat damit zu tun, dass diese Gruppe von der Werbung stark angesprochen wird. Etwa indem man wichtige Schwarze Basketballspieler als Werbegesichter holt. Oder den Regisseur Spike Lee. Der hat in einem Werbespot für eine Kryptowährung gesagt, sie sei ein Mittel für marginalisierte Gruppen, um an Reichtum zu gelangen. Damit spricht er eine Community an, die weiss, dass sie wahrscheinlich nie durch Arbeit zu Wohlstand kommen wird. Klar gibt es immer wieder Leute, die Glück haben und damit verdienen. Aber grundsätzlich wird so Menschen, die kein Geld haben, noch mehr Kohle abgezogen, welches dann an Grossinvestor*innen fliesst, die ihre Tokens zu echtem Geld machen.
Fehlt es also vor allem an Aufklärung?
In den USA gibt es Leute, die wissen, dass sie keine Chance auf sozialen Aufstieg haben. Und da ist das eher wie Lotto spielen: „Ich versuch’s, selbst wenn die Chancen gering sind, dass ich damit reich werde“. Das Wissen über das Risiko hindert sie nicht. In Deutschland funktioniert das Marketing etwas anders: Es zielt eher auf junge Männer ab, die sich für kompetent und schlau halten. Wenn sie Geld verlieren, denken sie: „Aha! Ich habe jetzt verstanden, wie es funktioniert“. Und dann investieren sie wieder. Da kommt man mit Aufklärung nicht weit. Weil sie davon ausgehen, dass sie diejenigen sind, die profitieren werden und nicht diejenigen, die abgezockt werden.
Sie haben das Thema Identität schon angesprochen. Gibt es auch einen Gender-Aspekt, der im Marketing eine Rolle spielt?
Es gibt auch Marketing, das speziell auf Frauen abzielt. Aber das passiert deutlich seltener. Die Szene ist männlich dominiert. Es gibt sogar einen Overlap zwischen der Kryptoszene und der Incel-Szene, also Frauenhassern. Das sah man etwa, weil in Krypto-Foren Begriffe verwendet wurden, die eigentlich aus Incel-Foren kommen. Das Krypto-Narrativ passt in das Incel-Weltbild: Sie hoffen, mit Bitcoin reich zu werden, weil sie davon ausgehen, dass ihnen dann die Frauen hinterherlaufen. Und sie wünschen sich eine Welt herbei, in der sie andere dominieren können.
Der Bitcoin-Kurs wird immer wieder totgesagt, aber auch immer wieder als zukunftsweisend bezeichnet. Welche Perspektiven sehen Sie für Kryptowährungen?
Während der Kurs steigt, schwärmen alle von Krypto. In so einer Phase wurde zum Beispiel gesagt, das Grundbuch in Deutschland werde in die Blockchain geschrieben. Oder die Lieferketten. Und während der Kurs abfällt, ist der Hype wieder vorbei. Dann gibt es eine Abkühlphase, die so lange dauert, bis alle vergessen haben, was passiert ist. Und dann wird wieder investiert, bis der Kurs wieder steigt. Diese Rhythmen sehen wir immer wieder. Aber die Frequenz hat sich im Vergleich zu vor einigen Jahren verändert: Es schlägt höher und öfter aus.
Das heisst die Idee, Blockchain für gewisse öffentliche Aufgaben einzusetzen, ist Quatsch?
Blockchains wurden für eine bestimmte Situation erfunden: Wenn viele Menschen eine gemeinsame Datenbank brauchen, ohne sich zu kennen oder zu vertrauen. Dann kann eine Blockchain eine sinnvolle Option sein. Der Preis dafür ist extreme Ineffizienz. Denn Vertrauen macht Dinge effizient. Diesen Fall, dass niemand sich kennt oder vertraut, gibt es in der realen Welt aber fast nie. Bei Lieferketten muss dem oder der Lieferant*in vertraut werden, sonst schreiben die falsche Dinge in die Blockchain. Das Grundbuch zu kontrollieren, ist die Aufgabe der Regierung, der wir Verwaltungsaufgaben anvertrauen.
Warum wird das dann trotzdem immer wieder aufs Tapet gebracht? Die Idee, das Grundbuch auf die Blockchain zu schreiben, steht ja sogar im Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung.
In Deutschland und ganz Europa haben Politiker*innen technische Neuerungen oft verschlafen und das wissen sie. Also werfen sie heute mit Begriffen um sich, um zu signalisieren, dass sie diesen Fortschritt nun wirklich nicht verpassen werden. Das hat so einen mythischen Charakter, ist aber inhaltsleer: Niemand kann je erklären, wie genau die Blockchain für irgendein echtes politisches Problem hilfreich sein soll. Der Finanzmarkt kann sich auch nicht vom gesellschaftlichen Druck, innovativ sein zu müssen, freimachen. Und so spielt man für viel Geld Innovationstheater und tut mit neuartigen Finanzprodukten so, als würde man bahnbrechende Dinge entwickeln, die am Ende das tun, was Banken eh schon tun, nur teuer und mit störenden Seiteneffekten.
Unter dem Namen „DeFi“ (Decentralized Finance) entwickeln diverse Unternehmen und unternehmensähnliche Konstrukte Finanzprodukte vorbei am Finanzmarkt und seinen bestehenden Strukturen. Die grundlegende Überzeugung ist, dass Banken nicht zu trauen ist und das eigene Vermögen am besten in Krypto-Token angelegt werden sollte, die weder vom Staat beschlagnahmt noch ohne Weiteres besteuert werden können. Token, die nur von den Besitzer*innen selbst kontrolliert werden können und sich nach einem offenen, für alle lesbaren Smart Contract verhalten.
Dieser parallele Finanzsektor ist so unübersichtlich, wie die Versprechungen gross sind. Die Anzahl der Anbieter in dem Markt ist kaum zu bestimmen und aufgrund der durch die Technologie gegebenen Pseudonymität ist oft unklar, wer das jeweilige Projekt von wo aus steuert. Diverse Anbieter versprechen 20 oder mehr Prozent Zinsen pro Jahr für das Investieren von Krypto-Token: weit über allem, was der normale Kapitalmarkt hergibt.
Und all das läuft ohne jede Regulierung ab. Wo am Finanzmarkt sonst diverse Sicherheitsmassnahmen die Investor*innen schützen sollen, existiert in dieser Hinsicht im DeFi-Bereich nichts und es soll auch nichts existieren. So ist es kein Zufall, dass die Anzahl der Betrugsfälle in diesem Sektor astronomisch ist: Insiderhandel, “Wash-Trading” (d.h. der Handel mit sich selbst, um den Preis eines Assets künstlich in die Höhe zu treiben) oder auch “Rug-Pulls” (d.h. der Diebstahl aller Einlagen durch die Projektgründer*innen, bevor überhaupt eine Leistung erbracht wurde) sind nicht die Ausnahme, sondern die Norm, wie die Webseite https://web3isgoinggreat.com/ tagesaktuell protokolliert. Es gibt das geflügelte Wort, Krypto und DeFi seien ein Speedrun durch 200 Jahre Finanzbetrug.
Das zentrale Problem von Krypto als digitalem Finanzmarkt ist, dass es nicht auf einer echten Wertschöpfung basiert, sondern ein rein spekulatives Asset darstellt. Das ist keine Nischenmeinung: Die Chefin der EU-Zentralbank, Christine Lagarde, bezeichnete Krypto kürzlich als „wertlos“ und sprach sich für eine harte Regulierung aus.
Auch die Krypto-Vordenker*innen selbst scheinen das kaum anders zu sehen: In einem kürzlich aufgenommenen Podcast beschrieb Sam Bankman-Friend, Vordenker der DeFi-Szene und Besitzer einer wichtigen Krypto-Exchange, an der man echtes Geld in Krypto umtauschen kann, DeFi ganz explizit als Schneeballsystem ohne echte wirtschaftliche Aktivität. Menschen investieren, weil andere Menschen investieren und so lange das so bleibt, bekommen alle – vor allem die, die zuerst investiert haben, – grosse Renditen. Bis niemand Neues dazu kommt und alle nur noch Token haben, die niemand kaufen will und die keinen Wert haben.
In der Ökonomie nennt man das „The Greater Fool Theory“: Das System basiert nicht darauf, dass Menschen glauben, in Dinge zu investieren, die einen Wert haben, sondern darauf, dass sie hoffen, das wertlose Objekt irgendwie für mehr verkaufen zu können, als sie selbst investiert haben.
Jürgen Geuter
Birgt diese Ahnungslosigkeit auch eine Gefahr?
Ja, es kann verheerend werden, vor allem wenn wichtige gemeinnützige Institutionen auf Bitcoin setzen. Das passierte etwa in Kanada, wo ein Rentenfonds Geld in Bitcoin investiert hat. 200 Millionen kanadische Dollar aus diesem Fonds sind jetzt weg. Das darf nicht passieren, denn wenn solche Institutionen dieses Glücksspiel mitmachen, erhält es dadurch Glaubwürdigkeit. Zudem wird das Geld von Menschen verzockt, die dabei nicht mitreden konnten.
Was muss passieren, um das zu verhindern?
Das Auf und Ab wird so lange weitergehen, wie es keine Regulationen gibt. Bis dahin wandert das Geld immer von der breiten Bevölkerung – im Zweifel von der ärmeren Bevölkerung – in die Taschen von Investor*innen. Es ist eine gigantische Umverteilungsmaschine von unten nach oben. So lange man nicht eingreift, bleibt das so, weil immer wieder jemand diese Maschine anwerfen wird.
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