Lite­ratur für den Shut­down: Das Hotel gegen­über vom Bierkönig

An der "Schinkenstrasse" in Mallorca liegen der Bierkönig und das Hotel unseres Autors nur wenige Meter auseinander (Foto: Wikicommons).

„Stoff zum Shot­down” ist eine Print-Zine mit Texten von jetzt für jetzt. Dahinter stehen der freie Jour­na­list Benjamin Von Wyl, der Geschäfts­führer des Kultur­lo­kals Coq d’Or Daniel Kiss­ling sowie die frei­schaf­fenden Grafiker David Lüthi und Mirko Leuen­berger. Die zweite Ausgabe wird Ende April verschickt und kann über die Crowd­fun­ding-Seite bestellt werden. 

Nach meiner Ankunft bindet mir die Rezep­tio­ni­stin das silberne Hotel­arm­band um und rattert die inclu­sives und not-inclu­sives für den all-inclu­sive-Hotel­auf­ent­halt runter, natür­lich auf Deutsch. Vom Tisch schwarz-gelbe Über­schrift: „Corona Krach im Kanz­leramt”. Links unten meint der Chef­re­daktor: „Jetzt muss jeder Vorbild sein”. Das war die Bild-Zeitung vom Freitag, dem Drei­zehnten (März). Im Hotel gegen­über vom Bier­könig auf Palma de Mallorca ist die COVID19-Krise surreal. Dass Europa komplett dicht macht, konnte ich immer wieder vergessen, kurz. Verka­tert unter der Dusche – den näch­sten Gratis-Mojito im Plastik­be­cher in der freien Hand.

Während auf dem spani­schen Fest­land bereits alle Schulen, Kinos und Bars geschlossen sind, herrscht hier — 150m vom Strand entfernt, in Lauf­di­stanz zum Bier­könig —  Normal­zu­stand der Neben­saison: Die Sonne scheint, die Meeres­pro­me­nade ist sauber und im Städt­chen von Palma ist es ange­nehm ruhig. Malle ist zwar nur einmal im Jahr, aber das ganze Jahr schön.

Kogni­tive Disso­nanz während Corona: In der Bild bedeutet das die Suche nach Vorbil­dern im Umgang mit einer Pandemie. Oder Dinis, 23, aus Herisau, der in der Bar wild­fremden Leuten um den Hals fällt und ruft: „Keine Angst, ich habe mich letzte Woche testen lassen!”

Aber zurück zur Rezep­tion – und zur Frage, wie zur Hölle ich während der wohl grössten gesell­schaft­li­chen Heraus­for­de­rung meiner Lebens­zeit auf Mallorca gelandet bin.

Eigent­lich bin ich im Trai­nings­lager mit meiner 5.-Liga-Fussballmannschaft, Dorf­verein. Wer sich nicht mit den Fuss­ball­ligen auskennt, kann sich die fünfte Liga als ein gepflegtes Hick­hack mit hals­bre­che­ri­schen Grät­schen und viel Bier vorstellen. Mit Sport hat das nur peri­pher was zu tun.

Ange­reist bin ich einen Tag früher als mein Team, mit Zug und Fähre. Viele mögen sich daran viel­leicht gar nicht mehr erin­nern, aber früher – also vor COVID-19 – war der Verzicht aufs Fliegen durch die Klima­be­we­gung zum poli­ti­schen State­ment geworden. Die Spreng­kraft meines Flug­streiks, sie ist verflogen, vom Markt unter­graben, ausge­rechnet! Jetzt fliegen schlicht keine Flug­zeuge mehr.

März, im Flug­streik unter­wegs. Während der Zug mit 300 Stun­den­ki­lo­meter von Lyon durch die Rhones des Alpes und Languedoc-Rouss­illon nach Spanien donnert, lese ich ‚über die wack­lige Inter­net­ver­bin­dung, vom Lock­down in Madrid, dann, dass die spani­sche Oppo­si­tion Notfall­mass­nahmen à la Italien verlangt, und dann, zu guter Letzt, dass ein natio­naler Notstand bald ausge­rufen werde. Ein wenig nervös schreibe ich meinem Team, das ja erst morgen fliegt, und frage nach, wie es denn aussehe. Antwort: Kommt gut, unser Reise­büro gibt weiterhin grünes Licht. Ich vergleiche die Anzahl bestä­tigter Fälle von Schweiz (damals über 700) und Mallorca (17), diese völlig unzu­ver­läs­sigen und doch beru­hi­genden Zahlen. „Auf Mallorca ist es sicherer als in der Schweiz” wird zu meinem Mantra.

Dennoch mache ich einen nervösen Eindruck auf meine Umge­bung. Eleo­nora, meine mexi­ka­ni­sche Sitz­nach­barin aus Luxem­burg, bietet mir eines ihrer belegten Brote an: Eines mit Schinken, eines mit Ei. „Iss genug Omega Drei und trink Karotten-Oran­gen­saft, dann kannst du den Virus nicht bekommen. Und Desin­fek­ti­ons­mittel brauchst du auch nicht. Ich wasche meine Hände mit Essig”. Das beru­higt mich. Nicht, weil Omega‑3 oder eine Vinai­grette vor COVID-19 schützen würden (tun sie nicht, Eleo­nora, ich habe nach­ge­schaut), sondern weil das endlich den säuer­li­chen Geruch im Zugab­teil erklärt, der mich seit Valance plagt. In Barce­lona tauschen Eleo­nora und ich dann noch Handy­num­mern aus. „Komm mich besu­chen in Luxem­burg, und mach nicht so ein besorgtes Gesicht, du bist noch so jung”.

Die Über­fahrt verläuft dann gröss­ten­teils nach­rich­tenarm, ledig­lich beim Aussteigen erha­sche ich einen Blick auf die Fern­seh­nach­richten: Die spani­sche Liga hat den Spiel­be­trieb einge­stellt, fünf Spieler vom FC Valencia sind in Quaran­täne. Profisportler*innen sind anfäl­liger auf virale Ansteckungen, erfahre ich in einem Podcast, wegen dem Open-Window-Effekt, der nach inten­siven sport­li­chen Bela­stungen einsetzt. Da sind wir aus der fünften Liga auf der sicheren Seite, denk ich mir.

Das sieht die spani­sche Regie­rung aber anders: Alle staat­li­chen Fuss­ball­felder sind geschlossen, auch für Amateure. Fuss­ball-Shut­down für alle. Zuerst verspricht man uns zwei Trai­nings­ein­heiten auf einem privaten Feld. Einmal kaufen drei von uns einen Fuss­ball und schlei­chen auf ein Kunst­ra­sen­feld einer benach­barten Hotel­an­lage – natür­lich  mit zwei Meter Abstand vonein­ander. Nach fünf Minuten stürmt ein Ange­stellter raus und schickt uns nach Hause. Tags darauf gilt allge­meine Ausgangs­sperre, gar kein Fuss­ball also.

Nun sind ja Trai­nings­lager für 5.-Liga-Mannschaften am Baller­mann immer eher faden­schei­nige Vorhaben. Aber mit der Absage des letzten Trai­nings fällt auch der Vorwand. Jetzt sind wir 19 – sagen wir Sportler – auf Mallorca, belegt mit einer Ausgangs­sperre, gefangen in einer mit Billig­möbel deko­rierten und Kunst­holz verklei­deten Quaran­tä­ne­an­stalt. Am ersten Tag ist das Hotel kollektiv betrunken. Das hat TUI wohl mit dem lami­nierten Info­blatt im Lift gemeint: „Auch mit der Ausgangs­sperre wird ihr Urlaub nicht beein­träch­tigt.” Einige Gäste trauen der Sache aber doch nicht ganz und kaufen beim gegen­über­lie­genden Markt das Bier­do­sen­regal leer.

In der all-inclu­sive-Quaran­täne verteilt sich das Leben nun auf Pool, Hotelbar und Buffet. Dort beob­achte ich beim Mittag­essen, wie ein Gast seine Hände wie ein #seifen­boss mit Desin­fek­ti­ons­mittel reinigt, bevor er sich an der Brot­theke in die Hände hustet und dann seinen Toast in den Toaster schiebt.

Wir jassen nach dem Früh­stück bis zum Mittag­essen. Wir jassen in der Bar auf der Dach­ter­rasse, wo man für Drinks zwar bezahlen muss, aber im Gegenzug den Mojito aus dem Glas statt aus dem Plastik­be­chern trinkt. Nach dem Abend­buffet jassen wir, bis dem Barkeeper Minze oder Eis ausgeht.

Überall lethar­gi­scher Dauer­zu­stand, unter­malt durch den beis­senden Begleiter des Über­flusses: Bauch­schmerzen. Es entwickelt sich eine eigen­ar­tige Soli­da­rität unter den Pauschal­rei­senden, die alle unsi­cher sind, was das alles für sie und ihren Urlaub bedeutet, sich aber alle mit Cock­tail-Häpp­chen und der Gewiss­heit vertrö­sten, dass alles viel schlimmer sein könnte. Eine Gruppe Männer bestellt Sangria-Pitcher im Halb­stun­den­takt und disku­tiert mit einer jungen Familie, während das Kind über den geflie­sten Boden krab­belt, die Vor- und Nach­teile einer Quaran­täne auf Mallorca.

Gleich­zeitig bekommen aber auch alle Gäste mit, dass sich die Situa­tion überall auf der Welt zuspitzt, erste Reise­be­schrän­kungen werden getroffen, Ryanair streicht den Flug einer  deut­schen Reise­gruppe. Wir hören der Pres­se­kon­fe­renz des Bundes­rats, die im Hinter­grund auf unseren Smart­phones läuft, zwischen den Jass­runden zu. An der Rezep­tion markiert plötz­lich ein rotes Klebe­band die zwei Meter Abstand zur Rezep­tio­ni­stin und die Bild-Auslage wird durch eine Hygie­ne­merk­blatt ersetzt. Der TUI-Verbin­dungs­mann sitzt sicht­lich über­for­dert in seiner Ecke und versucht verun­si­cherte Gäste zu trösten. Ein älteres deut­sches Ehepaar hat das Memo zum social distan­cing nicht erhalten und kommt unserer Jass­gruppe gefähr­lich nah. Sie gehen erst nach einem langen Gespräch über ihren Wohnort Sevelen, Nord­rhein-West­falen, die Part­ner­ge­meinde von Sevelen, Kanton St. Gallen, und über den letzten Besuch des Seveler Gemein­de­prä­si­denten in Sevelen.

Und dann erklärt der Bundesrat in Bern die ausser­or­dent­liche Lage, und mit ihr vibrieren die Handys an den Jass­ti­schen: Vorwurfs­volle Nach­richten von Vorge­setzten, sie hätten ja gesagt, die Reise sei eine dumme Idee (haben sie nicht) und deut­lich davon abge­raten (auch nicht) und über­haupt hätte man das doch mit ein biss­chen gesundem Menschen­ver­stand vorher­sehen können (viel­leicht).

Natür­lich sind wir jetzt schlauer, wäre dumm, wenn nicht. Wir sitzen in einem der letzten Flieger zurück. Gekommen als 5.-Liga-Fussballteam, gegangen als Jass­club. Ohne Umsteigen, Sonnen­brand oder Muskel­kater, auf direktem Weg in die Selbstquarantäne.

Rund 30 Autor*innen haben Texte für die erste Ausgabe geschrieben. Die zweite Nummer erscheint Ende April. (Foto: davidmirko.ch)


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