Letzte Woche erschien im Tages-Anzeiger ein Artikel mit dem Titel „Die Leiden der jungen Männer“. Viele junge Männer fühlten sich vom Schweizer Bildungssystem benachteiligt, hiess es darin. Der Grund dafür liege unter anderem bei einer „Feminisierung” dieses Systems: Der Grossteil der Lehrpersonen sind Frauen, die Schulen und Gymis seien viel besser darauf ausgelegt, wie Mädchen lernen. Qualitäten wie Sozialkompetenz werden mehr goutiert, vor allem Jungs würden aber besser auf Frontalunterricht als auf selbst organisiertes Lernen ansprechen. Die Jungs „wachsen in eine Frauenwelt hinein“, sagt der Psychologe und Lerncoach Fabian Grolimund. Von einer Frau könnten die Buben nicht lernen, „ein Mann zu sein“, erklärt er weiter.
Dass heute gar niemand mehr genau weiss, wie „ein Mann“ denn zu sein hat, liege auch daran, dass viele Männer die Erziehungsarbeit den Frauen überlassen. Viele junge Männer fühlten sich heute vom neu erstarkten Feminismus eingeschüchtert und erzählen im Artikel davon, wie sie sich schuldig fühlen, bloss weil sie Männer sind.
Das ist ein wichtiger Punkt: Wer erzieht denn die Männer von heute, von morgen? Noch immer ist Erziehungsarbeit auch in der Schweiz vor allem Aufgabe der Frau. Noch immer tut sich die Schweiz beim Thema Elternzeit – oh sorry, wir sind ja noch auf der Stufe, auf der man das Ding „Vaterschaftsurlaub“ nennt – wahnsinnig schwer. Aber genauso, wie Frauen und Mädchen andere Frauen als Vorbilder brauchen – etwa in Führungspositionen –, brauchen Männer und Jungs andere Männer als Vorbilder. Die Rolle des Mannes steckt aber aktuell in einer Krise. Es ist Fakt, dass in den letzten Jahren ein männlich geprägtes System, das Patriarchat, einmal mehr zu dem Feindbild ernannt wurde, das es ist. Es ist aber auch Fakt: Auch und vor allem die emotionale Erziehungsarbeit bei Männern übernehmen sehr oft Frauen – und zwar weit über das Buben-Alter hinaus.
Dabei geht eine Frage ein bisschen vergessen: Was macht das mit den Männern selber? Vor allem mit einer Generation, die noch immer nicht gelernt hat, mit den eigenen Emotionen auf die Art und Weise umzugehen, wie es für einen selber am besten passt? Wie oft hört man noch heute auf Spielplätzen und an Familienessen: „Brüel doch ned so wienes Mäitli” oder „Buebe düend halt gärn schlägle, das ghört doch dezue“. Daran ändert auch ein virales Gillette-Werbevideo nicht viel. Der britische Journalist und Autor Jack Urwin hat bereits 2017 in seinem Buch Boys Don’t Cry den Zusammenhang zwischen der Unfähigkeit, sich emotional zu öffnen, und der erhöhten Selbstmordrate von Männern geschrieben. Die Männer von heute scheinen also noch immer nicht fähig, über ihre Gefühle zu sprechen – sie sterben sogar daran.
Nun, ich bin kein junger Mann. Aber ich kann nachvollziehen, dass man sich als solcher bedroht fühlen kann in Zeiten von Post-#MeToo, in einer Gesellschaft, die sich wahnsinnig stark für feministische Anliegen sensibilisiert hat, in der endlich dringend benötigte Diskussionen lanciert wurden, wo safe spaces entstanden sind für Forderungen, die bisher totgeschwiegen wurden, für Dinge, die fast alle betreffen ausser heterosexuelle Männer.
Um ehrlich zu sein: Ich möchte nicht als Mann in dieser Welt leben. In einer Welt, in der man nach wie vor einen auf dicke Hose machen muss, um die Karriereleiter nach oben zu klettern – und das muss man ja wollen als Mann, die Karriereleiter hat noch immer not only the poor man’s dream zu sein – oder als Schwuchtel beschimpft wird, wenn man Gefühle zeigt oder sich offen als Feminist bezeichnet. Solche Dinge geschehen noch immer, da kann ich in meiner lieblichen Bubble noch so lange die Jungs mit dem Frauenstreik-Button anhimmeln. Ausserhalb meiner Blase weht ein anderer Wind.
Das Schulsystem ist eines der ersten, das uns auf das Leben als Erwachsene vorbereiten sollte. Es ist wichtig, dass schon hier gleiche Ausgangslagen für alle Geschlechter geschaffen werden – wenn sich Jungs benachteiligt fühlen, sollen sie sich wehren können, und das soll Veränderungen nach sich ziehen.
Dass sich in Bezug auf das Schweizer Bildungssystem jetzt Widerstand seitens der Jungs regt, kann ein gutes Zeichen sein. Es kann ein Grundstein sein für die dringend nötige Emanzipierungsbewegung der Männer – spezifisch der heterosexuellen, weissen Männer als gesellschaftliche Gruppierung. Sie mussten nie für ihre Grundrechte auf die Strasse. Ihr Körper gehört seit jeher ihnen, noch nie wurde von anderen über ihn bestimmt. Wie sie die Welt sehen, das ist seit Anbeginn Status Quo. Sie sind das starke Geschlecht – die Frau halt einfach ‚das andere‘.
Die westliche Welt wird grösstenteils von Männern regiert, die emotional verkümmert sind und noch immer auf der Stufe eines Siebenjährigen stehen. Es kann Angst machen, dass jetzt an diesem Status Quo gerüttelt wird. Es kann verunsichern. Aber es kann Türen öffnen, die heute noch genauso verkrustet sind, wie sie es für die Frauen lange waren.
Ich wünsche mir für die nächsten Jahre, dass Männer sich ihre eigene Emanzipation erarbeiten. Dass es nicht immer Frauen sind, die sich dafür einsetzen. Dass Frauen endlich chillen können und nicht mehr die emotionale Arbeit für Männer übernehmen müssen, sondern sich noch mehr auf ihre eigenen Kämpfe konzentrieren können. Nicht falsch verstehen, liebe Freunde, ich hänge gern mit euch in Bars rum und trinke so lange Negroni mit euch, bis ihr über das schwierige Verhältnis zu eurem Vater oder die Probleme mit eurer Freundin sprechen könnt. Aber so kann es auf Dauer doch auch nicht weiter gehen.
Männer können viel vom Feminismus lernen, statt sich von ihm bedroht zu fühlen. Ich wünsche mir, dass ich nicht mehr als erstes über die leidige Militärpflicht für Männer diskutieren muss, wenn ich sage, dass ich Feministin bin –, sondern dass Männer selber auf die Strasse gehen und dagegen demonstrieren.
Denn schon der junge Werther hat darunter gelitten, keinen für ihn passenden Weg gefunden zu haben, mit unterdrückten Emotionen umzugehen. Er würde sich wohl noch heute in die von Urwin zitierten Suizid-Statistiken einreihen. Vielleicht hätte er aber auch zu den Vorreitern gehört, die erkennen: Wir haben heute eine Chance auf neue Männer. Männer, die nicht leiden müssen, weil sie nicht weinen dürfen, sondern Stärke darin finden, ihre Bedürfnisse formulieren und einfordern zu können – und zwar nicht trotz, sondern dank dem Feminismus.
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