In einer südindischen Fabrik des Apple-Zulieferers Foxconn bauen überwiegend junge Frauen unter hohem Produktionsdruck iPhones zusammen. Sie selbst dürfen während der Arbeit keine Mobiltelefone benutzen. Ihre Bedingungen sind prekär: Bis zu zehn Frauen teilen sich spärliche Unterkünfte, manche von ihnen schlafen am Boden. Foxconn zieht ihnen für diese Unterbringung und den langen Transport zur Fabrik Geld vom ohnehin mageren Lohn ab. Am Ende des Monats bleiben ihnen knapp 160 Franken – für acht Stunden Arbeit täglich, sechs Tage die Woche. Sicherheitskräfte und Aufseher:innen kontrollieren die Frauen ständig, nicht nur in der Fabrik, sondern auch in den Unterkünften.
Im Dezember 2021 erkrankten mehrere hundert Arbeiterinnen in einer der Unterkünfte an einer Lebensmittelvergiftung wegen verdorbenem Essen. Obwohl Foxconn gewerkschaftliche Organisation unterdrückt, protestierten Tausende von ihnen spontan mit einer Sitzblockade auf einer nahegelegenen Autobahn. Die Polizei löste die Versammlung jedoch schnell auf und nahm 68 Protestierende fest.
Dieser Vorfall zeigt, wie dringend eine stärkere rechtliche Verankerung von Konzernverantwortung ist. Der Fall macht auch deutlich, wie eng Geschlecht und Konzernverantwortung verknüpft sind: In Branchen wie der Elektronik- und Textilindustrie arbeiten vor allem Frauen. Sie sind nicht nur enormem Druck und ständiger Kontrolle ausgesetzt, sondern werden oft sexuell belästigt, bedroht und beleidigt, damit sie noch schneller ihre Arbeit verrichten.
Die rassistische und naturalisierte Sicht auf weibliche Arbeitskraft als ausbeutbare Ressource ist kein Relikt vergangener Jahrzehnte.
Eine gesetzliche Pflicht zur Konzernverantwortung würde Unternehmen wie Apple zwar dazu verpflichten, ihre Lieferketten auf arbeits- und menschenrechtliche Risiken zu prüfen und adressieren – bei Foxconn etwa den Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die fehlende Vereinigungsfreiheit. Dennoch: Es ist unwahrscheinlich, dass Gerichte oder Kontrollbehörden die strikte Überwachung und strukturelle Diskriminierung der Frauen durch Foxconn als Menschenrechtsverletzung einstufen und Apple dafür haftbar machen.
Das Beispiel ist auch für die mögliche Umsetzung der Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz relevant, wie sie eine Volksinitiative aktuell wieder fordert. Zum einen zählt Foxconn zu den grössten Zulieferern von Elektronikkomponenten weltweit. Es ist daher nicht auszuschliessen, dass auch in den Endprodukten von Schweizer Unternehmen Foxconn-Teile – und damit auch die Menschenrechtsverletzungen – verbaut sind. Zum anderen orientiert sich die Konzernverantwortungsinitiative, wie andere nationale Gesetze, an denselben internationalen Standards: den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Das heisst: Nebst den progressiven Vorgaben der Leitlinien, die Betroffene von Menschenrechtsverletzungen unterstützen, übernimmt die Konzernverantwortungsinitiative auch ihre Schwächen, etwa das fehlende Bewusstsein für Geschlechterverhältnisse.
Um das besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte – und in die UN-Archive.
„Flinke Finger” und billige Arbeit
Die Unterdrückung und Ausbeutung von weiblichen Körpern als Arbeitskraft hat System – Kapitalismus und Patriarchat begünstigen einander schon lange. Der Verschleiss der gesellschaftlich am stärksten an den Rand Gedrängten ist sogar eine zentrale Voraussetzung des Kapitalismus. Bereits in den ersten exportorientierten Industrien wie beispielsweise in Malaysia, Mexiko oder Singapur in den 1950er und 60er Jahren stellten Unternehmen überwiegend Frauen aus prekären Verhältnissen in der Elektronik- und Bekleidungsindustrie ein.
Wie von den feministischen Ökonominnen Ruth Pearson und Diane Elson gezeigt, warben Unternehmen Frauen als billige Arbeitskräfte an, die angeblich “flinke Finger” hätten, fügig seien, sich nicht so schnell gewerkschaftlich organisierten und so keine höheren Löhne forderten. In einer malaysischen Investitionsbroschüre aus den 1970ern heisst es: „Das handliche Geschick der orientalen Frau ist weltweit bekannt. Ihre Hände sind klein und sie arbeitet schnell und mit Sorgfalt. Wer, also, könnte von Natur und Erbgut aus besser qualifiziert sein als das orientalische Mädchen, einen Beitrag zu der Effizienz der Fliessbandarbeit zu leisten?“
Die mangelnde Regulierung von Konzernen zeigt sich darin, wie das Patriarchat die rechtliche Ausgestaltung von Konzernverantwortung beeinflusst hat.
Diese rassistische und naturalisierte Sicht auf weibliche Arbeitskraft als ausbeutbare Ressource ist kein Relikt vergangener Jahrzehnte – im Gegenteil: Sie prägt die globalen Produktionsverhältnisse bis heute. So rekrutiert Foxconn gezielt junge Frauen aus armen, ländlichen Regionen Indiens, um die Löhne niedrig zu halten.
Diese anhaltende Ausbeutung erklärt sich unter anderem dadurch, dass Staaten die Wirtschaft vermeintlich brauchen, um das – als Massstab längst überholte – Bruttoinlandsprodukt zu steigern, während die Wirtschaft durch Lobbyarbeit die Politik beeinflusst.
Die mangelnde Regulierung von Konzernen zeigt sich aber auch darin, wie das Patriarchat die rechtliche Ausgestaltung von Konzernverantwortung beeinflusst hat.
Von gierigen Ausbeutern zu guten Unternehmensbürgern
Um die Jahrtausendwende versuchte eine Arbeitsgruppe des UN-Menschenrechtsrates, Unternehmen direkt völkerrechtlich zu verpflichten. Dies hätte den Konzernen klare Menschenrechtspflichten auferlegt und Opfern von Konzernverbrechen, Gewerkschaften und NGOs umfangreiche Rechte zugesprochen. Doch Unternehmensverbände, unterstützt von Ländern des Globalen Norden, blockierten diese geplanten UN-Normen für transnationale Konzerne und Menschenrechte.
Stattdessen propagierten sie freiwillige Unternehmensverantwortung durch Corporate Social Responsibility (CSR). 1999 rief der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan auf dem Weltwirtschaftsforum mit dem Global Compact eine CSR-Initiative an der UN ins Leben. Der Compact sollte CSR – also die gesellschaftliche Verantwortung – in den Unternehmen verankern und die Zusammenarbeit zwischen der UN und dem Unternehmenssektor durch eine gemeinsame Sprache fördern. Erklärtes Ziel der Vordenker des Global Compact war es, Unternehmen ein “menschliches Gesicht” zu geben und sie als “gute Unternehmensbürger” oder “Good Corporate Citizens” zu etablieren, wie in Reden, Pressemitteilungen und Grundsatzdokumenten wiederholt wurde.
Indem Unternehmen sich als sozial engagiert und fürsorglich präsentieren, wird dieses hypermaskuline Image gezielt abgeschwächt.
Die Metapher des “Good Corporate Citizen” zeigt, wie geschlechtlich aufgeladen die Sprache rund um Unternehmen ist. Im 19. Jahrhundert galten private Unternehmen als Verkörperung des effizienten, liberalen Mannes – darauf weist unter anderem die Feministin und Rechtsprofessorin Anna Grear hin. In den 1980er und 90er Jahren, geprägt von Privatisierung, Freihandel und Investorenschutz, verstärkte sich dieses Bild drastisch: Unternehmen galten zunehmend als gierig, aggressiv und ausbeuterisch. Zu dieser Hypermaskulinisierung trugen Skandale um Kinderarbeit in Nike-Sweatshops in Südostasien oder Shells Verwicklung in die gewaltsame Unterdrückung von Protesten gegen die Ölverschmutzung im Niger-Delta bei.
Im Gegensatz dazu wirkt der Begriff “gute Unternehmensbürger“ harmlos. Er suggeriert, Unternehmen seien engagierte, verantwortungsbewusste Mitglieder der Gesellschaft. CSR-Initiativen, Unternehmenskodizes und die Mitgliedschaft im Global Compact ermöglichen es Konzernen, sich aktiv Werte wie soziale Verantwortung, Fürsorge und Gemeinwohlorientierung zuzuschreiben. Dadurch können sie sich bewusst von einem Bild abgrenzen, das in den 1980er und 90er Jahren von Aggressivität, Gier und Ausbeutung geprägt war – einem Bild, das stark mit Männlichkeit aufgeladen ist.
Indem Unternehmen sich nun als sozial engagiert und fürsorglich präsentieren, wird dieses hypermaskuline Image gezielt abgeschwächt – man könnte sagen: “feminisiert“. Diese strategische Feminisierung dient dabei nicht nur der Imagepflege, sondern ist auch ein Versuch, das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen und die Kritik an Unternehmenspraktiken zu entschärfen.
So bekennt sich etwa Nestlé in seinen Corporate Business Principles von 2005 zu “Fairness, Ehrlichkeit und einem allgemeinen Interesse an den Menschen” und betont sein soziales Engagement als “guter Unternehmensbürger”. Doch die Realität sieht anders aus: In Brasilien und den USA versuchte Nestlé, Wasser zu privatisieren, während auf Nescafé-Plantagen ausbeuterische Arbeitsbedingungen herrschen.
Konzerne waschen sich blau
Indem die UN, die wohl wichtigste zwischenstaatliche Organisation der Welt, das Konzept des “guten Unternehmensbürgers” in den Global Compact aufnahm, wurde es legitimiert und weit verbreitet. Mit der Aufnahme wollten die Strategen hinter dem Global Compact den Unternehmen signalisieren, dass sich die UN für unternehmerische Werte öffnet. Und tatsächlich ergab eine Umfrage von Mitgliedunternehmen des Global Compact 2005, dass die stärkste Motivation für ihre Teilnahme darin bestand, “Good Corporate Citizenship” zu demonstrieren und das eigene Image zu verbessern.
Das von der UN geförderte Bild des “guten Unternehmensbürgers“ trug zusammen mit der Verbreitung von CSR dazu bei, Konzernmacht zu verschleiern: Unternehmen wurden vermenschlicht und als soziale und ökologische Akteure präsentiert. Da der Global Compact aber freiwillig ist und keine wirksamen Sanktionen bei Verstössen vorsieht, entstand eine Lücke zwischen Image und Realität. Denn Konzerne hatten keine rechtlichen Konsequenzen zu fürchten.
In Anspielung an die blaue Farbe des UN-Logos kritisierten NGOs dieses Phänomen als “Bluewashing”. Bereits im Jahr 2000 warf die NGO TRAC dem Global Compact vor, auch Unternehmen mit problematischer Menschenrechts- und Umweltbilanz aufzunehmen. Dazu zählte sie etwa das Schweizer Pharmaunternehmen Novartis, das laut TRAC aggressiv für gentechnisch manipulierte Landwirtschaft lobbyierte. Das stehe im Widerspruch zu den ökologischen Prinzipien des Global Compacts.
Marktgerechter Menschenrechtsschutz: Verantwortung statt Verpflichtung
Kurz nach der Jahrtausendwende beauftragte die UN John Ruggie, den wichtigsten Strategen hinter dem Global Compact, einen Rechtsrahmen für die menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen zu entwickeln. Damit wollte die UN auf die Forderungen von NGOs und Staaten aus dem Globalen Süden nach rechtlichen Regeln reagieren – und zwar ohne erneut Widerstand von Unternehmensverbänden oder Staaten wie den USA und Australien auszulösen.
Um das zu erreichen, arbeitete Ruggie, wie schon beim Global Compact, eng mit Unternehmen zusammen und strich kontroverse NGO-Forderungen. Während NGOs Ruggie aufforderten, sich in seiner Arbeit an den UN-Normen zu orientieren, erklärte er diese für tot. Das Ergebnis sind die freiwilligen UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die der UN-Menschenrechtsrat im Jahr 2011 verabschiedete.
Die Leitprinzipien festigen die alleinige völkerrechtliche Pflicht der Staaten, Menschenrechte zu schützen. Man weist Unternehmen lediglich die gesellschaftliche Verantwortung zu, Menschenrechte in ihrer Geschäftstätigkeit zu achten. Um diese Verantwortung umzusetzen, schlagen die Leitprinzipien den Unternehmen eine Art Managementansatz vor, wie er auch in der Buchhaltung oder bei Fusionen und Übernahmen üblich ist: sogenannte menschenrechtliche Sorgfaltspflichten.
Kritiker*innen argumentierten, dass dieser Ansatz die Menschenrechte marktgerecht gestaltet. Denn die UN-Leitprinzipien überlassen es den Unternehmen zu entscheiden, welche Bereiche ihrer Lieferkette sie überprüfen und wie sie auf Risiken reagieren. Und: eine Überprüfung der Unternehmensberichte ist auch hier nicht vorgesehen.
Frauen wurden nicht primär als Rechtssubjekte gestärkt, sondern als Vertriebskanäle genutzt.
Feminist*innen wie Penelope Simons und Melisa Handl sprechen gar von einem neuen Herrschaftsregime, das besonders die Lebensrealitäten von Frauen und anderen marginalisierten Betroffenen ignoriert und damit die bestehenden Macht- und Ausbeutungsverhältnisse nochmals stabilisiert.
Ein Beispiel für solchen marktgerechten Menschenrechtsschutz ist Unilevers Shakti-Programm in Indien, das auf den ersten Blick die UN-Leitprinzipien umzusetzen scheint. Es baute ein Netzwerk von 50’000 “Shakti Ammas”, von “emanzipierten Müttern” auf, die Unilever-Hygieneprodukte in abgelegenen Dörfern verkauften. Während dies Frauen zwar wirtschaftliche stärkte und die Gesundheit förderte, verdrängte es lokale, womöglich nachhaltigere Hygienepraktiken – und erschloss Unilever neue Märkte. Gleichzeitig geriet das Unternehmen für den Tod von 45 Arbeiter*innen einer Thermometerfabrik durch Quecksilbervergiftung im indischen Kodaikanal in Kritik. Der fehlende Arbeitsschutz und fahrlässige Umgang mit Quecksilber führte ausserdem bei ehemaligen Arbeiterinnen zu Unfruchtbarkeit, Frühgeburten und Kinder mit Behinderungen.
Unilever ordnete den Schutz der Menschenrechte dem Marktzugang unter: Frauen wurden nicht primär als Rechtssubjekte gestärkt, sondern als Vertriebskanäle genutzt. Und die schwerwiegenden Folgen für die Arbeiterinnen der Thermometerfabrik zeigen, wie selektiv das Bekenntnis zu Menschenrechten bleibt und wie wenig Sorgearbeit und weibliche Körper in unternehmerischen Risikoanalysen zählen.
Trotz der Schwächen der UN-Leitprinzipien markieren ihre nationalen Umsetzungen wie die Schweizer Konzernverantwortungsinitiative einen wichtigen Fortschritt. Zwar bleibt der Managementansatz der UN-Leitprinzipien auch in nationalen Konzernverantwortungsgesetzen erhalten, doch sie zwingen Unternehmen, Probleme zu beheben und Wiedergutmachung zu leisten, oder sie riskieren Geldbussen oder Gerichtsverfahren. National verankerte Konzernverantwortung ist derzeit daher das wirksamste Instrument für Betroffene, Gewerkschaften und NGOs, um sich gegen Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung zu wehren.
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