Mehr Ersatz­teile für das Leben

Am 15. Mai findet die Abstim­mung zur Ände­rung des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­setzes statt. Viele spre­chen dabei von einer Gewis­sens­frage. Doch geht es auch um das grund­le­gende Verständnis vom Verhältnis zwischen Mensch und Natur. 
Wie im Büro, so nach dem Tod: Der menschliche Körper kann als Werkzeug dienen, um bestehendes Leben zu erhalten und verbessern. (Foto: Unsplash / v2osk)

Die Über­win­dung der Natur bestimmt unser alltäg­li­ches Leben. Fahr­rad­fahren, das ist die Über­win­dung der körper­li­chen und natür­li­chen Unfä­hig­keit, weite Distanzen in kurzer Zeit zurück­zu­legen. Schwimmen, das ist der Kampf gegen die Gravi­ta­tion, die uns im Wasser nach unten zieht. In einem Baum­haus zu leben – selbst wenn es im Sinne der Einswer­dung mit dem Wald geschieht – bedeutet, sich unter einem schüt­zenden Dach der Unvor­her­seh­bar­keit natür­li­cher Willkür zu widersetzen.

Auch der Kampf gegen den Klima­wandel ist eine Form der Natur­über­win­dung. Wir reali­sieren den immensen Einfluss, den die Natur auf unsere Lebens­ge­stal­tung hat, und begreifen, dass wir uns vor dem Einfluss der natür­li­chen Prozesse – ange­facht durch mensch­li­ches Eingreifen – schützen müssen. Wir müssen das Verhältnis zur Natur neu orga­ni­sieren, uns weder unter sie noch über sie, sondern neben sie stellen und so die Abhän­gig­keit zu ihr brechen.

In jeder mora­li­schen Hand­lung und jedem recht­lich verbrieften Gesetz für ein ethisch korrektes Zusam­men­leben verbirgt sich die Forde­rung, Bezie­hungen unter Menschen nicht der Gewalt und der Hier­ar­chie­ord­nung der Natur zu über­lassen. Die Vorstel­lung von Moral selbst ist an sich schon eine Antwort auf die Abwe­sen­heit von Moral in der Natur.

Ja oder Nein zur Widerspruchslösung

Gesell­schaft, Kultur und Wissen­schaft haben den Anspruch, es anders und besser als die Natur zu machen, nicht in Einklang damit zu leben, was natür­liche Prozesse für die Menschen vorsehen – wie beispiels­weise ein früher Tod.

Noch vor der „Entzau­be­rung der Welt“ und der damit gemeinten Ratio­na­li­sie­rung im Sinne der Aufklä­rung im 18. Jahr­hun­dert lag die Lebens­er­war­tung global bei 29 Jahren. Heute liegt sie zwischen 70 und 75 Jahren. Was im Kampf gegen den frühen Tod half und heute noch immer hilft, sind beispiels­weise Tabletten, Impfungen, eine gute Wasser­ver­sor­gung, eine gerechte Lebens­mit­tel­ver­tei­lung, sicherer und schüt­zender Wohn­raum, Darm­spie­ge­lungen. Oder Organtransplantationen.

Wenn die Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung am 15. Mai über das Refe­rendum gegen die Ände­rung des Trans­plan­ta­ti­ons­ge­setzes befindet, wird vor allem darüber entschieden, ob die Wider­spruchs­lö­sung einge­führt wird oder nicht. Diese würde bestimmen, dass Menschen, die nach ihrem Tod keine Organe spenden möchten, neuer­dings fest­halten müssen, dass sie dies nicht wollen. Passiert das nicht, wird davon ausge­gangen, dass sie dazu bereit wären.

Damit würde die bis anhin geltende Hand­ha­bung abge­löst werden, die vorschreibt, dass Organe nur dann gespendet werden, wenn dafür eine Zustim­mung vorliegt. Die Vorlage ist ein indi­rekter Gegen­vor­schlag zur Volks­in­itia­tive „Organ­spende fördern – Leben retten“. Im Unter­schied zur Initia­tive regelt das geän­derte Trans­plan­ta­ti­ons­ge­setz, dass die Ange­hö­rigen einer betrof­fenen Person nach deren Tod sich immer noch gegen die Entnahme der Organe ausspre­chen können, wenn sie davon ausgehen, dass dies nicht dem Willen der verstor­benen Person entspro­chen hätte.

Mit der Vorlage soll den momen­tanen Engpässen entge­gen­ge­wirkt werden. Denn obwohl in der Schweiz Umfragen zufolge die Bereit­schaft zur Spende mit 80 Prozent hoch ist, bleiben die realen Zahlen an Spender*innen mit 16 Prozent ziem­lich tief. Folge davon: Ende 2021 warteten ca. 1’400 Menschen in der Schweiz auf ein entspre­chendes Organ.

Organe vs. Religion

Bei der Debatte um die Ände­rung des Gesetzes geht es nicht nur um unter­schied­liche Auffas­sungen über staat­liche Eingriffs­be­fug­nisse, sondern auch um reli­giöse Fragen über den Stel­len­wert des Körpers nach dem Tod. Kritiker*innen der Vorlage insi­stieren auf das Recht der Einzelnen, mit dem ganzen Körper in den Tod über­treten zu dürfen.

Ethik-Professor und Mitglied des Refe­ren­dums­ko­mi­tees Peter Kirch­schläger warnte in der SRF-Arena zur Vorlage vor einem „funda­men­talen Para­dig­men­wechsel“, der mit der Wider­spruchs­lö­sung eintreten würde. Sie verletze das Grund­recht auf Selbst­be­stim­mung und körper­liche Unver­sehrt­heit. Der Staat greife „wie bei einem Ersatz­teil­lager einfach zu“.

Darüber hinaus geht es bei der Vorlage aber auch um das eingangs geschil­derte Verständnis vom Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Davon ausge­hend, dass das mensch­liche Projekt, so wie es seit der Aufklä­rung verstanden wird, immer ein Kampf gegen die menschen­feind­li­chen Regeln ist, die in der Natur gelten, sollte alles unter­nommen werden, um mensch­li­ches Leben so lange und so gut wie möglich zu gestalten. Dafür helfen einer­seits lebens­ver­län­gernde Zusatz­stoffe wie Tabletten und Impfungen. Ande­rer­seits Trans­plan­ta­tionen von Bestand­teilen eines Körpers, die als „Ersatz­teile“ das Leben eines anderen Körpers verlängern.

Die Idea­li­sie­rung des mensch­li­chen Körpers als abge­schlos­senes System – die einige (natur-)religiöse Akteur*innen betreiben – zielt an der Realität von Gesell­schaft vorbei. Den Körper als einen der Natur ausge­setzten Orga­nismus zu betrachten, der sich abschlies­send selbst bestimmt, heisst in der Konse­quenz, ihn der Willkür auszuliefern.

Die Vorstel­lung einer huma­ni­sti­schen Gesell­schaft, in der der Mensch im Zentrum steht, zielt auf die Über­win­dung vom Über­le­bens­kampf der Einzelnen und die Instand­set­zung von Koope­ra­tionen – das Verbündet-Sein zwischen Indi­vi­duen. Der Eingriff in einen soeben totge­wor­denen Körper zur Nutz­bar­ma­chung seiner Organe oder eben seiner „Ersatz­teile“ hilft Menschen, die drin­gend auf ein lebens­er­hal­tendes Organ ange­wiesen sind. Das ist eine Form des Verbündet-Seins der Menschen in ihrem Kampf zur Über­win­dung der Natur – und für das gute Leben.


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